Inspiration
Alle trägen Sommertagträume, die durch die Werke von Martha Gellhorn, Gavin Young, Paul Theroux, Bruce Chatwin, Pico Iyer und anderen genährt wurden, hatten sich über die Jahre hinweg zu dem immer stärker auf mir lastenden Druck aufgehäuft, die Bücher zusammen mit allen nichtigen Problemen meines Lebens wegzuwerfen und einfach nur aufzubrechen.
Doch wohin? Ich besaß weder die Geldmittel noch den nötigen Pass, um durch Afrikas Wildnis oder die endlosen Weiten Asiens zu streifen. Und um ehrlich zu sein: Wahrscheinlich wäre ich ohnehin schon bei meinem ersten Aufenthalt auf einem internationalen Flughafen auf dem Weg zum Klo verloren gegangen und zwei Wochen lang nicht wieder aufgetaucht, denn ich gehöre zu der Gattung Menschen, die eine ganze Weile über den Unterschied zwischen links und rechts nachdenken müssen. Die Beantragung eines Passes mag in manchen Staaten nur fünfzehn Minuten dauern, doch in meinem Land, das sich gerade erst aus drei Jahrzehnten selbst auferlegter Isolation löst, sind dazu zahlreiche Formulare auszufüllen, die nach den persönlichen Daten von Großeltern, Eltern früherer Ehemänner und eigenen Lebensdaten wie etwa dem Wo und Wann des ersten Kindergartenbesuchs fragen. Dazu sind alle möglichen anderen komplizierten Unterlagen einzureichen, wie etwa die Antragsformulare und Bewilligungsschreiben verschiedener Dienststellen, die auszufüllen meine bescheidenen Fähigkeiten bei Weitem übersteigt – ich bin eine pragmatische Frau, die sich ihrer Grenzen vollauf bewusst ist.
So entschloss ich mich zu einer Reise, die meine Landsleute bereits seit Jahrhunderten antreten: Zu einer Pilgerfahrt über die einheimische Touristenstrecke. Zumindest in der Nähe großer Städte war man längst nicht mehr in den geschlossenen Waggons aus früheren Zeiten unterwegs, obwohl diese noch immer das bevorzugte Transportmittel der Menschen vom Lande sind, wenn sie gemeinsam in großer Zahl zu Pagodenfesten reisen.
Pagodenfeste und religiöse Organisationen dienen als soziale Treffpunkte myanmarischer Frauen. Abgesehen von Veranstaltungen, in deren Mittelpunkt die Meditation steht, sind religiöse Zeremonien keinesfalls formelle und stille Anlässe. Zeremonien anlässlich spezieller Gedenk- oder Feiertage, die Vergabe von Nahrungsmitteln an die Mönche oder der Beitritt eines Familienangehörigen zum Orden werden lebhaft gefeiert und sind glückselige Zeiten für Frauen, da sie zu diesen Festen einkaufen gehen, kochen, alle möglichen Dinge arrangieren, Bekannte einladen und sich neu einkleiden.
Pilgerfahrten sind Urlaubsreisen, die Frauen gruppenweise mit Nachbarn, Freunden und Verwandten unternehmen. Nur selten reist eine Frau allein – selbst dann nicht, wenn sie in leitender Position mit einer wichtigen Geschäftsangelegenheit betraut ist. Dies darf in einer Kultur, in der ein »braves« Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein zum Laden an der Ecke geht, nicht überraschen. Die Menschen meines Landes sind überwiegend konservativ und bringen den traditionellen Werten unseres Volkes höchsten Respekt entgegen.
Seit mehreren Jahren bieten verschiedene Unternehmen Reisen an, bei denen Verpflegung, Unterkunft und Transporte im Preis inbegriffen sind. Sie fahren mit recht klapprig aussehenden Bussen, die zuvor jahrzehntelang in Japan oder Frankreich in Betrieb waren. Die verblichenen Schilder, die mit Wörtern der dortigen Sprachen beschrieben sind, bleiben uns recht unverständlich, doch mit Englisch können viele inzwischen ein wenig umgehen. Für eine gewisse Spannung sorgt die Tatsache, dass die Türen der Fahrzeuge in den fließenden Verkehr münden, da in jenen Ländern Rechtsverkehr und bei uns Linksverkehr herrscht, sodass man beim Aussteigen aus den großen Kästen Vorsicht walten lassen muss, um nicht wie eine Wanze zerquetscht zu werden.
Ich schickte mein Dienstmädchen los, um das Ticket für die 18-tägige Rundreise zu kaufen, die mich laut Zeitungsannonce in nicht weniger als 29 Städte, zu über 60 berühmten Pagoden, zu einigen außerordentlichen Sehenswürdigkeiten (Brodelnde Drachenhöhle, Schwankende Schirmpagode, Schlangenpagode), zu herausragenden Landschaftswundern (Inle-See, der See in den Bergen des Staates Shan; Gärten von Pyin Oo Lwin) und – was besonders aufregend war – in eine chinesische Stadt jenseits der Grenze im Norden führen würde. OHNE Pass. Und alles zusammen inklusive Mittagessen und Abendessen sowie äußerst einfachen Übernachtungen in Klöstern für nur 7000 Kyat, die zum realistischen Wechselkurs von Anfang 1996 ungefähr 60 amerikanische Dollars wert waren. Für dieses Geld brachte mir das Mädchen zwei Dokumente zurück: das Ticket und eine Liste mit Vorschriften. Auf dem Ticket stand eine Mitteilung:
»Verehrter Freund der noblen Welt des Großen Buddha. Aufgrund Deiner Verdienste im vergangenen Leben wurdest Du in diesem Abschnitt Seiner Existenz als Mensch wiedergeboren. Durch Seine Gnade und die Gelegenheit, bei dieser Reise in den berühmtesten Pagoden zu huldigen, wirst Du vielleicht alsbald aus der zum Leiden führenden Abfolge der Wiedergeburten erlöst werden und ins Nirwana einziehen können.«
In der von Sorgen umschatteten Hoffnung, dass jener Aufbruch ins Nirwana kein unabdingbarer Bestandteil des Reiseprogramms sein möge, lenkte ich meine Aufmerksamkeit von dem frommen Wortlaut ab und fand zu der Überzeugung, dass ich mit meinem Glauben allein wohl keine Moskitos würde abwehren können. Deshalb nahm ich eine große Tube Insektenschutzmittel ins Gepäck, und um sicherzustellen, dass mein Aufbruch in eine bessere Welt nicht erfolgte, bevor ich endgültig darauf vorbereitet war, packte ich außerdem Medikamente, Erste-Hilfe-Material und genügend Lomotil ein.
Unten auf dem Ticket stand die Anmerkung, dass Kinder unter sieben Jahren nur die Hälfte des Preises zahlen müssen, wenn sie auf dem Schoß eines Erwachsenen sitzen. Ich hatte bis dahin noch nie darüber nachgedacht, dass auch Kinder an einer Rundreise zu alten Pagoden teilnehmen könnten, doch nun rückte mir die uralte Gewohnheit meiner Landsleute ins Bewusstsein, Kinder überall hin mitzunehmen, außer zu Begräbnissen. Ich flehte inständig darum, nicht achtzehn Tage lang zusammen mit niedlichen kleinen Kindern im Bus sitzen zu müssen.
Das andere Dokument listete die heiligen Stätten und Sehenswürdigkeiten auf und stellte die Regeln vor, die ordentliche Pilger beachten müssen. Sie lauteten:
Da Automobile Maschinen sind (wie wahr), sind Pannen möglich (aha!); die Pilger werden gebeten, in solchen Fällen Geduld zu üben und sich nicht zu beschweren, sondern mit Fassung auf den Mechaniker zu warten, der den Schaden behebt. (Jeder Buddhist wird bestätigen, dass Geduld die nobelste aller Tugenden ist.)
Im Falle von Katastrophen wie Erdbeben, Erdrutschen oder Überschwemmungen wird eine alternative Route befahren, über die DAS MANAGEMENT entscheidet. (Ein Mitspracherecht war also ausgeschlossen.)
Der Pilger soll eigene Teller, Tassen und Löffel mit sich führen. Mittagessen und Abendessen werden von der Gesellschaft serviert.
Übernachtungen und Mahlzeiten in Gästehäusern hat der Pilger selbst zu bezahlen. Bei Aufenthalten in Klöstern oder Rasthäusern muss er nur eine kleine Spende für die Instandhaltung und Pflege der Einrichtungen hinterlassen.
Im Bus ist pro Person nur eine Tasche erlaubt; überzähliges Reisegepäck wird auf dem Dachgepäckträger untergebracht.
Es ist strikt untersagt, Schweinefleisch und Rindfleisch mit in den Bus zu nehmen; auch bei den im Reisepreis inbegriffenen Mahlzeiten werden diese Fleischsorten nicht angeboten.
Es ist den Pilgern strikt untersagt, über voraussichtliche Ankunftszeiten zu diskutieren.
Die beiden letzten Regeln basierten auf Aberglauben. Es heißt, dass manche Distrikte von Geistern namens Nat »regiert« werden, welche die genannten Fleischsorten nicht dulden. Reiseerzählungen aus Myanmar sind voll von Geschichten über schreckliche Unfälle, die Personen erlitten, welche diese Regeln nicht beachtet oder gar an heiligen Stätten gespottet hatten. In den Garküchen am Straßenrand darf man die verbotenen Speisen jedoch konsumieren, ohne mit gefährlichen Folgen rechnen zu müssen, aber mitnehmen darf man sie nicht. Einheimische Reisende führen immer Proviant mit sich, den sie zu Hause vorsorglich zubereitet haben, da sie nicht auf beste Verpflegung vonseiten der Garküchen und Reiseunternehmen vertrauen. Was die Mahlzeiten anbelangt, sind selbst die ärmsten Menschen selten nachlässig.
Da ich mich aus Bequemlichkeit und zu meiner vollsten Zufriedenheit oft tagelang nur von trockenem Brot, Möhren und rohen Eiern ernähre, war es mir vollkommen gleichgültig, dass sich das Busunternehmen um den Speiseplan kümmerte.
Hintergrund der letzten Regel war ein anderer Volksglaube: Wenn man laut über voraussichtliche Ankunftszeiten diskutiert, fordert man das Schicksal heraus, was Verspätungen bewirken kann. Zu den schlechten Vorzeichen gehören zum Beispiel Schlangen, die vor einem Fahrzeug über die Straße kriechen. Es verstößt gegen die Umgangsformen, eine Schlange als Schlange zu bezeichnen – man nennt sie Lange Kreaturen, denn ihr unbotmäßiges Erscheinen bewirkt, dass sich die Reise in die Länge zieht. In derselben...