1.1 | Aktuelle Entwicklungen des Komplexitätsmanagements |
Für viele Unternehmen steht die Umsatzmaximierung noch immer an oberster Stelle der Zielhierarchie in der Unternehmensführung. Eine Zielsetzung, die es in einem dynamischen Wettbewerbsumfeld zu erreichen gilt, das sich durch ein zunehmendes Maß an Branchendiskontinuitäten, eine fortschreitende Globalisierung und den Verlust an Differenzierungsmöglichkeiten charakterisieren lässt. Darüber hinaus kann in vielen Branchen durch den Eintritt neuer Wettbewerber und die Entstehung von Überkapazitäten eine Zunahme der Wettbewerbsintensität festgestellt werden, die zu einer Verschiebung der Marktmacht auf die Kundenseite, begleitet von einer Verschärfung des Preisdrucks, geführt hat. Begegnet wird dieser Herausforderung mit der Proklamation der Kundenorientierung und -bindung als vielversprechendem Ansatz, sich verringernde Gewinnmargen durch die Intensivierung bestehender Kundenbeziehungen zu kompensieren. Damit einher gehen die Ausweitung der Angebotsvielfalt in Randbereiche der Marktnachfrage und die Steigerung der Innovationsdynamik. Für die Geschäftssysteme der Unternehmen bedeutet dies, einer signifikanten Erhöhung der zeitlichen Abfolge von Produktinnovationen und der simultanen Varianz in den Produkt- und Leistungsspektren sowohl auf der Ebene der absatzfähigen Leistungen als auch auf der darunter liegenden Ebene der Leistungsrealisierung Rechnung zu tragen. Ausgelöst durch das Bestreben, erfolgreiche Produkte in neuen Märkten einzuführen, kann für viele Wirtschaftsbereiche der Trend einer vermehrt internationalen Ausrichtung der Unternehmensstrukturen – sowohl auf der Absatz- als auch auf der Einkaufsseite – identifiziert werden. 1 Unweigerlich führt diese Form der expansiven Unternehmenspolitik jedoch zu einer Konfrontation mit neuen Kundenanforderungen, da nur in den wenigsten Fällen davon ausgegangen werden kann, dass der Spezifität der zu besetzenden Märkte durch die bereits bestehenden Produkte und Vertriebskanäle vollumfänglich entsprochen werden kann. Durch die Auseinandersetzung mit hochdifferenzierten und vielfältigen Marktanforderungen wird die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen in zunehmendem Maße mit Unsicherheit behaftet: Welche Marktsegmente versprechen Wachstum, auf welche Kundengruppen sollte sich das Unternehmen konzentrieren, mit welchen Innovationen der Wettbewerber muss sich das Unternehmen auseinandersetzen?
Die Erweiterung der Kundenbasis und die Zunahme der Leistungsvarianz führen in vielen Unternehmen – häufig unerkannt oder unterbewertet – zu einem Anstieg der Komplexität in allen Geschäftsprozessen. 2 Manifest dieser Komplexitätszunahme ist ein Kostenanstieg, vor allem in den indirekten Bereichen, der vielfach nicht erkannt und bei der Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle unzureichend berücksichtigt wird. Erhöht wird die Bedeutung einer ganzheitlichen und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Fragen des strategischen Komplexitätsmanagements durch die Interdependenz von Einzelentscheidungen 3: Passt die Verlagerung von Fertigungs-Know-how zu der forcierten Erweiterung des Produktsortiments? Kann einer Margenerosion durch die Fokussierung auf Kernprodukte begegnet werden? Mit der Beantwortung dieser Fragen wird die bewusste Gestaltung und Beherrschung von Komplexität in zukünftigen Geschäftsmodellen zur Kernaufgabe des Managements und zum größten Stellhebel für die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der europäischen Industrie. Komplexität wird damit zunehmend zur Chefsache. 4
Anderl et al. stellen daher auch fest, dass die Anforderungen an die heutige und die zukünftige Produktentstehung zunehmend steigen. So identifizieren sie vielfältige Einflussfaktoren wie zum Beispiel das Beziehungsgeflecht zwischen Herstellern, ihren Lieferanten und Kunden, die zunehmende Globalisierung, Time-to-Market, Produkthaftung, aber auch immer wieder neue Produktinnovationen sowie eine steigende Komplexität von Produkten und Prozessen. Als Komplexitätstreiber werden in diesem Zusammenhang beispielsweise Funktionserweiterungen an Produkten, Varianten, Systemintegrationen, globale und lokale Prozesse und Ressourcen, Supply Chains etc. genannt. 5 Die vom Markt geforderte Produkt- und Prozesskomplexität muss so beantwortet werden, dass zugleich die innere Komplexität reduziert wird, bspw. durch variantengerechte Produktgestaltung oder Verlagerung der Varianz auf Software. 6
Die Ursachen einer überzogenen Geschäftskomplexität können in den meisten Fällen im Unternehmen nicht lokalisiert werden, vielmehr ist es gerade das oftmals mangelhaft koordinierte Zusammenspiel der verschiedenen Unternehmensbereiche und Entscheidungsträger, das zu einem unkontrollierten Anstieg der Produktvarianten während des gesamten Lebenszyklus und damit einhergehend zu schwer zu beherrschenden Unternehmensprozessen führt. Der Verkauf – vielfach getrieben durch eine ausschließlich am Umsatz bemessene Provision – verlangt nach neuen Produkten oder Dienstleistungen, damit verloren gegangene Marktanteile zurückgewonnen und strategisch bedeutsame Kunden gebunden werden können. In Forschung und Entwicklung werden innovative technologische Möglichkeiten oder Kostensenkungsziele dazu verwendet, die Entstehung zusätzlicher Unternehmensleistungen zu rechtfertigen oder auf Baugruppenebene eine erhöhte Vielfalt in Kauf zu nehmen. Die Unternehmensleitung hingegen tut sich schwer, die im Zuge der Firmenakquisition übernommenen Produktlinien des einstigen Konkurrenten auf ihre Überschneidungen mit dem bestehenden eigenen Leistungsprogramm zu überprüfen und weitreichende Beschränkungen des Leistungsspektrums zu verantworten. Die erste Herausforderung des Komplexitätsmanagements besteht somit darin, die Entscheidungsträger im Unternehmen abteilungsübergreifend zu einer einheitlichen Vorgehensweise anzuhalten.
Dem Kunden ein umfangreiches Produktsortiment anbieten zu können oder aber auf Kundenwünsche durch Bauoptionen und maßgeschneiderte Dienstleistungspakete reagieren zu können, birgt ohne jeden Zweifel Vorteile. Aber auch Grenzen sind zu erkennen. Zum einen sind sie in der Intransparenz des Produktsortiments begründet, die durch die Varianz hervorgerufen werden kann, wenn Überschneidungen zu starken Kannibalisierungseffekten führen oder aber Leistungsmerkmale einer Maschine nicht mehr vermittelt werden können. Zum anderen verursacht ein umfangreiches Produktsortiment Abstimmungsaufwand: Über welchen Vertriebskanal soll ein Produkt verkauft und vermarktet werden? Wie beeinflussen Ausstattungsoptionen die Profitabilität einzelner Produkte und damit die Preisfindung? Oder aber wie umfangreich sind die Anpassungen der Stücklisten, die im Auftragsfall notwendig werden?
Die Herausforderung des Komplexitätsmanagements ist es darüber hinaus, den Bereich der optimalen Leistungsvarianz zu erkennen und für dessen Einhaltung zu sorgen. Neben der Ausrichtung des Unternehmens an der Schnittstelle zwischen Marktanforderungen und Leistungsprogramm verbleibt eine weitere Aufgabe des Komplexitätsmanagements in der Optimierung des internen Wertstromdesigns und dem Finden einer optimalen Struktur (vgl. Bild 1.1). Zielrichtung ist es dabei, nicht-wertschöpfende Komplexität zu vermeiden und nur in den Bereichen das Leistungsangebot zu erhöhen, in denen Kunden bereit sind, die vollen Kosten für die Varianz zu bezahlen. Komplexitätsmanagement ist eine Querschnittsfunktion, die auf strategisch bedeutsame Fragestellungen in Bezug auf die externe und interne Leistungsvarianz Antworten zu geben versucht und die bislang in vielen Unternehmen stiefmütterlich behandelt wird.
Bild 1.1 Ausrichtung und Beherrschung von Leistungsvarianz
Neben der Zunahme der Produkt- und Variantenvielfalt aus marktseitigen Gründen und aus internen Optimierungsgründen resultiert der deutliche Anstieg der Produktkomplexität aktuell auch aus der ständigen Zunahme elektronischer Komponenten und der zugehörigen „Embedded Software“ (Mechatronik). 7 Im Kontext cyber-physischer Systeme wird die Software in den kommenden Jahren zum einen eine Vielzahl von weiteren Funktionen ermöglichen (Steigerung der Funktionskomplexität der Produkte), zum anderen aber auch Varianz aus der Hardware in den Software-Bereich verschieben (Verringerung der Entwicklungs- und Fertigungskomplexität). 8 Daher ist auch das Komplexitätsmanagement zunehmend vor diesem Hintergrund zu betrachten. 9
Produktvarianten werden immer häufiger nicht nur physisch geschaffen, sondern auch durch die Vernetzung und Kommunikation der Produkte und Prozesse untereinander sowie unter Verwendung verschiedenster Netzwerke und Plattformen. 10 Eine derartige Erweiterung physischer Systeme wird als cyber-physisches System (CPS) bezeichnet. Cyber-physische Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie reale Objekte und Prozesse mit informationsverarbeitenden Objekten und Prozessen über Informationsnetze...