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Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern

Ein praxisorientiertes Lehrbuch

AutorAlexander von Gontard
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl295 Seiten
ISBN9783170316737
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,99 EUR
Psychological disturbances are just as frequent among small children as they are in older children, but they are often not adequately recognized and treated. The aim of this textbook is to provide a comprehensive, well-founded and practically relevant overview of the variety of psychological disturbances that may arise between birth and the start of school. The textbook is based on interdisciplinary guidelines, new classification systems, current research results and the author=s many years of practical experience. Each disturbance is presented in detail, with specific recommendations for diagnosis and treatment.

Prof. Alexander von Gontard is Director of the Department of Paediatric and Adolescent Psychology, Psychosomatics and Psychotherapy at Saarland University Hospital (Homburg), and is a specialist in paediatric and adolescent psychiatry, paediatrics and psychotherapeutic medicine.

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Leseprobe

Einleitung


 

 

Das Säuglings- und Kleinkind- und Vorschulalter, d. h. das Alter von der Geburt bis zur Einschulung, ist durch eine rasche Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Im deutschen Sprachbereich wird traditionell unterschieden zwischen dem Neugeborenenalter (1.–4. Woche), dem Säuglingsalter (1.–12. Monat) und der entwicklungspsychologisch langen Altersspanne des Kleinkindalters (ab dem 2. Lebensjahr). Der Begriff Vorschulalter ist im Deutschen wenig gebräuchlich.

Im angelsächsischen Bereich wird eine andere Einteilung vorgenommen, die entwicklungspsychologisch sehr viel sinnvoller ist, wobei die Altersangaben sich bei verschiedenen Autoren unterscheiden können. Als »Infants« werden junge Kinder im Alter von ca. 0–18 Monaten bezeichnet. Der lateinische Wortstamm »Infans« bedeutet »noch nicht redend«, »stumm«, d. h. »Infancy« bezeichnet das Alter vor dem Spracherwerb. »Toddlers« sind Kleinkinder im Alter von ca. 18 Monaten bis 3 Jahren. »To toddle« bedeutet »mit kleinen, unsicheren Schritten laufen«, was dem typischen Gangbild dieses Alters entspricht. Schließlich bezeichnet der Begriff »Preschoolers« ältere Kleinkinder im Alter von ca. 4–5 Jahren. Der Name deutet an, dass es sich um Kinder vor der Einschulung handelt, bei denen typischerweise gerade die kognitive Entwicklung enorme Sprünge macht.

Da in jedem Altersabschnitt auch typische entwicklungspsychopathologische Auffälligkeiten auftreten können, sind in den letzten Jahren spezielle Handbücher zu diesen drei Altersabschnitten erschienen. Zu erwähnen sind dabei besonders das »Handbook of Infant Mental Health« von Zeanah (3. Auflage 2012), das sich besonders dem ersten Altersabschnitt der »Infancy« widmet. Das »Handbook of Infant, Toddler, and Preschool Mental Health Assessment« von Del Carmen, Wiggins und Carter (2004) widmet sich ausschließlich und detailliert diagnostischen Fragestellungen. Das Vorschulalter ist der Hauptfokus von »Behavior Problems in Preschool Children« von Campbell (2004) und dem hervorragenden Handbuch von Luby (2006): »Handbook of Preschool Mental Health«, das 2017 in einer zweiten Auflage erschienen ist. Im deutschen Sprachbereich sind in den letzten Jahren zunehmend Bücher über psychische Störungen bei jungen Kindern erschienen, wenn auch nicht, wie im angelsächsischen Bereich, gestaffelt nach Entwicklungsabschnitten.

Mehrere epidemiologische Studien konnten zeigen, dass psychische Störungen im frühen Kindesalter mindestens genauso häufig wie in späteren Lebensphasen sind. Wie von Egger und Angold (2006a) zusammengefasst, zeigen ca. 14–26% aller Kleinkinder klinisch relevante psychische Störungen. Dennoch werden Auffälligkeiten dieses Lebensalters häufig übersehen, nicht adäquat diagnostiziert und als nicht behandlungsbedürftig betrachtet (Alakortes et al. 2017). So werden nur 11–25% der Kleinkinder mit Verhaltensstörungen tatsächlich zur Diagnostik und Therapie vorgestellt (Egger und Angold 2006a, Knapp et al. 2007). In manchen Regionen scheint die Inanspruchnahme noch niedriger zu liegen: So erhielten in einer Studie nur 3% der 4-jährigen Kinder mit einer DSM-IV-Diagnose tatsächlich professionelle Hilfe (Lavigne et al. 2009). Selbst in Norwegen mit einer guten medizinischen Versorgung erhielten nur 10,7% der 5-Jährigen und 25,2% der 7-Jährigen mit einer psychischen Störung professionelle Hilfe (Wichström et al. 2014). In einer Stellungnahme der amerikanischen kinderärztlichen Vereinigung weisen Gleason et al. (2016a) darauf hin, dass gerade wirksame, evidenzbasierte Therapien oft für junge Kinder nicht zur Verfügung stehen und nur eine Minderheit der Kinder diese erhalten.

Dies liegt überwiegend daran, dass die Beschäftigung mit psychischen Störungen bei jungen Kindern – im Vergleich zu älteren Kindern und Jugendlichen – noch ein vernachlässigtes Gebiet darstellt, aber in den letzten Jahren erfreulicherweise eine rasante Entwicklungsdynamik aufweist. Gerade in dem letzten Jahrzehnt ist eine Fülle von Arbeiten publiziert worden. Dabei sind drei Trends besonders begrüßenswert: Während früher Fallberichte oder Arbeiten über selektierte Patientengruppen publiziert wurden, liegen für viele Störungen repräsentative, bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studien vor. Gerade durch den Bezug auf nicht selektierte Gruppen von gesunden, unbetroffenen Kindern konnten viele Annahmen zu Häufigkeit, Schweregrad, Symptomatik und Ätiologie revidiert werden. Der Verlauf der Störungen sowie der intervenierenden Variablen konnten zunehmend erfasst werden, weil manche dieser bevölkerungsbezogenen Studien nicht nur einen Querschnitt, sondern auch einen Langzeitverlauf beinhalteten. Ein weiterer positiver Trend zeigt sich in der Zunahme von qualitativ hochwertigen Therapiestudien, z. B. mit einem randomisiert kontrollierten Design. Dadurch ist es möglich, Therapieempfehlungen auf einer zunehmend besseren Evidenzbasis aussprechen zu können.

Bei der Sichtung der Literatur der letzten Jahre wurde deutlich, dass manche Störungen sehr intensiv erforscht wurden, andere sehr viel weniger. Zu den Störungen mit hoher Forschungsaktivität gehören die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD – Oppositional Defiant Disorder), die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die Schlafstörungen. Die intensive Beschäftigung mit den externalisierenden Störungen (ADHS und ODD) ist wichtig wegen der Tendenz zur Chronifizierung und Persistenz vom Kleinkind-, über das Schul-, Jugend- und sogar das Erwachsenenalter. Über andere genauso wichtige Problembereiche wie die depressiven, Angst-, Ess- und Fütterstörungen liegen sehr viel weniger Publikationen vor. Über die Anpassungsstörungen bei Vorschulkindern fand sich sogar keine einzige spezifische Arbeit. Diese Ungleichverteilung ist mit Sicherheit bedingt durch die Vorlieben und Spezialisierung einzelner Forschungsgruppen sowie durch mögliche Förderschwerpunkte. Es ist zu wünschen, dass die bisher »vernachlässigten« psychische Störungen in Zukunft mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden.

Trotz der unausgewogenen Datenlage hat sich für alle Störungen eine kategoriale Ausrichtung bewährt. Natürlich sind Verhaltenssymptome dimensional verteilt und eine scharfe Abgrenzung zwischen Störung und Normalverhalten sowie von einer Störung zur anderen ist nicht für alle Problembereiche möglich. Dennoch betonen Angold und Costello (2009), dass die bisherigen traditionellen Klassifikationen nach ICD und DSM auch für das Kindesalter in Praxis und Forschung ausgesprochen erfolgreich waren. Mit entsprechenden Modifikationen können sie sinnvoll bis zum Alter von zwei Jahren eingesetzt werden. Für jüngere Kinder unter zwei Jahren sind alternative Klassifikationen wie z. B. das DC: 0–5 notwendig, die jedoch weiter empirisch validiert werden müssen.

Aus diesem Grund wird in diesem Buch dem Plädoyer für eine kategoriale Einteilung von psychischen Störungen bei Vorschulkindern zugestimmt. Einwände, dass emotionale und Verhaltenssymptome in diesem Alter sich dimensional über ein Spektrum verteilen und deshalb nicht klaren Störungsbildern zugeteilt werden können, zeigen sich in Praxis und Forschung nicht (Angold und Egger 2004). Auch dem Einwand, dass eine Unterscheidung zwischen der eigentlichen »kindlichen« Störung und Auffälligkeiten in der Beziehung nicht möglich sei, muss widersprochen werden. Es ist sehr gut möglich, diskrete Störung des Kindes zu identifizieren – während Auffälligkeiten in der Beziehung separat klassifiziert werden können. Wie von Klitzing et al. (2015) es in ihrer fundierten Übersicht zusammenfassten: »Die gebotene Vorsicht bei der psychopathologischen Einschätzung von Symptomen in den ersten Lebensjahren sollte den Diagnostiker nicht daran hindern, Störungen in ihrer Einbettung in das interaktive Beziehungsgeschehen frühzeitig zu erkennen und einer Behandlung zuzuführen«.

Anderseits gilt der Einwand, dass die bisherigen Klassifikationssysteme die Entwicklungsdynamik des Vorschulalters nicht genügend berücksichtigen, tatsächlich. Einzelne Kriterien, wie Dauer einer Störung oder einzelne Symptome, müssen für das junge Alter modifiziert werden. Das Thema der Klassifikation ist von daher zentral für psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern. Wie aus den späteren Kapiteln ersichtlich wird, stehen vier verschiedene Klassifikationssysteme zur...

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