WENZEL VON BÖHMEN
ca. 908–ca. 929
Er ist alles in einer Person: Christianisierer, Befreier Böhmens, Namensstifter, Staatsgründer, Nationalheiliger. In Krisenzeiten versammelte sich das tschechische Volk und rief ihn an.
Es war einmal, so fangen alle Märchen und Geschichten über alte Städte an. Also, es waren einmal zwei Brüder. »Was ist über dich gekommen?«, soll Wenzel (Václav) von Böhmen Boleslav I.gefragt haben. Das brüderliche Schwert tötete den Fürsten am 28. September 929; er wurde zum Nationalheiligen. Es wenzelt und václavt überall in Tschechien. Ob der Brudermord 929 oder 935 geschah, darüber streiten die Historiker bis heute. Eines ist sicher: Wenzels Leib wurde vor der Kirche des heiligen Kosmas und Damian in Stará Boleslava (Alt-Bunzlau) von einem Schwert durchbohrt. Das Volk erzählt sich die Geschichte gottesfürchtig: »Da ließ Wenzel seine Seele fahren und sprach: ›In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.‹«
Historiker können über das Mordmotiv des Täters nur rätseln. War es die tief verwurzelte christliche Religiosität Wenzels, die ihn von den profanen Regierungsgeschäften abgelenkt hat, und musste er deshalb sterben? Steckten hinter dem feigen Anschlag finstere Auftraggeber aus dem Deutschen Reich? Hatte Boleslav den Brudermord als nationale Großtat geplant, weil der die immensen Geldzahlungen an die Deutschen verhindern wollte? Oder ging es schlicht und ergreifend um die ewig währende Machtfrage und die daraus folgende Nachfolgeregelung im Fürstengeschlecht der P?emysliden, die seit dem Ende des 9. Jahrhunderts bis 1306 als Herzöge von Böhmen und lokale Fürsten einige Landesteile des heutigen Tschechiens regierten?
Achtung Verwechslungsfahr! In Böhmen saßen so viele Václavs, also Wenzels, auf dem Thron, dass Beobachter in der Genealogie leicht ins falsche Jahrhundert geraten können. In unserem Fall handelt es sich um Herzog Wenzel, einen gütigen Regenten, der, so heißt es, die Galgen abgeschafft haben soll. Er war sozial eingestellt und auch im Strafvollzug zum Äußersten bereit, nämlich einmal Eingekerkerte auch wieder auf freien Fuß zu setzen. Auch die Cihristianisierung Böhmens darf er sich auf die Fahne schreiben.
Svatý Václav, der heilige Wenzel, wurde um 908 geboren. Seine Großmutter, die ebenso heiliggesprochene Ludmilla, sorgte für seine christliche Erziehung, wie eine alte Schrift berichtet: »Und Gott legte solche Gnade auf den Fürsten Venceslav, dass er begann, lateinische Bücher zu verstehen wie ein guter Bischof oder Priester, und wenn er ein griechisches oder slavisches Buch aus der Hand legte, so rezitierte er es aus dem Gedächtnis ohne Mühe.«
Widerständig war der überwiegend heidnische Adel damals, als der 13-jährige Václav nach dem frühen Tod seines Vaters Vratislav I. zum Fürsten ernannt wurde. Es regierte jedoch seine Mutter Drahomíra, eine ebenso entschlossene wie rücksichtslose Frau, die sogar Wenzels Großmutter – und ihre Schwiegermutter – Ludmilla ermorden ließ, um die Erziehungsgewalt über den Jungen an sich zu reißen. Sie soll auch später gegen den Sohn opponiert haben. Hatte sie auch ihren zweiten Sohn Boleslav zum Kampf gegen seinen Bruder aufgestachelt?
Trotz aller Querelen des Adels und mit seiner Familie wurde der reformfreudige Wenzel 921 Herzog von Böhmen. Der nach ihm benannte Václavské nám?stí (Wenzelsplatz) 36 ( ? J 7) liegt mitten in Prag. Dort steht auch seine monumentale Statue. Das Denkmal wurde 1912 von Josef Václav Myslbeck errichtet und zeigt einen Wenzel mit Lanze auf einem Bronzepferd.
DER WENZELMYTHOS HÄLT BIS HEUTE
Die Menschen in Tschechien versammeln sich immer dann um ihren Nationalheiligen, wenn sie hilfsbedürftig sind. Meist geht es dann ums Ganze: 1918 bei der Staatsgründung, 1939, als Hitler einmarschierte, 1968, als die Sowjetarmee die Reformbewegung des Prager Frühlings mit Panzern niederwalzte, und 1989, als die Samtene Revolution mit der politischen Wende die neue Demokratieepoche einleitete.
Bei jedem Ereignis von großer Bedeutung gruppiert sich das tschechische Volk zu Füßen des heiligen Wenzels. Der tschechische Senatspräsident Petr Pithart formulierte es einmal so: »Dieser Magnet, der uns zum Landespatron zieht, befindet sich wahrscheinlich wirklich in den tiefsten Ebenen des tschechischen Staatsgebäudes. Er ist es, der uns verbindet, uns zusammenhält, der uns von Zeit zu Zeit das Gefühl verleiht, dass etwas wie ein WIR existiert.«
Dieses WIR, also das gesamte tschechische Volk, setzt noch eins drauf. Es lässt seit vielen Jahrhunderten seine Nachkommen vielfach auf den Namen Václav taufen. Das ist keine Modeerscheinung, sondern ein historisch-politisches Bekenntnis. Deshalb ist Wenzel – also Václav – der in Tschechien beliebteste und am häufigsten vorkommende Vorname. Ohne diesen jungen Mann geht gar nichts: Wenzel ist Kult, Wenzel ist Kultfigur: Christianisierer, Nationalheiliger, Staatssymbol, Befreier Böhmens, Leitfigur des Landesbewusstseins, Staatsgründer, Wundervollbringer, Reliquie. Wenzel ist der Garant für den Frieden im Land, Wenzel ist Nothelfer. Und er vereint, wie praktisch, alles in einer Person.
Politische Wunder hat er zu Lebzeiten keine vollbracht, dazu war sein Herrschaftsgebiet Böhmen zu eingezwängt von Ungarn, dem Ostfrankenreich und Sachsen, das immer wieder in böhmische Lande einfiel. Möglicherweise beruht der Wenzelmythos auf seinem entsetzlichen Ende, denn er starb wie ein Märtyrer nach einem Fest zu Ehren von St. Kosmas und Damian in der Festung seines Bruders. Man hatte ihn vor Boleslavs Verschwörung gewarnt, er hatte sogar sein Gefolge mitgenommen. Als er am nächsten Morgen allein den Kirchgang antreten wollte und seine Beschützer ihren Rausch ausschliefen, schlugen sein Bruder und dessen Männer zu. Václav wollte noch in die Kirche fliehen, doch ein Priester, der zu Boleslavs Gefolge zählte, verschloss die Tür. So wurde Wenzel auf den Kirchenstufen getötet. Sein Ende bleibt als Opfertod im kollektiven Gedächtnis – und man betet:
»Heiliger Wenzel,
Herzog des böhmischen Landes,
unser Fürst,
bitte für uns zu Gott,
den Heiligen Geist. (…)
Wir ersuchen Deine Hilfe,
erbarme Dich unser; tröste die Traurigen,
zernichte alles Böse.«
Kaiser Karl IV. schuf mit der böhmischen Königskrone ein Zeichen ewigen Angedenkens an Václav.
In Böhmen, Mähren und Schlesien gibt es über 330 Gotteshäuser, die dem heiligen Wenzel von Böhmen geweiht sind – allein drei der St.-Wenzel-Kirchen stehen in Prag. Kostel svatého Václava na Zderaze (St. Wenzel am Zderaz) liegt am südlichen Stadtrand. Im spätgotischen Gewölbe sind Legendendarstellungen der Wenzelgeschichte zu sehen. Noch bekannter ist die Wenzelskapelle im Prager Chrám sv.Víta (St.-Veits-Dom) ( ? B 3), in dem sich das Grab mit den sterblichen Überresten von Václav befindet. Der Kopf der goldenen Reliquienbüste trägt die unsterbliche Krone. Vermutlich war es der deutsche Bildhauer und Baumeister Heinrich Parler der Ältere, der im 14. Jahrhundert die Statue des heiligen Wenzels für die Nachwelt schuf.
Über der eigentlichen Kapelle sind streng gesichert die Kronjuwelen untergebracht, seit 1791 siebenfach durch sieben Schlösser gesichert. Räuber müssten demnach die passenden Schlüssel bei sieben Personen und an sieben verschiedenen Stellen erbeuten. Der Schatz wird nur selten der Öffentlichkeit gezeigt: die St. Wenzelskrone, das Zepter und der Apfel aus dem 16. Jahrhundert, der Krönungsmantel sowie die dazugehörigen originalen Schatullen und Kissen.
Einmal im Jahr feiern die Tschechen ihren Nationalheiligen mit einem staatlichen Feiertag, aber das wäre zu wenig. Festliche Musik mit Werken von christlichen und jüdischen Komponisten und Künstlern aus dem In- und Ausland erklingt beim jährlichen Wenzel-Festival. Jaroslav Elias, Vorsitzender der Gesellschaft für die geistliche Musik: »Historisch gesehen – und das war für den Grundgedanken unserer Festtage ausschlaggebend – stellte der Heilige Wenzel einen Herrschertypus dar, der gegenüber allen Gläubigen in Böhmen und Mähren tolerant aufgetreten ist – seien es Christen oder Juden.« Die Schauplätze der Konzerte sind prominent: der St.-Veits-Dom, der Wladislaw-Saal der Prager Burg 28 ( ? A/B 3), die jüdische Synagoge im Prager Stadtviertel Palmovka oder die Teynkirche am Altstädter Ring. Übrigens steht auch auf der Karlsbrücke 20 ( ? D/E 4) eine heilige Statue von Großmutter Ludmilla und ihrem Enkel Wenzel.
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