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E-Book

Prävention psychischer Störungen

Konzepte und Umsetzungen

AutorSabine C. Herpertz
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783170267718
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Die Prävention psychischer Störungen ist fester Bestandteil des Alltags von Versorgungs-, Beratungs- und Bildungsinstitutionen. Dennoch ist sie zugleich wissenschaftliches Entwicklungsgebiet und gesundheitspolitisches Neuland. Dies ist das erste deutschsprachige Buch, das sich umfassend mit diesem herausfordernden Thema befasst. Die Beiträge folgen einerseits den Etappen des Lebenslaufs mit ihren spezifischen Aufgaben, Problemen und psychischen Gefährdungen. Zum andern wird die Prävention aus der Sicht der einzelnen Störungsgruppen behandelt. Streiflichtartig werden einzelne gelungene Projekte vorgestellt.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Rössler war langjähriger Direktor und Vorsteher der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und hat nach seiner Emeritierung in 2013 Professuren in Lüneburg und Sao Paulo angenommen. PD Dr. phil. Vladeta Ajdacic-Gross arbeitet am Forschungsbereich der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

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Leseprobe

2         Prävention psychischer Störungen entlang des Lebenslaufs


2.1        Risikofaktoren in der prä-, peri- und postnatalen Entwicklung


Margarete Bolten


Lange Zeit stellte der Zeitpunkt der Geburt den Beginn für entwicklungspsychologische oder epidemiologische Längsschnittstudien dar. Eine wachsende Anzahl experimenteller und klinischer Studien konnte jedoch zeigen, dass nicht nur die postnatale Umwelt, sondern auch intrauterine und perinatale Bedingungen einen erheblichen Einfluss auf Erkrankungen im höheren Lebensalter oder spätere psychische Auffälligkeiten haben können (Übersichtsarbeiten bei Entringer et al. 2010; Glover 2011; Monk et al. 2012). Prä-, peri- und postnatale Faktoren können Langzeitfolgen für die Hirnentwicklung, damit für die Reizverarbeitung und folglich auch für Verhaltensprobleme haben. Dies erfordert einen Paradigmenwandel in der klinisch-psychiatrischen Forschung. Es dürfen nicht ausschließlich postnatale Determinanten der Entwicklung betrachtet werden, sondern vielmehr auch das Zusammenspiel zwischen prä-, peri- und postnatalen Einflüssen. Ausschlaggebend für solche Forschungsbemühungen ist letztendlich die Frage nach der Vorhersagbarkeit und folglich auch der Prävention von psychischen Störungen. Die Grundvoraussetzung für entsprechende präventive Maßnahmen besteht in der Identifikation von Bedingungen und Faktoren, die Störungen in Kindheit und Erwachsenenalter zugeordnet werden können. Deshalb sollen im Folgenden Befunde zu prä-, peri- und postnatalen Risikofaktoren für die psychische Gesundheit dargestellt werden.

2.1.1      Risikofaktoren während der prä- und perinatalen Entwicklung


Obwohl die pränatale Entwicklung dem bloßen Auge verborgen bleibt, wird sie seit alters her als bedeutsam für unser weiteres Leben angesehen und ist seit mehreren Dekaden auch Gegenstand empirischer Forschung (Monk et al. 2012).

Bereits ab der 20. Schwangerschaftswoche (SSW) kann das Ungeborene erstmals extrauterine Reize wahrnehmen und darauf reagieren. Ab diesem Zeitpunkt ist das Gehör soweit entwickelt, dass Geräuschvariationen verarbeitet werden können. Intrauterine Bewegungen und die Reaktivität der fötalen Herzrate auf verschiedene Stimuli (z. B. vibroakustische Stimulation: siehe D’Elia et al. 2005) können als Marker für die Reifung des ZNS und des autonomen Nervensystems genutzt werden. Die zunehmende Synchronizität zwischen der Herzratenakzeleration und Bewegungen spiegelt die fortschreitende Reifung des ZNS wider. Die Akzeleration und Dezeleration der fötalen Herzrate auf die Präsentation verschiedener Töne wird deshalb auch als Marker für rudimentäre kognitive Funktionen genutzt, wie Aufmerksamkeitsprozesse, Diskriminierung von Geräuschen und Habituation auf wiederholt dargebotene Stimuli (Joseph 2000). Auch längerfristiges Lernen ist bereits bei ungeborenen Kindern beobachtet worden. So konnten beispielsweise Decasper et al. (1994) zeigen, dass Föten in der 37. SSW auf ein Gedicht, das die Mutter über vier Wochen hinweg dreimal täglich rezitiert hatte, mit einer deutlichen Veränderung der Herzrate reagierten, im Vergleich zu einem neuen Gedicht. Lernen ist in dieser Entwicklungsphase direkt mit dem Wachstum von Dendriten und Synapsen assoziiert. Diese neurologische Reifung beginnt in der Embryonalphase, setzt sich postnatal fort und kann durch Erfahrung und Stimulierung beeinflusst werden. Neben den akustischen Reizen kann der Fötus auch früh visuelle (Eswaran et al. 2002; Graven 2004) und olfaktorische (Schaal et al. 1998) Erfahrungen machen. Ab der 28. SSW sind das Gehirn und die Lungen weit genug entwickelt, sodass der Fötus ab diesem Zeitpunkt außerhalb des Uterus ohne medizinische Eingriffe lebensfähig wäre (Evans & Levene 2001).

Neben Sauerstoff oder Nährstoffen kann eine Reihe weiterer Substanzen über die Plazenta zum ungeborenen Kind gelangen (Petraglia et al. 2010). Stoffe mit einem Molekulargewicht von weniger als 600 bis 1000 Dalton können die Plazenta passiv passieren und somit auf den Föten einwirken. Faktoren, die sich schädigend auf das sich entwickelnde Kind auswirken können, werden Teratogene genannt. Die häufigsten sind dabei vor allem Alkohol, Nikotin, andere Drogen oder Medikamente, die die werdende Mutter ihrem Körper zuführt (Hoell & Havemann-Reinecke 2011). Da jedes Organsystem bestimmte sensitive Phasen der pränatalen Entwicklung aufweist, hängt die Schwere der Auswirkungen dieser potenziell schädigenden Stoffe nicht nur von der Menge und Dauer, sondern auch vom Zeitpunkt ihres Einwirkens ab ( Abb. 2.1).

Abb. 2.1: Kritische Perioden in der menschlichen Entwicklung (aus The Developing Human: Clinically Oriented Embryology)

Zu den Auswirkungen verschiedener pharmazeutischer Substanzen auf den sich entwickelnden Organismus gibt es zum Teil nur wenig publizierte Befunde, da sich eine systematische Untersuchung aus ethischen Gründen verbietet (Dawes & Chowienczyk 2001). Das wohl bekannteste Pharmakon mit verheerender Wirkung auf die fötale Entwicklung ist das in den 1960er Jahren als unbedenklich eingestufte Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomide (Maio 2001). Zwischen 1957 und 1961 nahmen etwa 10 000 schwangere Frauen in aller Welt dieses Medikament ein, welches in den Entwicklungsprozess der Embryos eingriff und dadurch irreparablen Schaden anrichtete. Folgen einer Einnahme waren verstümmelte Arme, Beine oder Ohren. Contergan wurde nach Aufdecken dieser Zusammenhänge in den meisten Ländern sofort vom Markt genommen, da die schädigende Wirkung des Medikaments so verheerend war. Auf der anderen Seite gibt es Medikamente, welche für die Gesundheit der werdenden Mutter und damit auch des ungeborenen Kindes nötig sind und auch während der Schwangerschaft eingenommen werden müssen. Die American Academy of Pediatrics (2000) hält in ihrem Statement zur Medikation der werdenden Mutter mit fest, dass generell sehr große Vorsicht bei der Verschreibung gelten sollte, im individuellen Fall aber sowohl die mütterliche als auch die kindliche Gesundheit von Bedeutung für eine Behandlungsentscheidung ist.

Dagegen belegt eine Vielzahl von Studien, dass sich der Konsum von Nikotin in der Schwangerschaft negativ auf ein weites Spektrum von Parametern der geistigen und körperlichen Entwicklung des Kindes auswirkt (Überblick bei Einarson & Riordan 2009). Zu diesen negativen Effekten zählen unter anderem die fötale Wachstumsretardierung, ein geringes Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen oder bestimmte Formen von Krebserkrankungen im Kindesalter. Auch für den regelmäßigen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sind negative Effekte beim Kind bekannt (Riley et al. 2011). Die schwerwiegendste Form – die Alkoholembryopathie – tritt ein, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg größere Mengen an Alkohol durch die werdende Mutter konsumiert werden, wie dies beispielsweise bei alkoholabhängigen Schwangeren der Fall ist. Zu den Symptomen der Alkoholembryopathie zählen neben einer veränderten Physiognomie, geistige Retardierungen, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsprobleme sowie Organschäden. Im Hinblick auf den moderaten Alkoholkonsum gibt es widersprüchliche Befunde. Während es Studien gibt, die bereits bei Mengen von weniger als einem Standarddrink pro Tag kurz- und langfristig negative Effekte nachweisen konnten, zeigen andere Studien bei ähnlichen Mengen keine negativen Effekte (Überblick bei Foltran et al. 2011). Die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Drogenkonsum in der Schwangerschaft sind ebenfalls gut untersucht. Evidenz gibt es auch hinsichtlich der negativen Folgen von Marihuana, Kokain, Heroin und Amphetaminen (Überblick bei Keegan et al. 2010).

Neben den oben beschriebenen Substanzen und Teratogenen aus der Umwelt, wie zum Beispiel Blei, Quecksilber oder polychlorierte Biphenyle (PCB), haben vor allem Hormone großen Einfluss auf pränatale Entwicklungsprozesse. So bilden beispielsweise die Plazenta und verschiedene andere intrauterine Strukturen ab der 10. SSW das Corticotropin Releasing Hormon (CRH) (Chen et al. 2010). CRH spielt schließlich eine wichtige regulatorische Rolle in Bezug auf die Initiation und den Zeitpunkt der Geburt. Weitere Funktionen von CRH bestehen in der Reifung fötaler Organsysteme und in der Regulierung des utero-plazentaren Blutflusses. Mc Lean et al. (1995) beschrieben CRH erstmals als eine sogenannte »Placental Clock«, welche die Dauer der Schwangerschaft vorhersagte. Je höher die CRH-Werte im Blut einer Schwangeren waren, umso kürzer war die Schwangerschaft. Zudem ist CRH auch ein sehr potenter Vasodilatator...

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