KAPITEL 1
Vor der Fernsehkamera
»Was sind Pferde, wie von Zauberhand bewegt?«
Auf dem Weg ins Fernsehstudio kam ich mir vor wie ein Straßenmusiker, der von Freunden zu einer Castingshow angemeldet wurde und dort in neunzig Sekunden zeigen soll, was er sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte erarbeitet hat. Wir waren nur zu zweit im Auto und trotzdem fühlte es sich für mich so an, als würde noch jemand, oder besser gesagt noch etwas, auf der Rückbank sitzen: Diese bleischwere Mischung aus Müdigkeit, Angst und Übelkeit, mit der ich von Kindesbeinen an so unangenehm vertraut bin.
Es war nicht einfach Lampenfieber vor meinem ersten Live-Interview, was da lauerte. Es war dieser übermächtige Wunsch, mich aus purer Versagensangst unsichtbar zu machen, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und mit mir und meinem Elend allein zu sein. Nur wer nichts macht, macht nichts verkehrt und kann sich nicht blamieren. Ich habe mit diesem Gefühl schon so unendlich oft gekämpft, habe versucht, es zu ignorieren, abzuschütteln, auszutricksen, es wie einen schlecht sitzenden Pullover in einen geistigen Altkleidercontainer zu stopfen … Aber die Angst vor einer Blamage hing an mir wie eine Klette. Egal, ob ich in der Schule ein Gedicht aufsagen, auf Turnieren ins Dressurviereck einreiten oder einen neuen Gast in unserer Pension begrüßen sollte.
Sie hing an mir wie eine Klette? Habe ich eben wirklich »hing« gedacht? Nicht »hängt«? Sollte ich dieses Gefühl genau jetzt plötzlich in die Vergangenheit verbannt, mich mit sechsundsiebzig Jahren von ihm befreit haben?
In den vergangenen Jahren, vielleicht ungefähr seit ich Anfang siebzig bin, hatte die Angst ganz langsam immer mal wieder Konkurrenz von anderen, von so viel besseren Gefühlen bekommen. Und genau im richtigen Moment, auf dem Weg ins Studio nahmen sie so viel Raum ein, dass es für meinen lebenslangen Begleiter richtig eng wurde: Meine Neugier und meine Vorfreude darauf, im Fernsehen über mein Lieblingsthema, über Pferde, wie von Zauberhand bewegt, sprechen zu dürfen, war in den Wochen zwischen der Einladung und dem Auftrittstermin immer weiter gewachsen.
Vor der Abfahrt hatte ich gesehen, wie mein jüngerer Sohn mit Gästen im Esszimmer unserer Pension einen Fernseher anschloss und Stühle davor aufstellte. Als ich im perfekt gebügelten hellblauen Hemd, die Wegbeschreibung zum Studio in Händen, von unserer Wohnung zum Auto ging, machte jeder, der mich unterwegs traf, das »Daumen hoch«-Zeichen, deutete an, mir drei Mal über die Schulter zu spucken oder rief mir Sätze wie »Und wenn du dich verhaspelst, stell dir einfach vor, dass wir alle klatschen« zu.
Es war eine liebevoll gemachte, von sehr zugewandten Moderatoren geleitete, kleine Sendung im Nachmittagsprogramm des Senders N3. Ohne Studiopublikum und ohne das Risiko, weltweite Beachtung zu finden. Jeden Tag saß dort irgendein Otto Normalo wie ich auf der Couch. Alles halb so wild und von außen betrachtet sicher kein Grund, sämtliche Räder anzuhalten. Aber auf unserem Hof stand an diesem Tag zwischen sechzehn und siebzehn Uhr keine einzige Reitstunde auf dem Unterrichtsplan. Niemand hatte etwas bestellt. Und das nicht, wie früher, weil meine Ideen zum Umgang mit Pferden so schrecklich waren, dass man sich darüber bei der Reiterlichen Vereinigung, der FN, beschweren musste, sondern weil unsere Gäste lieber meinen Fernsehauftritt verfolgen, mir zumindest mental Beistand leisten wollten. Davon getragen stieg ich ins Auto und wann immer die bleischwere Angst unterwegs drohte, mich von der Rückbank aus zu umarmen – meine Neugier auf das, was ich erleben durfte, schaffte es, sie beiseite zu boxen. Sollte ich sie wirklich besiegt haben? Das ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen. Ich genoss den Fernsehauftritt in vollen Zügen, aber ich beschloss, mich lieber nicht darauf zu verlassen, dass die Angst jetzt Geschichte ist. Lieber noch nicht.
1954 bekam ich als Fünfzehnjähriger den ersten Reitunterricht. Vorher hatte ich mit meiner Mutter beratschlagt, wie viele Stunden ich wohl brauchen würde, bis ich reiten könnte. Wir tippten auf ungefähr zehn. Im selben Jahr eröffneten wir zwanzig Kilometer nördlich von Lübeck, in Klingberg bei Scharbeutz an der Ostsee, eine Pension. Wir vermieteten Fremdenzimmer – und nach einem Jahr auch Pferde. Obwohl wir von beidem so gut wie keine Ahnung hatten. Mit zwanzig Jahren begann ich, unseren Gästen Reitunterricht zu geben.
Ich sprach in der NDR-Talksendung »Mein Nachmittag« also über rund sechzig Jahre Arbeit mit Pferden und über fünfundfünfzig Jahre mit Menschen und Pferden. Im Vergleich zu den Musikern in Castingshows und ihren neunzig Sekunden hatte ich dabei großes Glück: Mein Auftritt dauerte zwanzig Minuten.
Mit drei Jahren bekam ich zu Weihnachten ein Schaukelpferd – und eine mich mein Leben lang begleitende Geschichte: Ich hätte vorsichtig versucht, ein Bein über das wippende Pferdchen zu schwingen, es dann aber wieder weggezogen und mich mit den Worten »lieber nicht« von meinem Geschenk abgewandt. Eine Episode, an die ich mich zwar nicht erinnere, die meine Mutter und meine ältere Schwester aber so oft zum Besten gegeben haben, dass ich überzeugt davon bin, dass sie so stattgefunden haben muss.
Außerdem zieht sich dieses »lieber nicht« wie ein roter Faden durch mein Leben: Schon auf dem Schulweg machte ich lieber kilometerweite Umwege, als an jemandem vorbeigehen und ihm Guten Tag sagen zu müssen. Und das nicht, weil ich nicht grüßen wollte, sondern weil es mir peinlich war. Als junger Mann bin ich öfter aus dem Fenster unserer Wohnung geklettert, um »lieber nicht« durch die Diele gehen und dort Gäste mit meiner Anwesenheit belästigen zu müssen. Ich war mir sicher, sowieso nichts sagen zu können, was sie auch nur ansatzweise interessiert hätte. Aus lauter Sorge, ich könnte mich blamieren, machte ich meine ersten Springversuche »lieber nicht« im Gruppenunterricht des Timmendorfer Reitvereins, sondern in einem sehr schmerzhaften Alleingang und so weiter und so weiter. Lieber nicht, lieber nicht, lieber nicht …
Zum ersten Mal auf einem echten Pferd saß ich mit vier Jahren. Auf dem Kaltblüter Bobby, der den Leiterwagen einer Gärtnerei über die Sandwege unseres Dorfes zog. Ich weiß noch, dass ich zwar zwischen Geschirr und Fahrleinen eingeklemmt, aber irgendwie recht stolz da oben thronte. Bis ein Nachbar mir sehr ätzend, sehr ironisch, sehr abfällig mitteilte, wie krumm und schief ich auf dem »Gaul« gehockt hätte. Muss man das einem Vierjährigen sagen? Muss man so etwas überhaupt zu irgendjemand sagen? Meine Reitstunden sind voll mit Menschen, die aus solchen Erfahrungen gelernt haben, ihrem Selbstwertgefühl eigenhändig Ohrfeigen zu verpassen: »Ich lerne das nie!« oder »Dazu bin ich zu blöd!« sind die Redewendungen, die ich so oder so ähnlich immer wieder höre. Meistens gefolgt von einer Entschuldigung des eigenen Unvermögens. Und auch ich habe mir sicher nicht umsonst genau diesen Kommentar des Nachbarn zu Herzen genommen. Obwohl er vermutlich in den Jahren unseres Tür-an-Tür-Wohnens auch mal nette Sachen zu mir gesagt haben wird.
Zwei Verlobungen
Ich verdanke den Pferden viel Gutes. Das Beste aber ist, dass sie am 18. November 1967 Kari zu mir führten. Sie kam mit ihren Schwestern und einigen Freunden aus Hamburg für ein Reiterwochenende in unsere Pension. Eigentlich waren wir in der Winterpause und ich hatte am Telefon noch versucht, den ganzen Trupp abzuwimmeln: Meine Mutter besuchte meine Schwester im fernen Köln, konnte sich also weder um Unterbringung noch Verpflegung der Gäste kümmern und wir hatten damals gerade angefangen, unser Haus umzubauen: Die Terrasse wurde überdacht, das ganze Erdgeschoss war eine einzige Baustelle, sämtliche Heizkörper abmontiert, der Flur mit gestapelten Tischen und Stühlen vollgestellt …
Aber die ungefähr zehn jungen Leute ließen sich nicht abschrecken und als sie Freitagabend auf unseren Hof fuhren, begann ein Wochenende voller Herzklopfen: Gemeinsam holten wir zwei alte Petroleumöfen aus dem Keller, bauten dort, wo heute das Esszimmer für unsere Gäste ist, einen Tapeziertisch auf und zündeten ein paar Kerzen an, die den Bauschutt und die mit Plastikplane abgedeckten Schränke um uns herum in ein warmes, weiches Licht tauchten. Die Frau unseres damaligen Stallmeisters zauberte aus den Resten, die unsere Küche hergab, ein Abendessen und am nächsten Morgen, beim Start zu einem langen Ausritt, fühlte es sich so an, als würden wir alle uns schon seit Ewigkeiten kennen.
Als wir abends wieder im Kerzenschein an unserer improvisierten Tafel saßen, verkündete einer der Freunde von Karis Schwestern, dass sie sich noch ein bisschen mehr zu Hause fühlen würden, wenn eines der Mädchen den Hausherren, also mich, heiraten würde. Wir wissen beide nicht mehr genau, wie es zustande kam, aber Kari wurde für diese Aufgabe ausgeguckt und wir inszenierten zum Spaß eine Verlobungsfeier: Einer der Freunde hielt eine Rede, wir köpften einige Flaschen Sekt … und am Wochenende danach kam Kari allein zu Besuch. Ein Jahr später haben wir uns quasi zum zweiten Mal verlobt und im Frühjahr 1969 geheiratet. Seitdem führen wir unsere Reiterpension gemeinsam.
Als ich Ende der 1970er-Jahre anfing, meinen Umgang mit Pferden, mein Reiten und danach auch meinen Umgang mit Menschen zu überdenken, war ich davon so elektrisiert, dass ich glaubte, jeder meiner Schüler müsste meine Faszination verstehen, mehr noch, er müsste sie begeistert...