MEIN
STANDARDPROGRAMM
zu Beginn der Lösungsphase
Betrachtet man das Reiten als „Zwiegespräch zweier Körper und zweier Seelen, das dahin zielt, den vollkommenen Einklang zwischen ihnen herzustellen“ (Waldemar Seunig), dann versteht es sich von selbst, dass es zu Anfang jeder Reiteinheit Zeit braucht, in der Pferd und Reiter sich aufeinander einstellen. In den folgenden Kapiteln beschreibe ich Ihnen mein Aufwärmprogramm und einen Weg zum zwanglosen Beginn.
Aufwärmen
Pferde zählen zum sogenannten Fernwanderwild und sind bekanntlich nicht zum Herumstehen, sondern zum Wandern konstruiert. Wird ein Pferd zum Reiten aus einer Box oder einem Paddock ohne besondere Bewegungsanreize geholt, wo es beispielsweise hauptsächlich vor der Heuraufe herumstand, so ist das konsequente, kontrollierte Schrittgehen vor der Arbeit unerlässlich.
20 Minuten kontinuierliche Schrittbewegung sind nötig, um die Gelenkschmiere in den Gelenken der Extremitäten des Pferdes optimal zu verteilen, sodass diese ihre stoßdämpfende Wirkung erfüllen können. Ganze 40 Minuten kontinuierliche, flotte Schrittbewegung sind notwendig, um das Pferd im Ganzen (bis in die Strukturen seines Rückens hinein) zu durchbluten. Das liegt daran, dass das Pferd ein verhältnismäßig kleines Herz hat und für die gänzliche Blutzirkulation zusätzlich den Mechanismus der Hufpumpe benötigt. Dieser funktioniert über einen Kapillareffekt, der nur bei rhythmischer, kontinuierlicher Bewegung „anspringt“. In aller Deutlichkeit: Die Haltung im Offenstall ist mit Sicherheit gesünder und macht ein Pferd in der Regel glücklicher als die Boxenhaltung, aber das Schrittgehen vor der Arbeit ersetzt sie nicht! Einzig bei Weidehaltung auf großen Flächen in großen Herden kann eine naturnahe Wanderbewegung (etwa zur Wasserstelle) beobachtet werden. Was passiert, wenn das aufwärmende Schrittgehen vor der Arbeit ausfällt? Wenn der Reiter sich direkt in den Sattel des kalten Pferdes schwingt, die Zügel kurz fasst und sofort, womöglich noch in überhöhtem Tempo, lostrabt? Es ist nicht nur so, dass es zu unmittelbaren Verletzungen am Bewegungsapparat kommen kann. Die „unsichtbaren“ Begleiterscheinungen sind die, dass das nicht aufgewärmte Pferd nicht losgelassen gehen kann, egal, wie technisch gut der Reiter reiten mag. Wenn die Muskulatur (noch) nicht durchblutet und dadurch mit Sauerstoff versorgt ist, wird statt des gewünschten aeroben Muskelstoffwechsels eine anaerobe Muskeltätigkeit stattfinden. Bleibt diese über einen längeren Zeitraum bestehen, wird es zwangsläufig zu Übersäuerung kommen. Das ist beispielsweise während einer falsch verstandenen „Lösungsphase“ der Fall, bei der das Pferd eine halbe Stunde lang pausenlos auf eckigen Zirkeln herumgescheucht wird, während der Reiter versucht, es irgendwie „durchs Genick zu stellen“. Der Rücken wird dann fest statt locker. Wenn sich ein so gearbeitetes Pferd am nächsten Tag ungern am Rücken berühren und satteln lässt, muss das gar nicht am unpassenden Sattel liegen, sondern vielleicht ist der Grund einfach der Muskelkater von gestern!
Zum Aufwärmen ideal ist ein Spaziergang im Gelände.
Was ist also stattdessen zu tun? Ich rate jedem Reiter, sein Pferd unmittelbar vor der Arbeitseinheit eine Runde um die Reitanlage zu führen. Das hat viele Vorteile: Das Pferd kann sich ungezwungen am durchhängenden Zügel oder Führseil bewegen, kann seinen Hals drehen und strecken und dabei die Landschaft beobachten. Gehen Sie in flottem Schritt, gern auch leicht bergauf und bergab. Nach einigen Minuten schnauben die Pferde in der Regel bereits ab, äppeln eventuell auch und machen mit der Zeit immer raumgreifendere, geschmeidigere Schritte. Das „Bodenpersonal“ kommt im zügigen Schritt gleich mit in Schwung.
Der vorher nur locker gegurtete Sattel kann im Lauf des Spaziergangs Loch für Loch weiter angegurtet werden. Dieses schrittweise Nachgurten ist für das Pferd wesentlich angenehmer, als wenn nach wenigen Metern der Gurt voll angezogen wird – was leider üblich und eben notwendig ist, wenn man sofort aufsitzen möchte.
Ideal ist ein etwa halbstündiger Spaziergang. Planen Sie diese Zeit regelmäßig, so oft es in Ihrem Alltag irgend möglich ist, mit ein! Wenn Sie einen Reitstundentermin vereinbart haben, spazieren Sie eine halbe Stunde vorher los. Das Warmführen in die Halle zu verlegen, halte ich für unrealistisch: Man ist den bereits Reitenden meist im Weg, muss deshalb enge Wendungen machen, um auszuweichen, und schafft es kaum, die erforderliche Zeit herumzubringen. Im Gelände dagegen ist man mit sich und seinem Pferd allein und beide können die Gegenwart des jeweils anderen sowie die Natur genießen.
Viele professionelle Reiter nutzen für das Aufwärmen eine Führmaschine, um (Arbeits-) Zeit zu sparen. Zugunsten der Beziehung zwischen Reiter und Pferd ist das persönliche Schrittführen jedoch vorzuziehen. Ein Pferd gar nicht aufzuwärmen, ist im Sinn des gesund erhaltenden Reitens und auf der Suche nach der Losgelassenheit hingegen keine Option! Ein kaltes Pferd kann seinen Reiter nicht „über den Rücken gehend“ tragen -warum sollte man es also mit dem Reitergewicht belasten und sportliche Anforderungen stellen, zu denen es gar nicht in der Lage ist? Vielleicht ist das Warmführen des Pferdes in Ihrem Umfeld nicht üblich. Dann sind Sie eben der Erste, der damit anfängt! Da Sie an der Losgelassenheit Ihres Pferdes offensichtlich etwas verbessern möchten, müssen Sie das übliche Vorgehen ändern. Wenn Sie sich nicht zutrauen, allein mit dem Pferd an der Hand ins Gelände zu gehen, suchen Sie sich eine Begleitung und/oder arbeiten Sie parallel mit einem Trainer, der Bodenarbeit anbietet, um Ihre „Führungskompetenzen“ auszubauen. Gewöhnen Sie Ihr Pferd mit Ruhe und Sachverstand an alle möglichen Umweltreize. Damit bereiten Sie ebenfalls das Ausreiten im Gelände vor, welches das Training regelmäßig ergänzen sollte. Können oder mögen Sie nicht die ganze Aufwärmphase lang zu Fuß gehen, können Sie das Pferd alternativ auch am hingegebenen Zügel Schritt reiten.
Das Pferd schreitet zwanglos und ohne Zügelkontakt unter der passiv sitzenden Reiterin.
Zwangloses Schreiten am hingegebenen Zügel
Beim aufwärmenden Spaziergang vor dem Training ist das Pferd nun also hoffentlich schon zu zwanglosem Schreiten gekommen. Das bemerken Sie daran, dass die Schrittbewegung durch den ganzen Körper zu fließen scheint und der Hals und Kopf des Pferdes eine pendelnde Bewegung in Form einer Acht machen. Schwingen Sie sich nun (am besten per Aufstiegshilfe und mit Gegenhalten) in den Sattel und reiten Sie dann zunächst Schritt am hingegebenen Zügel. Dabei fassen Sie die Zügel an der Schnalle an, lassen sie also so lang wie nur möglich, und bauen noch überhaupt keinen Kontakt zum Pferdemaul auf. Das Pferd soll völlig frei gehen: so, wie es geht, wenn es nicht beeinflusst wird. Im Idealfall gleicht diese Schrittbewegung der Schrittbewegung auf der Weide, wenn das Pferd beispielsweise entspannt zur Tränke marschiert, und dem gelassenen Schreiten, das sich während des vorangehenden Warmführens eingestellt hat. Der Reiter sitzt zwar mit einer mittleren Grundspannung – also nicht „wie ein nasser Sack“, sondern mit angehobenem Brustbein –, aber ansonsten so passiv wie möglich im Sattel. Lassen Sie Ihre Mittelpositur durch das Pferd bewegen, machen Sie selbst keine aktive und auch keinesfalls eine „schiebende“ Eigenbewegung, sondern lassen Sie sich zunächst einfach tragen. Ihre Einwirkung beschränkt sich nötigenfalls auf kurze Impulse, vorrangig mit dem Schenkel. Schreitet das Pferd unter Ihnen gelassen durch die Bahn, haben Sie die Voraussetzung der Losgelassenheit, nämlich die Zwanglosigkeit, im Schritt schon mal erreicht. Reiten Sie nun große Wendungen allein aus Ihrem Sitz heraus. Gelingt es Ihnen, das Pferd in großen Kurven durch die Bahn zu bewegen, ohne die Zügel nutzen zu müssen? Reagiert das Pferd auf die Oberkörperdrehung und die unaufgeregten Schenkelimpulse? Wenn ja, ist alles in Ordnung. Aber was ist zu tun, wenn sich dieses zwanglose Schreiten nicht einstellt? Wenn Sie beispielsweise aus Erfahrung wissen, dass Sie die Zügel zu Beginn nicht so lang lassen können – weil das Pferd sonst anzackelt und sofort lostrabt? Oder wenn das Pferd ohne Zügel nicht mehr lenkbar ist oder einfach stehen bleibt beziehungsweise auf der Mittellinie „aufmarschiert“?
Definition „langer Zügel“ und „hingegebener Zügel“
Hingegebener Zügel bedeutet: Die Zügel hängen komplett durch und werden hinten an der Schnalle angefasst, das Pferd geht in völlig freier Haltung.
Die Anlehnung wird aufgegeben, es besteht kein Zügelkontakt mehr, das Pferd wird nicht mehr mit den Zügeln eingerahmt. Es kann (muss nicht!) sich bis ganz in die Tiefe...