Zur Einführung
I
Reisen bildet, sagt man. Warum eigentlich? Weil Erfahrungen mit anderen oder fremden Verhältnissen die Einsichten in die eigenen schärfen können. Deshalb bergen Vergleiche oft gute Quellen für Erkenntnisse. Das gilt auch für Zeitvergleiche der Gegenwart mit den eigenen Vergangenheiten. Sie stärken das politische Gedächtnis in einer Zeit, die sich immer schneller wandelt, und sie bekämpfen eine riskante Vergesslichkeit. Vor allem helfen sie mit, Zustand, Wachstum und die umwälzenden, um nicht zu schreiben, revolutionären Veränderungen unserer Lebensverhältnisse besser zu erkennen und zu verstehen; vielleicht auch, um aus begangenen Fehlern Lehren zu ziehen und bewusster in die Zukunft zu blicken. Und wenn es dabei um Fragen der verbindlichen Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also um Politik geht, wie in diesem Buch, dann sind Kenntnisse und Verständnis des Geschehenen, des Tuns und des Unterlassens unserer Vorfahren besonders wichtig.
Damit ist das Programm dieser Schrift schon angedeutet. Sie will eine lange polithistorische Zeitreise anbieten und in geraffter Darstellung dokumentieren, welche wirtschaftlich-gesellschaftlichen Probleme, Bedürfnisse, Interessen und Wertvorstellungen in den turbulenten Jahren des 20. Jahrhunderts an den Staat und den Bund herangetragen worden sind; wie, wann, für wen und mit welchen Gesetzen oder Problemlösungen das Parlament darauf reagiert hat oder nicht; wer sie bezahlte, und welche Rolle die Volksvertretung dabei spielte.
Weiter geht es um die Diskussionen, die unsere Milizparlamentarier immer schon und immer wieder über die Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise und über Organisationsprobleme führen mussten, die ihnen durch das ständige Wachstum ihrer Aufgaben (und auch durch den Eigensinn von Mitgliedern) erwuchsen. Die Thematik ist, wie man weiss, aktueller denn je.
Jene Debatten liefern auch Einblicke in die Denkweise von Parlamentsmitgliedern sowie in Stil und Betrieb jenes ganz speziellen Staatsorgans, das sich mit guten Gründen Bundesversammlung (L’Assemblée fédérale) nennt: nämlich eine prestigeträchtige Versammlung, zusammengesetzt aus einer grösseren Anzahl gewählter, in parteipolitischer, beruflicher, konfessioneller, intellektueller, finanzieller, auch sprachlicher sowie altersmässiger und geschlechtlicher Hinsicht verschiedener, rechtlich zwar gleichgestellter, aber unterschiedlich stark ambitionierter und talentierter Leute bzw. Vertreter des Volkes, die sich trotz gegensätzlicher Interessen in wichtigen Fragen des Landes einigen müssen, dabei eine grosse Verantwortung tragen, aber kein starkes Organisationsregime und keine starke Führung ertragen wollen und haben. Ein Stück Parlamentsgeschichte also.
Dokumentiert werden auch die häufig wiederholten Auseinandersetzungen über die Wahl und die Zahl des Bundesrates (Le Conseil fédéral) sowie über Mittel und Wege zur Verbesserung der Regierungstätigkeit, weil sie offensichtlich nie zu Ende gehen. Sie zählen wie das sogenannte Miliziprinzip auch zu den politischen Organisationsproblemen, die unser vielfältiger Kleinstaat zu lösen hat. Zwischendurch soll die treue Leserschaft ab und zu auch mit Lesenswertem aus den alten Zeiten belohnt werden.
Mit diesen Zielen wird ein breites Spektrum von Problemen und Themen sowie ein historisch weiter und wechselvoller Zeitraum in den Blick genommen. Er kann nur auf einem befestigten Pfad abgeschritten werden, will man sich dabei nicht verirren. Deshalb habe ich den naheliegendsten Weg gewählt, nämlich schlicht und einfach die Protokolle über die Debatten durchgelesen, die unser Bundesparlament im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts über die wichtigen Gesetzesvorlagen und über die eigene Arbeitsweise geführt hat.
Wie man weiss, werden alle Gesetzesprojekte zuerst vom Bundesrat und dann von Kommissionen des Parlamentes vorberaten. Diese Kommissionen bestellen jeweils Berichterstatter, welche die Ratsplenen über ihre Vorberatungen, Entscheidungen samt Begründungen informieren müssen. Auf ihre Berichte stützen sich die folgenden Wiedergaben in erster Linie, weil sie in aller Regel prägnante und objektive Zusammenfassungen der Sachverhalte liefern. Das gilt insbesondere für die späteren Teile dieser Arbeit, in denen die Gesetzesmaterien zahlreicher und komplizierter werden.
Um diese Wiedergaben überschaubar und gut lesbar zu halten, waren einige Einschränkungen unvermeidbar. Erstens konnten die gesetzgeberischen Sachverhalte nur so weit referiert werden, bis der Leserschaft einigermassen klargemacht war, um was es sich dabei handelte. Je stärker die Gesetzgebungstätigkeit des Bundes im Laufe des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts zunahm, desto knapper müssen die Zusammenfassungen werden. Immerhin sind die meisten jener legislatorischen Hauptthemen noch bekannt.
Eine ausführliche Wiedergabe der jeweiligen Problematiken, der gesetzgeberischen Massnahmen, der unterschiedlichen Parteistandpunkte, der Interessengegensätze und aller Begründungen usw. wäre für einen derart weit gespannten Zeitraum und für die vielen Themen weder adäquat möglich noch sinnvoll gewesen. Ausserdem hätte ein solcher Anspruch den Text noch umfangreicher und auch schwierig lesbar gemacht. Im Zentrum soll also, um die Zielsetzung dieser Arbeit zu wiederholen, in erster Linie die Sequenz der bundespolitischen Probleme und Themen im Ablauf der vielen Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts stehen. Dazu sollen Fakten sprechen, und sie werden ausführlich sprechen. Dann fallen der geneigten Leserschaft Erklärungen und Urteile von selbst ein. Ich werde mich dabei in der Regel auf auswählende Zusammenfassungen und knappe Erläuterungen beschränken müssen, soweit sie für das Verständnis notwendig sind.
Zweitens weiss man, dass sich der Bund (La Confédération) zwei völlig selbstständige gesetzgebende Räte leistet, den Nationalrat (Le Conseil national) und den Ständerat (Le Conseil des cantons), und dass dort in deutscher und französischer (ganz selten auch in italienischer) Sprache verhandelt wird. Da der Leserschaft die wichtigen Politikfelder einer sehr langen Zeit vor Augen geführt werden sollen, konnte ich überwiegend nur die Protokolle des Nationalrates berücksichtigen, weil die Problematiken dort meistens ausführlicher dokumentiert sind und auch pointierter zum Ausdruck kommen als im Ständerat. Das bedeutet keine Abwertung des ab und zu auch zitierten kleinen Rates, der sich im Laufe der Zeit übrigens eine gleichermassen einflussreiche Stellung erarbeitet hat. Denkbar wäre zwar eine alternierende Berücksichtigung beider Räte gewesen. Aber das hätte zu Wiederholungen geführt. Sodann musste auch auf die französischsprachigen Beiträge verzichtet werden. Dafür bitte ich die Compatriotes der Westschweiz um Verständnis. Die Dokumentierung der grossen nationalen Politiken und der Organisationsprobleme des Parlamentes wird dadurch jedoch nicht entscheidend beeinträchtigt, weil die deutschen und welschen Kommissionsberichterstatter mit ihren Referaten immer die gleiche Aufgabe haben.
Es wären zwei verschiedene Formen der Wiedergabe dieses umfangreichen Stoffes möglich gewesen, eine systematische und eine chronologische. Der systematische Weg hätte die grossen Politikfelder wie Recht, Wirtschaft, Geld, Natur, Boden, Kultur, Militär, Soziales, Erziehung, Verkehr, Landwirtschaft, Umwelt, Verkehr usw. (die Aussenbeziehungen waren lange kein Thema in der BVers) des ganzen Zeitraums in Sachzusammenhängen zu Papier gebracht.
Der diachrone Weg führt dagegen von Periode zu Periode, Jahr um Jahr und von Session zu Session zum Werk. Ich habe mich für die chronologische Darstellung entschieden, weil die Stofffülle so einfacher repräsentiert und auch leichter gelesen werden kann. Ausserdem bindet diese Art der Präsentation die politischen Themen besser in die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ein und bringt so die Entwicklung und den Wandel des Geschehens eindrücklicher zur Geltung. Die vielen und in den späteren Teilen sehr ausführlichen, die Jahre zusammenfassenden Zwischentitel und ein knappes Sachregister am Ende des Textes sollen der Leserschaft Gelegenheit geben, sich auch systematisch nach Politikfeldern bzw. Sachthemen zu orientieren.
Quelle dieser Präsentation ist das Stenographische Bulletin (Stenbull) der Bundesversammlung. Der sparsame Bund hatte sehr lange Zeit gebraucht (und gestritten), bis er sich zu einer vollständig gedruckten Publikation seiner Parlamentsdebatten entschliessen konnte. Den einen war das zu teuer, andere sahen kein Bedürfnis. Erst ab 1891 wurden Teile der Verhandlungen im Druck veröffentlicht, im Laufe der Zeit dann immer mehr, vor allem die referendumspflichtigen Geschäfte, selten aber (und das ist ein Mangel) die Debatten über die Staatsrechnung (Le Compte d’Etat), über das Budget und die Geschäftsberichte (Le Gestion du Conseil fédéral) des Bundesrates. So sind die Berichte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs im Stenbull sehr lückenhaft, weshalb für jene Jahre auch Korrespondenzen der Neuen Zürcher Zeitung herangezogen wurden. Ein vollständiges Bulletin der BVers (Bundesversammlung) erscheint erst seit 1972 im Druck.
Übrigens wird die Leserschaft um Nachsicht dafür gebeten, dass wegen der Länge des Textes, wenn immer möglich, für die häufig gebrauchten Begriffe Abkürzungen verwendet und auf Punktsetzung (z. B. Fr. nur Fr oder Dez. nur Dez) verzichtet wird. Sodann werden die abgekürzten Ausdrücke nur im Nominativ geschrieben (z. B. Bundesrat gleich BR und des BR usw.). In späteren Teilen der Darstellung wird nur noch das Stenbull des Nationalrates...