Sie sind hier
E-Book

Prag. Eine Stadt in Biographien

MERIAN porträts

AutorNorbert Schreiber
VerlagMerian / Holiday, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783834215437
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Prag. Eine Stadt in Biographien - Eine Stadt wird nicht nur von Gebäuden und Straßenzügen geprägt, die Identität von Prag entsteht erst mit den Geschichten seiner Bewohner. Denn was wäre die Stadt ohne Bedrich Smetana, Vaclav Havel oder Lenka Reinerová? 20 ausgewählte Biographien zeichnen ein lebendiges, historisches wie auch aktuelles Bild der Stadt. Die Porträts werden durch Adressen ergänzt, die eine Stadterkundung auf den Spuren der porträtierten Personen ermöglichen. Dieser Band umfasst Porträts von: Wenzel von Böhmen, Karl IV., Jan Hus, Judah Löw, Rudolf II., Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein, Wolfgang Amadeus Mozart, Bo?ena Nemcová, Bedrich Smetana, Antonín Dvorák, Jaroslav Ha?ek, Franz Kafka, Max Brod, Edvard Bene?, Egon Erwin Kisch, Lenka Reinerová, Alexander Dubcek, Emil Zátopek, Milo? Forman, Václav Havel. Autor: Norbert Schreiber

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

WENZEL VON BÖHMEN


ca. 908–ca. 929

Er ist alles in einer Person: Christianisierer, Befreier Böhmens, Namensstifter, Staatsgründer, Nationalheiliger. In Krisenzeiten versammelte sich das tschechische Volk und rief ihn an.

Es war einmal, so fangen alle Märchen und Geschichten über alte Städte an. Also, es waren einmal zwei Brüder. »Was ist über dich gekommen?«, soll Wenzel (Václav) von Böhmen Boleslav I.gefragt haben. Das brüderliche Schwert tötete den Fürsten am 28. September 929; er wurde zum Nationalheiligen. Es wenzelt und václavt überall in Tschechien. Ob der Brudermord 929 oder 935 geschah, darüber streiten die Historiker bis heute. Eines ist sicher: Wenzels Leib wurde vor der Kirche des heiligen Kosmas und Damian in Stará Boleslava (Alt-Bunzlau) von einem Schwert durchbohrt. Das Volk erzählt sich die Geschichte gottesfürchtig: »Da ließ Wenzel seine Seele fahren und sprach: ›In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.‹«

Historiker können über das Mordmotiv des Täters nur rätseln. War es die tief verwurzelte christliche Religiosität Wenzels, die ihn von den profanen Regierungsgeschäften abgelenkt hat, und musste er deshalb sterben? Steckten hinter dem feigen Anschlag finstere Auftraggeber aus dem Deutschen Reich? Hatte Boleslav den Brudermord als nationale Großtat geplant, weil der die immensen Geldzahlungen an die Deutschen verhindern wollte? Oder ging es schlicht und ergreifend um die ewig währende Machtfrage und die daraus folgende Nachfolgeregelung im Fürstengeschlecht der P?emysliden, die seit dem Ende des 9. Jahrhunderts bis 1306 als Herzöge von Böhmen und lokale Fürsten einige Landesteile des heutigen Tschechiens regierten?

Achtung Verwechslungsfahr! In Böhmen saßen so viele Václavs, also Wenzels, auf dem Thron, dass Beobachter in der Genealogie leicht ins falsche Jahrhundert geraten können. In unserem Fall handelt es sich um Herzog Wenzel, einen gütigen Regenten, der, so heißt es, die Galgen abgeschafft haben soll. Er war sozial eingestellt und auch im Strafvollzug zum Äußersten bereit, nämlich einmal Eingekerkerte auch wieder auf freien Fuß zu setzen. Auch die Cihristianisierung Böhmens darf er sich auf die Fahne schreiben.

Svatý Václav, der heilige Wenzel, wurde um 908 geboren. Seine Großmutter, die ebenso heiliggesprochene Ludmilla, sorgte für seine christliche Erziehung, wie eine alte Schrift berichtet: »Und Gott legte solche Gnade auf den Fürsten Venceslav, dass er begann, lateinische Bücher zu verstehen wie ein guter Bischof oder Priester, und wenn er ein griechisches oder slavisches Buch aus der Hand legte, so rezitierte er es aus dem Gedächtnis ohne Mühe.«

Widerständig war der überwiegend heidnische Adel damals, als der 13-jährige Václav nach dem frühen Tod seines Vaters Vratislav I. zum Fürsten ernannt wurde. Es regierte jedoch seine Mutter Drahomíra, eine ebenso entschlossene wie rücksichtslose Frau, die sogar Wenzels Großmutter – und ihre Schwiegermutter – Ludmilla ermorden ließ, um die Erziehungsgewalt über den Jungen an sich zu reißen. Sie soll auch später gegen den Sohn opponiert haben. Hatte sie auch ihren zweiten Sohn Boleslav zum Kampf gegen seinen Bruder aufgestachelt?

Trotz aller Querelen des Adels und mit seiner Familie wurde der reformfreudige Wenzel 921 Herzog von Böhmen. Der nach ihm benannte Václavské nám?stí (Wenzelsplatz) 36 ( ? J 7) liegt mitten in Prag. Dort steht auch seine monumentale Statue. Das Denkmal wurde 1912 von Josef Václav Myslbeck errichtet und zeigt einen Wenzel mit Lanze auf einem Bronzepferd.

DER WENZELMYTHOS HÄLT BIS HEUTE

Die Menschen in Tschechien versammeln sich immer dann um ihren Nationalheiligen, wenn sie hilfsbedürftig sind. Meist geht es dann ums Ganze: 1918 bei der Staatsgründung, 1939, als Hitler einmarschierte, 1968, als die Sowjetarmee die Reformbewegung des Prager Frühlings mit Panzern niederwalzte, und 1989, als die Samtene Revolution mit der politischen Wende die neue Demokratieepoche einleitete.

Bei jedem Ereignis von großer Bedeutung gruppiert sich das tschechische Volk zu Füßen des heiligen Wenzels. Der tschechische Senatspräsident Petr Pithart formulierte es einmal so: »Dieser Magnet, der uns zum Landespatron zieht, befindet sich wahrscheinlich wirklich in den tiefsten Ebenen des tschechischen Staatsgebäudes. Er ist es, der uns verbindet, uns zusammenhält, der uns von Zeit zu Zeit das Gefühl verleiht, dass etwas wie ein WIR existiert.«

Dieses WIR, also das gesamte tschechische Volk, setzt noch eins drauf. Es lässt seit vielen Jahrhunderten seine Nachkommen vielfach auf den Namen Václav taufen. Das ist keine Modeerscheinung, sondern ein historisch-politisches Bekenntnis. Deshalb ist Wenzel – also Václav – der in Tschechien beliebteste und am häufigsten vorkommende Vorname. Ohne diesen jungen Mann geht gar nichts: Wenzel ist Kult, Wenzel ist Kultfigur: Christianisierer, Nationalheiliger, Staatssymbol, Befreier Böhmens, Leitfigur des Landesbewusstseins, Staatsgründer, Wundervollbringer, Reliquie. Wenzel ist der Garant für den Frieden im Land, Wenzel ist Nothelfer. Und er vereint, wie praktisch, alles in einer Person.

Politische Wunder hat er zu Lebzeiten keine vollbracht, dazu war sein Herrschaftsgebiet Böhmen zu eingezwängt von Ungarn, dem Ostfrankenreich und Sachsen, das immer wieder in böhmische Lande einfiel. Möglicherweise beruht der Wenzelmythos auf seinem entsetzlichen Ende, denn er starb wie ein Märtyrer nach einem Fest zu Ehren von St. Kosmas und Damian in der Festung seines Bruders. Man hatte ihn vor Boleslavs Verschwörung gewarnt, er hatte sogar sein Gefolge mitgenommen. Als er am nächsten Morgen allein den Kirchgang antreten wollte und seine Beschützer ihren Rausch ausschliefen, schlugen sein Bruder und dessen Männer zu. Václav wollte noch in die Kirche fliehen, doch ein Priester, der zu Boleslavs Gefolge zählte, verschloss die Tür. So wurde Wenzel auf den Kirchenstufen getötet. Sein Ende bleibt als Opfertod im kollektiven Gedächtnis – und man betet:

»Heiliger Wenzel,

Herzog des böhmischen Landes,

unser Fürst,

bitte für uns zu Gott,

den Heiligen Geist. (…)

Wir ersuchen Deine Hilfe,

erbarme Dich unser; tröste die Traurigen,

zernichte alles Böse.«

Kaiser Karl IV. schuf mit der böhmischen Königskrone ein Zeichen ewigen Angedenkens an Václav.

In Böhmen, Mähren und Schlesien gibt es über 330 Gotteshäuser, die dem heiligen Wenzel von Böhmen geweiht sind – allein drei der St.-Wenzel-Kirchen stehen in Prag. Kostel svatého Václava na Zderaze (St. Wenzel am Zderaz) liegt am südlichen Stadtrand. Im spätgotischen Gewölbe sind Legendendarstellungen der Wenzelgeschichte zu sehen. Noch bekannter ist die Wenzelskapelle im Prager Chrám sv.Víta (St.-Veits-Dom) ( ? B 3), in dem sich das Grab mit den sterblichen Überresten von Václav befindet. Der Kopf der goldenen Reliquienbüste trägt die unsterbliche Krone. Vermutlich war es der deutsche Bildhauer und Baumeister Heinrich Parler der Ältere, der im 14. Jahrhundert die Statue des heiligen Wenzels für die Nachwelt schuf.

Über der eigentlichen Kapelle sind streng gesichert die Kronjuwelen untergebracht, seit 1791 siebenfach durch sieben Schlösser gesichert. Räuber müssten demnach die passenden Schlüssel bei sieben Personen und an sieben verschiedenen Stellen erbeuten. Der Schatz wird nur selten der Öffentlichkeit gezeigt: die St. Wenzelskrone, das Zepter und der Apfel aus dem 16. Jahrhundert, der Krönungsmantel sowie die dazugehörigen originalen Schatullen und Kissen.

Einmal im Jahr feiern die Tschechen ihren Nationalheiligen mit einem staatlichen Feiertag, aber das wäre zu wenig. Festliche Musik mit Werken von christlichen und jüdischen Komponisten und Künstlern aus dem In- und Ausland erklingt beim jährlichen Wenzel-Festival. Jaroslav Elias, Vorsitzender der Gesellschaft für die geistliche Musik: »Historisch gesehen – und das war für den Grundgedanken unserer Festtage ausschlaggebend – stellte der Heilige Wenzel einen Herrschertypus dar, der gegenüber allen Gläubigen in Böhmen und Mähren tolerant aufgetreten ist – seien es Christen oder Juden.« Die Schauplätze der Konzerte sind prominent: der St.-Veits-Dom, der Wladislaw-Saal der Prager Burg 28 ( ? A/B 3), die jüdische Synagoge im Prager Stadtviertel Palmovka oder die Teynkirche am Altstädter Ring. Übrigens steht auch auf der Karlsbrücke 20 ( ? D/E 4) eine heilige Statue von Großmutter Ludmilla und ihrem Enkel Wenzel.

WEM GEHÖRT DER DOM ZU PRAG?

Die Streitigkeiten um die Vorherrschaft zwischen Kirche und Staat reichen bis in unser...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Tourismus und Reiseführer

Radwandern: Der Jakobsweg

E-Book Radwandern: Der Jakobsweg
Von Pamplona nach Santiago de Compostela Format: PDF

Radwandern auf dem historischen Jakobsweg Der handliche Radwanderführer liefert Ihnen: - 14 Etappenbeschreibungen - Beschreibung von knapp 800km auf dem Original-Pilgerweg, dem "Camino…

Radwandern: Der Jakobsweg

E-Book Radwandern: Der Jakobsweg
Von Pamplona nach Santiago de Compostela Format: PDF

Radwandern auf dem historischen Jakobsweg Der handliche Radwanderführer liefert Ihnen: - 14 Etappenbeschreibungen - Beschreibung von knapp 800km auf dem Original-Pilgerweg, dem "Camino…

Deutschland, eine Reise

E-Book Deutschland, eine Reise
Format: ePUB

Wolfgang Büscher ist einmal um Deutschland herum gereist. Drei Monate war er unterwegs, zu Fuß, per Bus, per Anhalter oder auch mit dem Schiff. Er hat ein Land gesehen, das unendlich viel…

Vino, Verdi, dolce vita

E-Book Vino, Verdi, dolce vita
Warum wir Italien so lieben Format: ePUB

Prada oder Birkenstock, Adria oder Baggersee, Pizza oder Bratwurst - wenn es um »la dolce vita« geht, ist Italien einfach unschlagbar. Nicht umsonst ist es unser liebstes Reiseziel: In Scharen…

Vino, Verdi, dolce vita

E-Book Vino, Verdi, dolce vita
Warum wir Italien so lieben Format: ePUB

Prada oder Birkenstock, Adria oder Baggersee, Pizza oder Bratwurst - wenn es um »la dolce vita« geht, ist Italien einfach unschlagbar. Nicht umsonst ist es unser liebstes Reiseziel: In Scharen…

Berlin - Moskau

E-Book Berlin - Moskau
Eine Reise zu Fuß Format: ePUB

Wolfgang Büscher ist zu Fuß von Berlin nach Moskau gelaufen. Allein. An die drei Monate dauerte die Wanderung. Im Hochsommer hat er die Oder überquert, an der russischen Grenze die Herbststürme…

Berlin - Moskau

E-Book Berlin - Moskau
Eine Reise zu Fuß Format: ePUB

Wolfgang Büscher ist zu Fuß von Berlin nach Moskau gelaufen. Allein. An die drei Monate dauerte die Wanderung. Im Hochsommer hat er die Oder überquert, an der russischen Grenze die Herbststürme…

Gebrauchsanweisung für Istanbul

E-Book Gebrauchsanweisung für Istanbul
8. aktualisierte Auflage 2015 Format: ePUB

Seit vier Jahren lebt Kai Strittmatter am Bosporus, und noch immer schlägt sein Herz schneller, sobald die Fähre sich der Anlegestelle nähert. Möwen im Schlepptau; Matrosen, die an Bord…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Berufsstart Bewerbung

Berufsstart Bewerbung

»Berufsstart Bewerbung« erscheint jährlich zum Wintersemester im November mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

cards Karten cartes

cards Karten cartes

Die führende Zeitschrift für Zahlungsverkehr und Payments – international und branchenübergreifend, erscheint seit 1990 monatlich (viermal als Fachmagazin, achtmal als ...

crescendo

crescendo

Die Zeitschrift für Blas- und Spielleutemusik in NRW - Informationen aus dem Volksmusikerbund NRW - Berichte aus 23 Kreisverbänden mit über 1000 Blasorchestern, Spielmanns- und Fanfarenzügen - ...

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS ist seit mehr als 25 Jahren die Fachzeitschrift für den IT-Markt Sie liefert 2-wöchentlich fundiert recherchierte Themen, praxisbezogene Fallstudien, aktuelle Hintergrundberichte aus ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...

Evangelische Theologie

Evangelische Theologie

Über »Evangelische Theologie« In interdisziplinären Themenheften gibt die Evangelische Theologie entscheidende Impulse, die komplexe Einheit der Theologie wahrzunehmen. Neben den Themenheften ...