1. Einleitung
Das von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zu Beginn der 1990er Jahre vorhergesagte „Ende der Geschichte“ lässt auf sich warten. Seine Zuversicht, es gäbe eine geschichtliche Bewegung hin zur liberalen Demokratie, die eine historisch zwangsläufige Entwicklung sei, mutet mittlerweile absurd an. Der gewissermaßen unvermeidliche historische Ablauf, den er dabei beschreibt, ähnelt einem Inklusionssog: Nach und nach würden die verschiedenen Streitpunkte und Widersprüche im homogenen Universalstaat liberaler Prägung aufgehoben, der sich als das Ordnungsmodell weltweit durchsetzen würde.i Spätestens seit der Banken- und Finanzkrise von 2007 und den darauffolgenden Protesten erweist sich die als notwendig behauptete Verbindung von Demokratie und Kapitalismus jedoch als brüchig.ii Da Demokratie und Kapitalismus jeweils von unterschiedlichen Prinzipien geleitet werden – für Erstere gelten Allgemeinwohlorientierung, politische Gleichheit sowie Verfahren konsensueller oder majoritärer Entscheidungsfindung, während Letzterer für Eigentumsrechte, ungleiche Besitzverhältnisse, individuelle Gewinnorientierung und hierarchische Entscheidungsstrukturen steht – ist die Verbindung zwischen diesen beiden keine „naturgegebene“ (Merkel 2014).
Schon einige Jahre vor dieser weltweiten ökonomischen Krise hatte der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch beschrieben, dass die liberale Demokratie zum Zustand der „Postdemokratie“ hin tendiert. In der Postdemokratie gebe es zwar nach wie vor Wahlen, „die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“iii
Das heißt, bestimmte demokratische Institutionen sind zwar formal weiterhin intakt, doch die politische Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern verkommt zu einer Marketingangelegenheit: Nach Crouch greifen die politischen Eliten auf bestimmte Techniken der politischen Manipulation zurück, mit deren Hilfe sie die sogenannte öffentliche Meinung ermitteln können, ohne dass diese Prozesse jedoch durch die Bürger zu kontrollieren sind. Gleichzeitig werden die Parteiprogramme immer oberflächlicher, und die politischen Botschaften ähneln Werbeslogans: „Werbung ist keine Form des rationalen Dialogs. Sie baut keine Argumentation auf, die sich auf Beweise stützen könnte, sondern bringt ihr Produkt mit speziellen visuellen Vorstellungen in Verbindung. […] Ihr Ziel ist es nicht, jemanden in eine Diskussion zu verwickeln, sondern ihn zum Kauf zu überreden. Die Übernahme dieser Methoden hat den Politikern dabei geholfen, das Problem der Kommunikation mit dem Massenpublikum zu bewältigen; der Demokratie selbst haben sie damit jedoch einen Bärendienst erwiesen.“iv In der Konsequenz durchdringt die marktwirtschaftliche Logik nach und nach alle Bereiche des (öffentlichen) Lebens, gestaltet das Denken um und zersetzt die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens.v Durch die Ökonomisierung unterschiedlichster Lebensbereiche verwandelt sich der Bürger in einen Konsumentenvi bzw. wird zu einem „unternehmerischen Selbst“vii umgeformt.
Vor derartigen Prozessen in der politischen Entwicklung eines Gemeinwesens warnte vor mehr als zweitausend Jahren bereits Aristoteles in seiner wichtigsten staatstheoretischen Schrift, der Politik (gr. Politika „Dinge, die das Gemeinwesen betreffen“). Dieses in acht Bücher aufgeteilte, uns nur fragmentarisch überlieferte Werk, das nach der aristotelischen Einteilung der praktischen Wissenschaft zuzurechnen ist, knüpft an Aristoteles’ Nikomachische Ethik an – was die normative Prägung der Politik erklärt – und behandelt solche Themen wie politische Anthropologie, legitime und illegitime Staatsverfassungen oder auch Ökonomie.
Gleich zu Beginn unterscheidet Aristoteles zwischen der „natürlichen“ Hauserwerbsökonomie und der auf (schrankenlose) Geldvermehrung ausgerichteten Handels- und Gelderwerbswirtschaft und zeigt die Gefahr auf, die das Eindringen der Profitlogik in das Denken und Handeln der Bürger darstellt: Wenn Tugenden und Fertigkeiten nur als Mittel zum Gelderwerb gelten, dann werden sie hinsichtlich ihrer sozialen Funktion entwertet – eine Entwicklung, die auf Dauer die politische Gemeinschaft gefährdet (Pol. I, 1257b–1258a).viii An anderer Stelle beschreibt der antike Philosoph die negativen Folgen einer unverhältnismäßigen Vermögensvermehrung durch wenige. Dabei vergleicht er den Staat mit einem Körper und weist darauf hin, dass das übersteigerte Wachstum von Extremitäten nicht nur den Gesundheitszustand eines Wesens gefährden, sondern auch aus dieser überproportionalen Vermehrung unter Umständen ein anderes Lebewesen hervorgehen könne – wodurch ein Umschlagen von Quantität in Qualität erfolge. Dementsprechend bestehe eine der Gefahren für einen demokratisch geprägten Staat in der wachsenden Zahl der Reichen oder in der unverhältnismäßigen Vergrößerung der Vermögen: beide Entwicklungen führten dazu, dass die Demokratie in Oligarchie umschlage (Pol. V, 1302b–1303a).
Die Spaltung innerhalb der polis (urspr. „Burg“, später „Stadt“, „Staat“, für Aristoteles auch gleichbedeutend mit „Bürgerschaft“) verläuft Aristoteles zufolge entlang des Gegensatzes zwischen Arm und Reich (etwa Pol. III, 1279b–1280a; Pol. V, 1301b–1302a). An der Doppeldeutigkeit des Wortes dēmos (urspr. „Dorfgemeinde“) wird sichtbar, dass die polis kein harmonisches Ganzes ist: Denn dēmos bezeichnet einerseits die Bürgerschaft als Ganzes und meint andererseits die Armen bzw. die Vielen.ix Diese sind somit Teil des gesamten Volkes, stehen aber auch für das ganze Volk – mit ihrem gewissermaßen leeren Eigentum der gleichen Freiheit,x an dem nicht nur sie, sondern alle einen Anteil habenxi: „[D]en Reichtum haben wenige, an der Freiheit aber nehmen alle teil“ (Pol. III, 1280a).
Eine strukturell ähnliche Unterscheidung führt Wolfgang Streeck ein, der die Prozesse der „politischen Entmachtung der Massendemokratie“ seit den späten 1970er Jahren beschreibt, die sich seiner Meinung nach auch als „eine Geschichte des Ausbruchs des Kapitals aus einer sozialen Regulierung“ lesen lassen. Im „demokratischen Schuldenstaat“xii, dessen Politik den Ansprüchen zweier unterschiedlicher Kollektive ausgesetzt ist, gibt es auf der einen Seite das Staatsvolk, das aus Bürgern besteht, die national organisiert sowie an ein Staatsgebiet gebunden sind. Sie verfügen über bestimmte, unveräußerliche Rechte, wie zum Beispiel das Wahlrecht. Dafür sind sie dem demokratischen Staat Loyalität schuldig, einschließlich der Abführung von Steuern. Auf der anderen Seite richtet das Marktvolk seine Forderungen an die staatliche Politik, dessen Mitglieder lediglich vertraglich an den jeweiligen Nationalstaat gebunden sind, „als Investoren statt als Bürger. Ihre Rechte dem Staat gegenüber sind nicht öffentlicher, sondern privater Art: nicht aus der Verfassung resultierend, sondern aus dem Zivilrecht. Statt diffuser und politisch erweiterbarer Bürgerrechte haben sie gegenüber dem Staat spezifische, vor Zivilgerichten grundsätzlich einklagbare und durch Vertragserfüllung ablösbare Forderungen.“xiii Streecks Abhandlung zielt auf die gleiche Spannung, die bereits in Aristoteles’ Analysen zum Ausdruck kommt: Es geht um zwei sich widerstreitende Logiken innerhalb eines Gemeinwesens oder Staates, die jeweils über unterschiedliche Anrechte sowie bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen verfügen und entsprechende Rechte geltend machen, damit jedoch die soziale und politische Stabilität der Gesamtheit gefährden (siehe dazu etwa Pol. III, 1280a; V, 1302a).
Das analytische Rüstzeug, das Aristoteles’ Politik bietet, ist somit bei achtsamer Anwendung keineswegs veraltet. Ebenso aktuell sind sein Hinweis auf die Bedeutung einer breiten Mittelschicht für ein stabiles Gemeinwesen sowie seine Warnungen vor der Erosion der gesellschaftlichen Mitte: „Dass aber ein Staat aus solchen Mittelexistenzen der Beste ist, liegt zutage. Er allein ist frei von Aufruhr; denn wo der Mittelstand zahlreich...