KAPITEL 2
Mozart
Im nächsten Monat absolvierte ich das Abschlussvorspiel für Klasse drei im Haus von Mrs. Sivan. Die Prüferin, Miss Stokes, unterrichtete eigentlich am Konservatorium. »Sehr gute Prüfer, wirklich«, erklärte mir Mrs. Sivan. »Gewissenhaft, respektvoll und anständig.«
Miss Stokes war groß und ernst und vornehm, und sie saß mit der kerzengeraden Haltung einer Ballerina hinter einem Bridge-Tischchen.
Während ich mein Prüfungsprogramm spielte, war ich mir meiner weiteren, unsichtbaren Zuhörerschaft hinter der Küchentür bewusst: Mrs. Sivan, die schweigend vom Küchentisch aus dirigierte. Debra, die mich in Musiktheorie und Gehörbildung unterrichtet hatte. Und dann noch mein Vater, der nervös an seinem Hals herumzupfte.
»Das sind ja recht viele Zusatzstücke hier auf deiner Liste«, stellte Miss Stokes fest, nachdem ich das Pflichtprogramm absolviert hatte. »Kannst du die wirklich alle spielen?«
»Wenn Sie das möchten?« Ich begann eine Mozart-Sonate, das erste meiner neun Zusatzstücke.
»Danke, mein Kind«, sagte sie, als ich den Schluss des ersten Satzes erreicht hatte. »Das genügt.«
Ein paar Tage später, kurz vor dem Abendessen, nahm mein Vater das Telefon in der Küche ab. Er jauchzte auf und richtete den Daumen nach oben: »A-plus.«
Ich war wie vom Blitz getroffen. Meine Eltern hatten mich gewarnt, dass noch nie jemand ein A-plus bekommen hatte, dass ein A-plus der Stoff von Legenden sei, und hier war ich und hatte eines bekommen. Er gab mir den Telefonhörer.
»Diese Prüferin sehr begeistert«, sagte Mrs. Sivan am anderen Ende der Leitung. »Wirklich, sie niemals gibt A-plus! Prächtige technische Entwicklung. Was ist diese Wort, prächtig?«
»Es bedeutet sehr gut.«
Ich gab meinem Vater den Hörer zurück und ließ den Blick durch die Küche schweifen, um mich wieder in der Normalität einzufinden. Das Nudelwasser sprudelte auf dem Herd, wo wir es zurückgelassen hatten. Die schwarzen und weißen Kacheln erstreckten sich nach rechts und nach links – bis in die Unendlichkeit, wie es schien. Mrs. Sivans glückliche, aufgeregte Stimme klang durchs Telefon so klein wie ein Insekt, aber dennoch enthielt sie all ihre Präsenz, all ihr Gewicht, und dann kam Mutter mit dem Auto in die Einfahrt gefahren, und ich rannte zur Tür, um ihr die Neuigkeiten zu berichten und auf die Art mein A-plus noch einmal erleben zu können.
»Sehr gute Neuigkeiten, wirklich«, sagte Mrs. Sivan in der nächsten Stunde. »Miss Stokes so war glücklich und begeistert von deine Spiel. Hat gesagt, dass nie hat gehört Sonatenform so gut, so kraftvoll, so logisch verbunden. Sie möchte, dass du gehst zu Konservatorium und spielst Programm für alle anderen Prüfer.«
Das Konservatorium! Allein das Wort schien die ganze Masse dieses imposanten Gebäudes zu enthalten.
Mein Vater setzte sich auf. »Phantastisch!«
»Natürlich! Du freust dich an Musik, und sofort du willst teilen! Echte Musik immer kommt von und geht zu, und treibende Kraft von Musik immer Liebe. Und ist gut für diese Leute, zu kennen deine Name. Genau wie bei – wie sagt man?« Sie sah im Zimmer herum und entdeckte schließlich eine Schachtel mit Kleenex-Tüchern. »Wie Kleenex.«
Mein Vater lachte. »Wie ein Markenname.«
»Genau.«
»Und ganze Erlebnis gut für üben Konzert. Psychologie von Bühne sehr präzise und sehr wichtig. Bei deine ganze kritische Verstand, bei ganze gnadenlose Forderung an dich selbst in jede Detail, musst du sein selbstbewusst auf Bühne. Glücklich! Nicht wie Mensch, der geht herum mit Nase in die Luft, weiß alles zwischen zwei Konzerte. Snob.« Sie sprach das Wort mit besonderer Verachtung aus, wobei sie einen Finger an die Nase legte und dann nach oben richtete. »Aber später auf Bühne Gegenteil. Wie Baby. Hilflos. Immer machst du mehr, als du sagst. Das ist wahre Stärke.«
Sie nahm ein weißes Heftchen vom Klavier und zeigte es meinem Vater. Ich verdrehte den Hals, um ebenfalls lesen zu können, was darauf stand: Die Adelaide Eisteddfod Gesellschaft – Gesamtprogramm mit Anmeldeformular und Regelwerk. Mein Herz schlug schneller. Ich war aus meinem Ehrgeiz bezüglich der Young Talents Time herausgewachsen, aber eine Art Urform trug ich offenbar immer noch in mir.
»Ist das Eisteddfod-Festival nicht ein paar Nummern zu groß für Anna?«, fragte mein Vater.
»Nicht wenn macht mit richtige Intention. Wir gehen nicht zu Wettbewerb, um zu gewinnen: Musik ist nicht Sport. Ziel ist genaue Gegenteil. Ist Möglichkeit, zu teilen deine Musik. Zu geben deine Vision, zu bringen deine Begeisterung von ihr. Wir machen Wettbewerbe nur nebenher. Wirklich, ich hasse Wettbewerbe generell betrachtet, aber wenn du kannst nutzen sie für dich selbst, dann okay. Kann sein nützliche Training für Konzerte.«
Mein Vater blätterte mit wachsendem Interesse die Broschüre des Festivals durch. »Hier könnte sie doch teilnehmen: Zehn Jahre und jünger, Stück eigener Wahl –, und da ist noch etwas: Australische Komposition. Und nach dem, was Sie über die Sonate gesagt haben, könnte sie doch sicher auch diesen Mozart-Preis anpeilen?«
»Natürlich. Aber wir müssen tiefer gehen und spielen viel reifer, denn Erwartung kommt bereits. Bitte, nimmst du Mozart und wir werden arbeiten.«
Ich holte die Mozart-Sonate aus meiner Tasche, obwohl ich nicht recht verstand, warum wir noch weiter daran arbeiten sollten, schließlich hatte ich ja schon ein A-plus dafür bekommen.
»Wer ist Mozart?«, fragte sie.
»Ein sehr guter Komponist«, bot ich an.
»Absolut geniale Komponist, natürlich. Aber noch mehr: Er war selbst Musik. Und wir haben nur eine einzige Mozart. So wie ich sehe, war Antlitz Gottes. Natürlich, das macht Leuten schwer zu akzeptieren. Wenn du entdeckst Mensch, der hart arbeitet, ist gut, kannst du sofort erklären, macht es leicht. Aber diese war jenseits. Was Menschen nicht haben verstanden: war nicht leicht – war vollkommen. Ganze Arbeit hat gemacht vorher, dann nur noch Ergebnis.«
Womöglich befand ich mich jetzt in der gleichen Position: Nach der Arbeit des letzten Jahres konnte ich mich zurücklehnen und das Erreichte genießen. Aber bereits beim ersten Takt unterbrach sie mich.
»Das nicht. Pedal komplett falsch. Was hat Mozart erfunden? Diese ölige Legato. Sein Anschlag ist selbst Pedal. Kannst du Pedal trotzdem verwenden – ja – aber nicht wie Verbindung, nur wie leitende Unterstützung. Und denkst du immer, gesangliches Hören.«
Sie spielte den Anfang des Satzes in den höchsten Lagen des Klaviers. Selbst in diesem klimpernden Register war der Klang der eines Koloratursoprans, eines unmöglichen, übermenschlichen Stimmumfangs.
»Diese Musik so positiv! So großzügig! Denkst du immer, Mozart war geboren glücklich mit allem. Zuerst, war glückliche Kind, weil seine Musik ihm gibt alles. Und sein Vater war bei ihm mit ganz viel Liebe und Unterstützung und Geben. Leute sagen, sein Vater war furchtbare Despot, aber ist wirklich enorme Glück, zu haben so unterstützende Vater.«
Mein eigener Vater kritzelte das eifrig in sein Notizbuch.
»Bisschen kann verstehen – auch für mich Klavier war alles –, nur warum Mozart wurde beraubt, ich verstehe nicht. Mozart war kleine bisschen verdorben, ja. Aber war verdorben von Gott. Was für ihn sieht ganz natürlich aus, dafür andere Leute müssen arbeiten, und eine einzige Leben nicht genug. Zu gleiche Zeit Mozart immer ist geblieben Kind. Weise Kind.«
Wir machten uns wieder an die Sonate, und je mehr sie ein Hören, einen gesanglicheren Anschlag, mehr Schlichtheit verlangte, desto unbekannter wurde die Sonate, und die Perfektion entzog sich meinem Griff.
»Ist endlose Aufgabe, endlose«, fasste sie zusammen, als mein Vater und ich gingen. »Mit zweitklassige Komponist wir können manchmal erreichen, aber bei Mozart wir gehen tiefer und immer tiefer und nie sind am Ende. Ist Aufgabe für ganze Leben, unbegrenzt, aber unglaublich lohnend.«
Ein paar Monate später erreichte ich an einem kalten Sonntagnachmittag das Gemeindehaus der Maylands-Kirche, das ein Austragungsort des Adelaide-Eisteddfod-Wettbewerbs war. In meinem besten roten Rock und einem dazu passenden Pullover tat ich so, als sei ich eher nebenher da, aber in Wahrheit war ich natürlich gekommen, um meine Zukunft einzufordern....