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Den ersten intimen Kontakt zu Schallplatten hatte ich mit der Sammlung meiner Eltern. Sie bestand hauptsächlich aus deutschen Singles der 50er Jahre. Die Platten steckten nicht in normalen Hüllen, sondern waren sorgsam in spezielle Bücher einsortiert. Es waren nicht viele, insgesamt vielleicht hundert.
Sie hatten jahrelang in einer Schublade gelegen, bevor ich sie –damals war ich ungefähr acht Jahre alt – entdeckte. Auf dem Wohnzimmerfußboden neben der HiFi-Truhe hörte ich andächtig meine Lieblingslieder: »Wir bauen die Straße nach Kingston Town« und »Der Letzte Mohikaner«.
Meine ältere Schwester beobachtete ich dabei, wie sie vor dem Spiegel zu den Hits der Byrds, der Beatles und der Walker Brothers tanzte. Sie übte das Party Dancing der späten 60er: weiche, fließende Hippiebewegungen. Dann zogen wir an den Bodensee, und meine Schwester blieb in Mannheim. Zum Abschied schenkte sie mir ihre Tape-Sammlung.
Da ich kein Geld für Schallplatten hatte, begann ich, Musik auf Kassetten zu horten. Zunächst machte ich Mikrofonaufnahmen vom Fernseher: »Disco 74« und »Musikladen« waren die führenden Sendungen. Besonders die hysterischen Glamrock-Gruppen wie T. Rex oder Hello beeindruckten mich. Ich verliebte mich in Ramona, ein Mädchen aus der 6. Klasse, weil sie aussah wie der Sänger von The Sweet.
Dann wurde das Küchenradio zum wichtigsten Musiklieferanten. Meinen ersten eigenen Kassettenrekorder hatte ich daran angeschlossen und saugte nun alles auf. Ich führte gewissenhaft Buch über die Popshop-TopTen am Sonntag und frisierte die Charts in der Schülerzeitung nach meiner Fasson. Private Lieblingstracks von Queen (»Tie Your Mother Down«) und ELO (»Living Thing«), die kaum einer kannte, erreichten höchste Platzierungen. Mehrheitsträger wie Supertramp oder Barclay James Harvest kehrte ich geflissentlich unter den Teppich.
Popmusik wurde zu meiner ersten großen Liebe, zu meiner tröstenden Heiligen in der Öde der süddeutschen Provinz. Und nicht zuletzt war sie ein Terrain, das ich im Alleingang besetzen konnte. Nur in der Hamburger Musikzeitung Sounds und der gleichnamigen Schweizer Radiosendung auf DRS 3 fand ich ein paar ernsthafte Verbündete. Die Zeitung trug gerade öffentlich den Hegemonial-Kampf zwischen alternden Hippies und jungen Punks aus. Die Sendung machte diesen Konflikt dann musikalisch nachvollziehbar.
Bis zur Ankunft von Punk war Hippie das gängigste Modell eines dissidenten Jugendlichen. Erst recht, wenn der sich über Musik definierte. Man wuchs gemeinsam mit den Haaren in die Haltung hinein, während man ehrfürchtig den Weisheiten der älteren Langhaarigen aus der Oberstufe lauschte. Die bis dahin harmlose Schülerzeitung kriegte einen Riesenärger, als sie eine »Grußadresse« der »Roten Garden« abdruckte.
Bei einem »Umsonst & Draußen«-Festival am Bodenseestrand wurde legaler Pädophilen-Sex von der Nürnberger Indianerkommune propagiert, die Legalisierung von Cannabis durch Rollen eines meterlangen, kollektiven Joints gefordert und allgemein ein mittelalterliches Lagerleben gepflegt. Dazwischen hockte einsam ein früher Irokesenpunk und verkaufte Badges. Ich holte mir einen mit der Aufschrift »Support your local anarchist«, den meine Mutter wieder diskret verschwinden ließ.
Im Grunde war die kulturelle Blüte der Hippies schon längst verwelkt. Diese Information war aber bei den wilden schwäbischen Freaks Ende der 70er Jahre noch längst nicht angekommen. Nach meiner eigenen prägenden Hippie-Erfahrung beschloss ich mit 16 unwiderruflich, die langen Haare abzuschneiden und zum Punk zu konvertieren. Oder besser gesagt: zu so einer Art Punk.
Für die wirklich echten Punks mit Lederjacken, Sicherheitsnadeln, Irokesenschnitt, Bondagehose und Arschlappen waren ich und meine Freunde gymnasiale »Intellektuellen«-Punks oder New Waver mit Brillen, »Fehlfarben«-Badges, Secondhand-Sakkos, aber immerhin Bundeswehrhosen und Springerstiefeln.
In der Provinz aufzuwachsen bedeutete: Es gibt kein Entkommen, vor niemandem. Falls man kein total kaputter Typ war und sich in die absolute Isolation zurückzog, musste sich dort jeder Mensch ständig mit fast allen anderen auseinandersetzen. Der bevorzugte Austragungsort dafür war das lokale Jugendzentrum.
Dort trafen sich am Anfang der 80er Jahre: kampfbereite Mofagangs mit Kutten, sanfte Anti-Atomkraft-Hippies, italienische Discoboys mit ondulierten Locken, pubertäre Film-, Kunst- und Theater-Nerds aller Schattierungen. Dazu Typen, die sich für Shakin Stevens oder Sid Vicious hielten, mehrere Gitarristen mit Matten und Alvin-Lee-Komplex, unser kleiner, gemischter Punktrupp und so weiter. Wir gründeten diverse Bands und Fanzines, fuhren zu Anti-Rekrutenvereidigungs-Demos und Anti-Atomkraft-Kirchenbesetzungen, gingen zähneknirschend zur Schule und fanden zwischen alldem immer Zeit zum Tanzen.
In der gut ausgestatteten Disco unseres keineswegs autonomen, sondern brav städtischen, schwäbischen Jugendzentrums hatten die leitenden Sozialpädagogen uns Punks und Wavern eine Stunde pro Woche zur eigenen Gestaltung zugebilligt: mittwochs von halb acht bis halb neun.
Sie konnten uns nicht genau einschätzen. Da war vom neunmalklugen Junglinken bis zum absturzgefährdeten Asi alles mögliche Gesocks dabei. Heute weiß man, dass das oft nur ein kleiner Schritt sein kann. Ich spielte Buzzcocks, Hansaplast oder Dead Kennedys. Und natürlich Sex Pistols. Dazu tanzte der ganze Haufen Pogo, als ginge es ums Überleben.
An einem Abend stellte sich ein Italiener zu mir in die DJ-Box und wartete auf seinen Auftritt. Sie nannten ihn Mukka. Er war ein Mofagangmember. Er war gefährlich: schmaler Oberlippenbart, mediterraner Minipli-Afro und Kutte. Aber er respektierte mich. Ich war für ihn okay, denn ich handelte nicht mit Ärger, sondern mit Musik.
Das hat mich nachhaltig beeindruckt – als DJ schien ich unberührbar. Schießen Sie nicht auf den DJ. Obwohl ich mein Punk-Programm noch längst nicht als DJ-Set begriff.
Als erste Platte legte er »The Adventures Of Grandmaster Flash On The Wheels Of Steel« auf. Ich war überwältigt. Zuvor hatte ich über diese erste echte HipHop-Platte – sie war nur aus Fragmenten anderer Platten zusammengemixt und gescratcht –schon in Sounds gelesen. Eine Woche später tanzten wir schon dazu. Dann spielte Mukka direkt »Rappers Delight« von Sugarhill Gang, das uns bis dahin höchstens ein bisschen witzig vorgekommen war.
Mukka war der erste richtige DJ für mich. Er spielte funky Dance-Hits und trug ein Goldkettchen. Er war ein Womanizer und nicht unbedingt der Hellste. Aber er strotzte vor Selbstbewusstsein und hatte ein großes Disco-Herz. Er erinnerte mich an einen der Freunde von John Travolta in »Saturday Night Fever« und prägte so meine Urvorstellung von einem DJ. Ein paar Jahre später soll er angeblich bei einer Schießerei ums Leben gekommen sein.
Punk mutierte langsam, immer analog zur Sounds-Berichterstattung, zu einer funkigen, funkelnden Art Dance-Pop. Und als sogar The Clash anfingen, groovige Club-Platten zu machen, kehrte das Disco-Prinzip nach jahrelanger subkultureller Ächtung in brandneuen 80er-Klamotten wieder dorthin zurück. Anstatt mir die Haare selbst zu schneiden und mit Seife hochzustellen, ging ich in Ravensburg zu einem Szene-Friseur, ließ mir die Haare im Nacken ausrasieren und vorne bis zum Kinn wachsen. Es ging jetzt nicht mehr darum, nur richtig auszusehen, sondern dabei auch noch gut.
Auch im tiefsten Süddeutschland öffneten nun erste Clubs, die nicht mehr nach 70er-Disco aussahen. Die Traditionskneipe Grüne Burg in Pfullendorf nannte sich um in Breitengrad. Der DJ dort spielte ausschließlich die etwas andere Discomusik, und nahezu erwachsene Szeneleute trafen sich hier am Wochenende zum Tanzen. Manche reisten bis aus Ulm oder gar Stuttgart an, um sich zu Rap, New Wave und den übrigen 80er-Jahre-Dance-sounds schick und zickig zu bewegen.
Doch die nächste echte Großstadt blieb Zürich, wo die gerade äußerst hippe Hamburger Band Palais Schaumburg auftrat. Coati Mundi von Kid Creole & The Coconuts hatte ihre letzte Platte produziert und die Gesangsdiva Grace Jones liiiiebte sie und nannte sie bewundernd schleeecht. Das hatte sie Diedrich Diederichsen in Sounds erzählt. Was die Show betrifft, kann ich mich nur noch an die Hemden in 50er-Jahre-Op-Art-Mustern erinnern. Im Vorprogramm allerdings spielte der Rapper Kurtis Blow. Zum ersten Mal sah ich eine reine New Yorker HipHop-Show, nicht nur mit genügend »Say Hoo!« für den Rest des Lebens, sondern auch mit einem echten, scratchenden, cuttenden und mixenden HipHop-DJ. Ich war schwer geflasht.
Bis etwa ’81 oder ’82 redete man, zumindest in der oberschwäbischen Provinz, noch nicht wirklich von DJs. Man sagte: Machsch du heu dabn Sauund? Allmählich wurde daraus: Legsch du heu dabn dauuf ? Oder auch: Machsch du heu dabn Diedschie? Es war nicht viel mehr als ein Kneipenjob für Leute, die zum Kellnern zu ungeschickt oder zu unseriös waren.
Mein Einstieg ins Auflegen lässt sich, wie wahrscheinlich bei jedem anderen DJ auch, nur vage bestimmen. Gilt die erste Schuldisco? Oder die Party in der Kellerbar des reichen Schulkollegen, dessen Vater Anwalt war?...