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DIE PHYSIOLOGIE DER MAXIMAL- UND SCHNELLKRAFT
Um zu verstehen, wie der Körper im Powerlifting funktioniert, muss man zuerst einige grundlegende physiologische Zusammenhänge begreifen. Dieses Grundwissen klammert Themen wie die Theorie der gleitenden Filamente, die Funktionsweise der Mitochondrien in der Zelle oder die Rolle der Fettsäuren im Stoffwechsel an einem langen Wettkampftag aus. Wenn Sie mehr über diese Themen erfahren möchten, sollten Sie Bücher über Trainingsphysiologie lesen oder sogar Seminare über die menschliche Anatomie, Physiologie und Kinesiologie belegen. Dieses Kapitel deckt den Bereich der Physiologie ab, den Sie kennen müssen, um so stark wie möglich zu werden und am Wettkampftag optimale Leistungen zu erzielen.
Motorisches Lernen
Wenn man weiß, wie der Körper lernt, hilft das zu verstehen, wie und warum man verschiedene Techniken anwenden sollte. Denken Sie zum Beispiel an ein Kleinkind, das Gehen lernt. Es sieht Erwachsenen beim Gehen zu und will es auch probieren. Nachdem es andere beobachtet und analysiert hat, fängt es mit den ersten zaghaften Schritten an. Es reckt sich langsam in eine aufrechte Körperhaltung, taumelt und fällt zu Boden. Dann zieht es sich wieder hoch, taumelt erneut, macht ein, zwei Schritte und stürzt. Mit Hartnäckigkeit, Übung und wachsender Muskelkraft fängt es schließlich ganz von selbst an zu gehen.
In dem Buch Weightlifting: Fitness for All Sports (International Weightlifting Federation 1988) sagen Tamás Aján und Lazar Baroga, dass jede noch so neu erscheinende Bewegung auf bereits erlernten Bewegungsmustern beruht. Je mehr motorische Muster man also im Vorfeld besitzt, desto mehr neue Bewegungsmuster kann man lernen, und umso schneller lernt man sie. Stellen Sie sich zwei Personen vor, die anfangen, Kniebeugen zu machen. Warum hat die eine Person Probleme damit, während sie der anderen leichtfallen? Weil die eine Person bereits über die notwendigen motorischen Muster verfügt, die andere hingegen nicht. Vielleicht wird die zweite Person die Technik beherrschen und gute Kniebeugen machen, braucht dafür aber mehr Zeit. Ein Coach oder Trainer muss die Bewegung mehrmals demonstrieren, damit der Kraftsportler sie begreift. Dann muss er selbst an die Hantel treten und die Übung machen. Er wird vielleicht das Gefühl haben, dass sich die Bewegung hölzern anfühlt, und sich so ungeschickt anstellen wie ein Kleinkind, das seine ersten Schritte macht. Vielleicht kippen seine Knie nach innen, wenn er sich mit der Hantel auf dem Rücken mühsam nach oben windet. Oder seine Bewegung sieht aus wie ein Good Morning mit gebeugten Beinen. Und in der Zwischenzeit versucht er, die einzelnen Bewegungen zu einem einheitlichen Ganzen zu koordinieren, das wie eine Kniebeuge aussieht. Die Aufgabe des Coaches ist es, dem Sportler aufzuzeigen, was er falsch macht und wie er diesen Fehler behebt. Mit der Zeit wird er eine Bewegung beherrschen, die halbwegs einer Kniebeuge ähnelt, aber er wird immer noch an seiner Technik feilen müssen. Louie Simmons sagte einmal, dass ein Coach seine Gewichtheber so weit unterrichten muss, dass sie selbst coachen können. Auf diese Weise hat man jedes Mal, wenn man eine Kniebeuge oder eine andere Übung absolviert, ungefähr zehn Coaches, die einen beobachten, statt nur einen.
Beim Erlernen einer neuen Technik ist es hilfreich, jemanden zu beobachten, der diese sauber beherrscht, sie anschließend erklärt zu bekommen und die Übung dann selbst auszuführen. Wenn irgendein Punkt in dieser Abfolge ausgelassen werden muss, so sollte es das Beobachten jenes Sportlers sein, der mit sauberer Technik trainiert. Entscheidend ist das Coaching. Wenn man nicht weiß, wie sich eine Bewegung richtig anfühlen soll, wird man nicht erkennen, was man falsch macht.
Beginnt jemand mit dem Krafttraining, legt er in kurzer Zeit enorm an Kraft zu. Es passiert nicht selten, dass ein Neuling in einem Monat oder sogar schneller seine Leistung beim Bankdrücken um 13 bis 18 Kilo steigert. Das hat viel mit der verbesserten Effizienz des neuromuskulären Systems zu tun. Im Grunde ist das Gehirn wie ein Prozessor, der den gesamten Körper steuert. Im Körper passiert nichts, was das Gehirn zuvor nicht bewusst oder unbewusst verarbeitet hat. Wenn ein Kraftsportler in diesem Tempo seine Kraft steigert, nimmt er keine Muskelmasse zu; der Aufbau von deutlich mehr Muskelmasse dauert viel zu lange, als dass man in so kurzer Zeit so große Kraftverbesserungen machen könnte. Der Körper lernt die Ausführung der Bewegung und rekrutiert mehr motorische Einheiten, die ihm zur Verfügung stehen, getreu dem Motto: »Kümmere dich um deine Muskeln, oder sie verkümmern.« Der Körper hat viele hochschwellige motorische Einheiten, die er noch nie aktiviert hat. Man muss lernen, sie einzusetzen, oder man wird niemals in der Lage sein, sie im Hanteltraining zu rekrutieren.
Motorische Einheiten funktionieren nach dem Alles- oder-Nichts-Prinzip. Lässt ein Motoneuron einen Muskel kontrahieren, ziehen sich alle Fasern zusammen, die von dem Nerv innerviert werden. Wenn der Nervenimpuls gesendet wird, müssen sich alle Fasern zusammenziehen – es ist unmöglich, dass sich nur manche Fasern kontrahieren, andere aber nicht. Wichtig ist, dass eine große Muskelgruppe nicht nur von einem Nerv allein angeregt wird; der Muskel wird vielmehr durch zahlreiche Nerven innerviert. Wenn also mehr Muskeln zum Einsatz kommen müssen, um eine Hantel zu stemmen, werden mehr Neuronen feuern, um mehr Muskelfasern zu rekrutieren.
Es ist keineswegs so, dass der ganze Muskel permanent arbeitet; es werden jeweils immer nur einige Einheiten gleichzeitig aktiviert. Denken Sie zum Beispiel an den Bizeps: Nimmt man eine Dose Limonade und führt sie an die Lippen, rekrutiert der Bizeps genügend motorische Einheiten, um die Dose vom Tisch zum Mund zu heben. Setzte der Bizeps nun aber alle motorischen Einheiten ein, über die er verfügt, um die 330-Milliliter-Dose zu heben, könnte man die Dose vor dem Mund nicht stoppen, weil die Geschwindigkeit der Bewegung und die erzeugte Kraft zu hoch wären. Vielmehr würde sich die Dose weiterbewegen, die Lippe auf- und einige Zähne ausschlagen. Umgekehrt gilt: Müsste der Bizeps einen Curl mit 18 Kilo Gewicht ausführen – dies entspricht einer Last, die der Körper im Alltag oft heben muss –, wäre er in der Lage, die erforderliche Anzahl der Fasern für diese Aufgabe zu rekrutieren. Beispiel: Sie wollen einen persönlichen Rekord beim Bizepscurl aufstellen und eine 40-Kilo-Hantel heben. Beim ersten Mal werden Sie die Bewegung vielleicht nicht abschließen können, oder sie ist unsauber. Aber Sie werden es in der darauffolgenden Woche wieder versuchen und die Hantel diesmal zügig heben. Sie haben in der Zwischenzeit keine weitere Muskelmasse aufgebaut, allerdings hat der Körper gelernt, die motorischen Einheiten zu rekrutieren, die zuvor nicht genutzt wurden.
Bei Verbundübungen, beispielsweise Powerlifts, müssen die motorischen Einheiten der verschiedenen Muskelgruppen zusammenarbeiten. Diese Bewegungen sind viel komplexer als einfache Eingelenkübungen wie der Curl. Eine Eingelenkübung ist damit vergleichbar, einem dreijährigen Kind etwas beizubringen. Es ist zunächst schwierig, aber das Kind begreift schnell und schafft es, einfache Aufgaben ohne fremde Hilfe zu verrichten. Eine komplexe Übung lässt sich damit vergleichen, 15 Dreijährige dazu zu bringen, eine Aufgabe zu erledigen. Es ist gut möglich, dass die meisten von ihnen in die richtige Richtung gehen, aber es wird immer einige Ausreißer geben, die sich von der Gruppe lösen und andere Dinge tun. Beim Erlernen der Kniebeuge können manche Sportler ihre Hüften nicht richtig nach hinten schieben, manchmal knicken die Knie nach innen ein, und manchmal steigen sie mit den Hüften eher aus der Hocke nach oben als mit den Schultern. Es dauert eine Weile, bis man die motorischen Einheiten der richtigen Muskeln zur richtigen Zeit in der richtigen Bewegungsabfolge rekrutiert. Um die Übung korrekt auszuführen, muss man ständig von anderen gecoacht werden.
Es gibt zwei Arten der motorischen Rekrutierung – intramuskuläre und intermuskuläre –, daher können Muskeln auf zwei unterschiedliche Arten lernen. Die intramuskuläre motorische Rekrutierung findet innerhalb des Muskels statt. Eine einzelne Muskelgruppe lernt, wie man etwas besser macht und in sich effizienter arbeitet. Bei der intramuskulären Koordination lernen die Fasern eines Muskels, effizienter zusammenzuarbeiten, um mehr Kraft oder Schnelligkeit zu erzeugen.
Bei der intermuskulären Koordination lernen die Muskeln, miteinander zu arbeiten und grobmotorische Bewegungen effizienter auszuführen. Effizienz wird erzielt, wenn Muskeln die Bewegungen immer wieder ausführen und dabei die bestmögliche Technik anzuwenden versuchen. Denken Sie zum Beispiel an ein unbekümmertes Kind, das gerade eine Wachstumsphase hinter sich hat und zum ersten Mal einen Ausfallschritt macht. Es wird sich wahrscheinlich seitlich nicht stabilisieren können, den Oberkörper nicht aufrecht halten...