Vorwort
Seit einigen Jahren ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema »Musik im Alter« zu verzeichnen (vgl. u. a. Hartogh & Wickel 2008, Gembris 2008a, Verband deutscher Musikschulen 2008, Tüpker & Wickel 2009). Fachtage, Symposien und Kongresse beschäftigen sich mit diesem Thema; für soziale, pflegende und musikbezogene Berufe werden Fort- und Weiterbildungen ins Leben gerufen und an einigen deutschen Hochschulen ist das Thema bereits Bestandteil von Lehre und Forschung.
Musikschulen und Seniorenakademien, aber auch Alteneinrichtungen werben immer häufiger mit musikalischen Angeboten, die ältere Menschen ansprechen. Das Spektrum ist sehr groß und reicht von niedrigschwelligem Musizieren mit elementaren Instrumenten bis zur künstlerisch anspruchsvollen Kammermusik. Im Fokus stehen zunehmend auch ältere Menschen, die nicht mehr mobil oder durch Krankheiten wie Demenz beeinträchtigt sind.
Die musikalische Praxis im Altenbereich wie auch die gerontologische Forschung lassen erkennen, dass aktives Musizieren im dritten und vierten Lebensalter nach Berufs- und Familienphase eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ist, die maßgeblich zur Steigerung der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit beiträgt (vgl. Gembris 2008a, S. 22–25; Hartogh 2005, S. 167f.). Im Vordergrund steht immer die aktive Auseinandersetzung mit Musik, die aber unmittelbare Auswirkung auf den Menschen und seine Lebenswelt hat. Diese Transfereffekte können in musikalischen Angeboten gezielt unterstützt und genutzt werden, z. B. zur Beziehungsgestaltung oder Alltagsstrukturierung in der Betreuung und Pflege, zum Erhalt der Identität dementiell erkrankter Menschen oder zur Initiierung und Intensivierung sozialer Kontakte.
Um dem wachsenden Bedarf nach musikalischer Bildung im Alter professionell nachzukommen, hat sich die Musikgeragogik als eine Fachdisziplin herausgebildet, die sich mit musikalischer Bildung im Alter beschäftigt sowie mit musikbezogenen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen, die auf die musikalischen Interessen, Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen älterer Menschen abgestimmt sind. Angesichts der demografischen Entwicklung verweist der Deutsche Musikrat in seiner Wiesbadener Erklärung (2007) auf die notwendige qualifizierte musikgeragogische Aus- und Weiterbildung und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es bundesweit trotz der positiven Entwicklungen noch durchgängig an musikalischen Angeboten fehlt, die sich gezielt an ältere Menschen wenden. Dieses Handbuch will angesichts dieser Situation Abhilfe schaffen: Erfahrene Praktiker und Praxisforscher geben in ihren Beiträgen Einblick in musikalische Angebote, Projekte und Initiativen aus unterschiedlichen Perspektiven und Arbeitsfeldern der Musikgeragogik, die den Leser zum Nachahmen und zum Weiterentwickeln eigener Ideen und Projekte inspirieren sollen.
Im Kapitel »Instrumentalunterricht« (I.1) zeigt Claudia Spahn aus Sicht der Musikermedizin grundlegend auf, welche Voraussetzungen für das Musizieren im Alter bestehen, wie mit Einschränkungen umzugehen ist und welche gesundheitsfördernden Wirkungen vom aktiven Musizieren zu erwarten sind. Elisabeth Krefft-Behrsing stellt das Tenor als ideales (Wieder-)Einstiegsinstrument für Musikliebhaber der Generation 55+ vor. Von Forschungsprojekten, die methodische Fragen und Transfereffekte des Instrumentalunterrichts mit dementiell erkrankten Menschen untersuchen, berichten Sibylle Hoedt-Schmidt (Veeh-Harfe) und Eva-Maria Kehrer (Klavier).
Kapitel I.2 legt den Fokus auf die Einzelarbeit mit Senioren1 in Alteneinrichtungen. In diesem Bereich sind mobile Angebote wie der von Ursula Christopeit-Mäckmann vorgestellte Klangwagen oder die situative individuelle Zuwendung beim musikalischen Tischbesuch, mit dem Annekathrin Raue Praxiserfahrungen gesammelt hat, sowie die von Sabine Korn-Luick an Stundenbildern aufgezeigte Integration von Musik in die Biografiearbeit hilfreiche und pflegeunterstützende Betreuungsformen.
Beispiele für das Gruppenmusizieren in Musikschulen, Musikhochschulen, Akademien, Chören und Orchestern präsentieren die Beiträge in Kapitel II.1. Barbara Metzger nähert sich diesem Themenfeld am Beispiel eines Kooperationsprojekts der Musikhochschule Würzburg mit Alteneinrichtungen der Stadt; Christine Schönherr stellt ein Kooperationsprojekt des Orff-Instituts am Mozarteum Salzburg vor, dessen Schwerpunkt im Bereich von Bewegung und Tanz liegt. In beiden Projekten erwerben Studierende grundlegende Kompetenzen für das Gruppenmusizieren mit älteren Menschen. Ein Musikvermittlungsprojekt mit Konzerteinführungen in Studentenvorspiele an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover hat Martin Stegemeier erfolgreich durchgeführt. Mit einem vielfältigen Seminar- und Tagungsangebot hat sich im Kulturleben der Stadt Hamburg die Musikakademie für Senioren fest etabliert, deren Konzept der Gründer und Leiter Ernst-Ulrich von Kameke in einem Beitrag selbst erläutert.
Chöre und Orchester sind attraktive Ensembles für Senioren, die mit Gleichgesinnten anspruchsvoll musizieren möchten. Worauf Chorleiter besonders zu achten haben, die mit älteren Stimmen arbeiten, erläutert Dieter Leibold. Verschiedene Institutionen waren beteiligt beim Modellprojekt »Polyphonie – Stimmen der kulturellen Vielfalt« der europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Almuth Fricke gibt einen Einblick, wie ältere Migranten unter dem Motto »Grenzenlos singen« aktiv beteiligt wurden. In Dresden hat Simone Urbank mit orientierten und dementiell erkrankten Senioren ein biografisch ausgerichtetes Singprojekt mit Liedern der DDR durchgeführt.
Stefan Bischoff stellt die Ergebnisse einer aktuellen Befragung von Laienorchestern in Deutschland vor; Schwerpunkte des Interesses sind neben Herausforderungen und Strategien vor dem Hintergrund des demografischen Wandels vor allem die Erfahrungen mit instrumentalen Wieder- und Neueinsteigern.
Die Beiträge in Kapitel II.2 liefern vielfältige Einblicke in das Musizieren in Alteneinrichtungen. Heidrun Harms gibt einen Überblick über mögliche Aktivitäten und erläutert didaktisch-methodische Prinzipien. Innovative Zugangsweisen zeigt Helmut Schnieders am Beispiel der Instrumente Veeh-Harfe und Boomwhackers sowie des Drum Circles auf; Insuk Lee und Iris Winkler finden einen Weg, mit Bewohnern eines Altenheims eine Opernszene zu spielen. Angesichts der Pluralisierung musikalischer Lebenswelten und einer »neuen« Altengeneration, die der 6. Altenbericht (2010) mit Verweis auf Rockmusiker wie Udo Lindenberg, Tina Turner und den Rolling Stones »kultur-avantgardistisch« geprägt sieht, halten Angebote aus der Popularmusik Einzug in Alteneinrichtungen, die hier exemplarisch von René Weicherding in einem Hip-Hop-Projekt veranschaulicht werden. Auf den steigenden Bedarf mobiler Angebote für Alteneinrichtungen reagiert das Unternehmen »Musik auf Rädern«, das Mitbegründerin Barbara Keller vorstellt.
Musik verbindet Generationen; diese These bestätigen Projekte in Kapitel III aus unterschiedlichen Perspektiven. Susanne Filler stellt ein offenes Musizierangebot vor, in dem Kinder einer Musikschule zusammen mit Bewohnern eines Altenheims musizieren. Mit den Beiträgen von Christian Werner und Angelika Jekic konnten zwei intergenerative Kooperationsprojekte (»Triangel-Partnerschaften«: Schule – Altenheim und »Unter 7 über 70«: Musikschule – Altenheim) aufgenommen werden, die vom Deutschen Musikrat für herausragendes Engagement im Bereich generationenübergreifenden Arbeitens ausgezeichnet wurden. Albrecht von Blanckenburg zeigt in seinem Beitrag die zahlreichen kreativen Beteiligungsmöglichkeiten für junge und alte Mitspieler in intergenerativen Musicalprojekten im Eilenriedestift Hannover auf.
Kapitel IV beschäftigt sich abschließend exemplarisch mit zukunftsweisenden Entwicklungen in der Musikgeragogik. Förderliche institutionelle Strukturen für das Musizieren stellt Rainer Jakobi am Beispiel des Kursana Domizils in Gütersloh vor, Ernst Stammeier skizziert vor dem Hintergrund seiner eigenen Berufsbiografie die Etablierung des neuen Berufsbilds »Musikgeragoge«, und im letzten Beitrag berichtet Bernhard König, der für alte Stimmen komponiert, von seiner Arbeit mit dem von ihm gegründeten Kölner Experimentalchor, dessen Mitglieder 70 Jahre und älter sind.
In dieser Publikation konzentrieren sich alle Beiträge auf die Projekt-organisation und -durchführung. Wir verzichten aufgrund des begrenzten Platzes weitgehend auf den Abdruck von Noten und Spielanleitungen, diesbezüglich verweisen wir auf die weiterführenden Literaturempfehlungen am Ende der Beiträge von Filler, Hoedt-Schmidt, Leibold, Schnieders und Urbank sowie auf die einschlägigen Praxiswerke des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (2006), von Harms (2003 und 2007), Harms & Dreischulte (2007) und Jekic (2009).
Wir danken dem Schott-Verlag, der nach der Veröffentlichung des Grundlagenwerks »Musizieren im Alter« (2008) dieses aktuelle...