2 Formen und Hintergründe neuer Präsenzorientierungen im abendländischen Denken
Friedrich Hausen
Gegenwart, die wir haben und miteinander teilen, scheint das Allerselbstverständlichste zu sein: Gegenwärtigkeit ist der Modus jeglichen Erfahrens. Zugleich ist subjektive Gegenwärtigkeit gar nicht so selbstverständlich, erscheint in Graden, kann verloren gehen oder muss erst oft gewonnen werden. Diese Idee, die in asiatischen Weisheitstraditionen bereits seit Jahrtausenden gepflegt wird, hat im abendländischen Denken erst im letzten Jahrhundert deutlich an Bedeutung gewonnen. In folgenden Kapitel werden verschiedene Formen präsenzorientierten Denkens unterschieden und anhand von Beispielen präsentiert, sowie zivilisatorisch bedingte Tendenzen und Neigungen des Gegenwartsverlusts bezeichnet, die das vielerorts diagnostizierte neue Interesse an Präsenzorientierung verständlich machen.
In seinem Buch „Existenzieller Hedonismus“ (Knöpker 2009) ▶ [27] sammelt und analysiert Sebastian Knöpker in einem Streifzug durch die neuere Geistesgeschichte Beispiele, in denen ein „Streben nach Sein“ offenkundig ist. Der Weg führt durch Literatur und Philosophie, bis hin zu Praxen der Meditation oder des Yoga, wo durch gezielte Übungen eine Steigerung und Sammlung von Sein im Sinne von Selbstgegenwart erzielt wird. Ein Kernpunkt der Arbeit, die den Untertitel „Von der Suche nach Lust zum Streben nach Sein“ trägt, ist eine veränderte Idee von Sinn im Leben: Worum es geht, ist nicht mehr, wie im traditionellen Hedonismus die Lust und das Vermeiden von Unlust, oder wie im Eudaimonismus, die Glückseligkeit, am besten im Bunde mit einer moralischen Integrität, sondern die Erfahrung des eigenen Seins, die Knöpker mit Michel Henrys lebensphänomenologischem Begriff der „Selbstaffektion“ modelliert. Gerade vielfältige Beispiele aus der Literatur, die das Leiden suchen (Knöpker nennt den „Törless“ von Musil, der sich im Internat, einem Hang zur Selbstintensivierung folgend, dem Heimweh hingibt, vgl. Existenzieller Hedonismus, S. 19ff) ▶ [27], werden vor dem Hintergrund der „ontologischen“ Positivität des Leidens, der Möglichkeit einer Selbststeigerung darin verständlich. Knöpker zitiert auch die Positivität des Fülleerlebens bei musikalischen Werken wie der Matthäuspassion, bei denen affektive Gehalte Schmerz und Trauer im Vordergrund stehen, folgt darin der Spur von Denkern wie E. M. Cioran oder Simone Weil, die im Leiden einen Schlüssel zur Fülle, Schlüssel zur subjektiver Gegenwart und Wirklichkeit sehen. Eine Steigerung des Seinserlebens motiviert auch zu modernen Extremsportarten oder Praxen wie dem Bungee-Jumping, bis hin zu Pathologien der Selbstverletzung zur Präsenzgewinnung. Viele scheinbar irrationalen Handlungen lassen sich als motiviert mit Blick auf Effekte der Verstärkung subjektiver Gegenwart verstehen. Präsenz erscheint als basales intrinsisches Gut, das grundlegend motivieren kann.
Mit Knöpkers Betonung einer grundlegenden Positivität jenseits der Unterscheidung von positiven und negativen hedonischen Qualitäten sowie jenseits moralischer Postulierungen scheint eine Tendenzwende bezüglich Primärorientierungen im abendländischen Bewusstsein bezeichnet, die sich bereits seit der Romantik und Frühmoderne andeutet und in den letzten Jahrzehnten in verschiedensten Praxen und Theoriegebieten sichtbar wird: von Esoterismen, geistlichen Lehren, Meditationstechniken und Aufmerksamkeitsübungen bis hin zu psychologischen und soziologischen Theorien, philosophischen Phänomenologien, Ethiken und Theologien: Ausdrücke wie "Präsenz", "Flow", "Klang", „Sein“ oder Aufmerksamkeit“ (Simone Weil) „Qualität“ bzw. „Dichte von Gegenwärtigkeit“ (vgl. Hausen, Wert und Sinn 2015, S. 420ff. u. 439f.) ▶ [16], „Resonanzerfahrung“ usw. werden vermehrt primäre Bezugspunkte und tendieren insbesondere bei einigen Vertretern der kontinentalen Philosophie dazu, Ideen des Glücks, des Wohlergehens in der Rolle finaler Werte zu ersetzen oder zumindest zu begründen. Erlebte Gegenwärtigkeit scheint mehr und mehr an die Stelle früherer theoretischer Primärorientierungen, wie Gott, die absolute Realität der Welt, Wissen, Vernunft, Wesen und Struktur des Sollens usw., zu treten oder den Status der entsprechenden Begriffe zu erklären.
Im Folgenden möchte ich 1) den Begriff präsenzorientierten Denkens spezifizieren und erste Unterarten bilden, dann 2), 3), 4) einige philosophische, ästhetische und spirituelle Positionen darstellen, in denen jeweils eine Form von präsenzorientiertem Denken realisiert ist, zuletzt 5) erfolgt eine Überlegung bezüglich historischer Hintergründe, die eine verstärkte Fokussierung auf Präsenz nahelegen.
2.1 Zu Begriff und Formen präsenzorientierten Denkens
Generell unter Präsenzdenken oder präsenzorientiertem Denken verstehe ich ein Denken, das die unmittelbare, erlebte Gegenwart bzw. Qualitäten solcher zum zentralen Ausgangs- oder Bezugspunkt oder zum Telos macht. Ein häufiges Merkmal präsenzorientierten Denkens ist ein Unterlaufen klassischer Differenzen, die die Gegenwart zum Vehikel zu Anderem machen, so Differenzen zwischen wahr und falsch, „innen“ und „außen“, Erscheinung und Bedeutung, Zeichen und Bezeichnetem, Sprache und Inhalt.
Präsenzorientiertes Denken betont die immanente Gewissheit, den Eigenwert bzw. eine Selbstgenügsamkeit des Gegenwärtigen und ist oft verbunden mit einer kritischen Haltung gegenüber einer Sicht in die Welt, nach der die wesentliche Realität nicht unmittelbar, sondern nur durch Zeichen vermittelt und verklausuliert - durch Systeme des Wissens und wissenschaftlicher Disziplin, durch arbeitsteilige Differenzierungen von Expertenwissen - zugänglich wäre. In seinen verschiedenen Varianten zielt Präsenzdenken einerseits auf eine verstärkte Würdigung unmittelbar erlebter Gegenwärtigkeit, sowie oftmals auch auf Wege einer Reduktion oder Aufhebung der Vermittlungen. So hat das Präsenzdenken insbesondere in der Kunst und Dichtung – d.h. abseits des begrifflichen Sprechens - eine entscheidende Wurzel, wo die primären Möglichkeiten und Rollen bezüglich des unmittelbaren Erlebens und Erlebbarmachens liegen. Die künstlerische Sprache hat sich nicht an einer unabhängigen Realität zu messen, sondern an der Qualität der Erlebnisse, die sie provoziert.
Man kann zwischen verschiedenen Typen präsenzorientierten Denkens unterscheiden: So gibt es das oftmals begriffs- und besitzkritische Denken, das selbst eher den Eigenwert des Präsentischen in seiner Unmittelbarkeit und Flüchtigkeit als wesentlich vertritt und verteidigt, dies jedoch in instruktiven, d.h. konventionellen Theorie- und Diskursformen (Analyse, These, Erklärung, Argument usw.) tut (1), ein anderes, das nicht notwendig Präsenz selbst, sondern unter Umständen auch Vielfältiges in der Welt thematisiert, dabei jedoch präsentistische Einstellungen oder Sprach- und Ausdrucksformen sucht, die sich des Besitzhaften, Festen im Zeichen-Objekt-Dualismus entledigen und gleichsam ein freies Sichtfeld ermöglichen sollen. Dabei wird eine konventionelle Theorie- und Diskursform auch zugunsten paradoxer, tautologischer oder ästhetischer Ausdrucksformen verlassen. Die Rede ist dann radikal implizit, beispielsweise demonstrierend und nicht deskriptiv, behauptend, erklärend oder argumentierend (2). Ein weiterer Typ von Präsenzdenken verfolgt explizit das Vertiefen und Differenzieren des Erfahrens, Erkennens und Wissens bezüglich der erlebten Gegenwart im Sinn, mag sich dabei (a) konventionell theoretisch-diskursiver oder auch (b) teils paradoxer bzw. ästhetischer Mittel bedienen (3).
Zum ersten Typ (1) können Autoren wie Hans Ulrich Gumbrecht (zu „Präsenz“), Hartmut Rosa („Resonanz“) teils Martin Heidegger („Sein“), Michel Henry, Emmanuel Levinas, überhaupt manche Vertreter der Postmoderne gezählt werden, teils auch Yves Bonnefoy („présence“), möglicherweise auch Jean Gebser mit seinem Begriff der „Gegenwart“ und des „Gewahrseins“.
Mit dem zweiten Typ (2), dem performativ von Präsenz oder aus Präsenz Redenden, verbinde ich Paradoxien des Absoluten und Gegenwärtigen unterlaufende Autoren, wie Rudolf Kassner, Edmond Jabès, mit Abstrichen auch Jaques Derrida und v. a. den „späten“ Heidegger, weiter aber auch Künstler im Performance-Kontext, wie Joseph Beuys oder John Cage (2).
Zum dritten Typ (3), den Theorien und Erkenntniswegen zur Erkenntnis von Vielfalt, Gestalt von Gegenwärtigkeit kann zwischen (a) theoretischer und (b) atheoretischer Form unterschieden werden. Zur theoretischen Form zählen Phänomenologien in der Husserl-Schule, also Husserl selbst und seine kritischen Nachfolger, sowie Autoren, deren Analysen sich Leiblichkeitserfahrung, Stimmungen und Atmosphären u. A. widmen (Maurice Merleau-Ponty, Otto Friedrich Bollnow, Bernhard Waldenfels, Hermann Schmitz, Michel Henry u. a). Dazu zählen generell Ansätze, die sich phänomenologisch im Vergegenwärtigen üben sowie in der Unterscheidung verschiedener Qualitäten der Gegenwart, oder in der phänomenologischen Meditation der Unverfügbarkeit des Ereignisses (Derrida, Emmanuel Levinas). Auch die Erkenntnistheorie von Hans Lungwitz entspricht dieser Form (a). Zu Typ (3) zähle ich auch Vertreter präsenzorientierter spiritueller Lehren, in deren Lehre das Einüben in die Gegenwart eine vorgeordnete Rolle einnimmt,...