KAPITEL 2
Ätiologische Modelle der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie
2.1 Klassische psychoanalytische Störungsmodelle
Im Folgenden werden klassische und aktuellere Modelle der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie dargestellt, die für den Behandlungsansatz PaKT von zentraler Bedeutung sind. Durch die psychoanalytische Haltung und Technik des Verstehens unbewusster Phänomene kann der Therapeut einen Zugang zu Gefühlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit gewinnen, die sich oft hinter dem manifest aggressiven oder dem stillen und unscheinbaren Verhalten von Kindern mit emotionalen Symptomen verbergen. Diese Konzepte helfen uns, ein therapeutisches Verständnis für hinter dem Symptom liegende Bedeutungen zu gewinnen. Besonders Kinder mit vordergründiger Hyperaktivität oder oppositionellem Verhalten leiden oftmals unter Ängsten und Depressionen, die sie nicht bewältigen können. Erst die psychoanalytische Haltung und Technik erlaubt einen Zugang zu dieser oft nur vorbewussten Ebene affektiven Erlebens.
2.1.1 Die Triebpsychologie Sigmund Freuds
In seiner Lehre von den Instanzen der Persönlichkeitsstruktur, dem sogenannten Strukturmodell, bestehend aus Es, Ich und Über-Ich, wie auch in der Lehre von der psychosexuellen Organisation betont Freud die Bedeutung der frühen Lebensjahre für das Triebschicksal des Menschen. Innerhalb der frühen Interaktion mit den primären Objekten entwickeln sich psychische Strukturen wie das Ich und das Über-Ich, aus welchen heraus sich grundlegende psychische Regulationsmechanismen für die Handhabung von archaischen Es-Impulsen sowie für die Auseinandersetzung mit Anforderungen der Außenwelt entfalten. Frühe Erfahrungen, die im Zuge von Triebansprüchen und Befriedigungsformen der oralen, analen und phallischen Phase gemacht werden, begründen die individuelle Geschichte der libidinösen (Konflikt-) Dynamik. Dies bedeutet, dass Konflikte und Versagungen in dieser frühen Zeit des kindlichen Erlebens dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit mit ihren vorherrschenden Abwehrmechanismen haben.
Die Persönlichkeitstheorie Freuds hat drei zentrale Aspekte: einen dynamischen, der die Frage nach der Entstehung der Triebe, deren Schicksal und Befriedigung umfasst, einen strukturalen, der in dem sogenannten Strukturmodell von Es, Ich und Über-Ich zum Ausdruck kommt, und einen topographischen Aspekt, der zwischen Unbewusstheit, Bewusstheit und Vorbewusstheit einer Vorstellung oder Triebrepräsentanz unterscheidet. Das intrapsychische Leben eines Menschen besteht in der permanenten Vermittlung und Auseinandersetzung zwischen den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich und den topographischen Zuständen (bewusst, vorbewusst, unbewusst) eines psychischen Inhalts wie eines Wunsches oder Vorstellungsinhalts. Gleichzeitig muss der psychische Apparat im Freudschen Modell eine ständige Vermittlungsleistung zwischen psychischer und sozialer Realität erbringen. Im Idealfall sollten sowohl die Bedürfnisse der im Subjekt vorhandenen Triebwelt als auch die Anforderungen der Außenwelt zur Geltung kommen und einem vermittelnden Kompromiss zugeführt werden. Die Tatsache, dass dies nicht immer gelingen kann, ist der Ausgangspunkt für neurotische Entwicklungen.
2.1.1.1 Die psychosexuelle Entwicklung
Eine wichtige Veröffentlichung aus der Frühzeit der Psychoanalyse stellt die Schrift Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) dar. In seiner Triebtheorie geht Freud von der Annahme aus, dass die Triebe den sexuellen Wünschen und Phantasien sowohl des Kindes als auch des Erwachsenen zugrunde liegen. Ihre Ausdrucksvielfalt – von der normalen Sexualität bis hin zu den Perversionen – wurde nun Gegenstand weiterer Untersuchungen. In Freuds Triebtheorie gingen seine Überlegung ein, dass die sogenannten perversen Strebungen bei jedem Menschen vorhanden seien. So postuliert er, die Neurose sei »sozusagen das Negativ der Perversion« (S. Freud, 1905, S. 65). In den Drei Abhandlungen verknüpft Freud die bewussten oder unbewussten perversen Strebungen bei Erwachsenen mit der normalen infantilen Sexualität. Freud definierte die Phasen der Sexualentwicklung im Zusammenhang mit jeweils gesteigerten libidinösen Besetzungen verschiedener erogener Körperzonen. Im Zuge der Entwicklung von einem relativ undifferenzierten psychischen Zustand bei der Geburt hin zu einem komplexen und differenziert arbeitenden psychischen Apparat kommt den basalen körperlichen Funktionen immer eine psychische Bedeutung in der Interaktion mit dem Beziehungsobjekt zu.
Orale Phase (1. Lebensjahr): In der oralen Phase, die das gesamte erste Lebensjahr charakterisiert, stellen Mund und Lippen aufgrund ihrer zentralen Rolle bei der Nahrungsaufnahme die hauptsächlichen Quellen der Lustempfindung dar. Die Triebbefriedigung geschieht durch Berühren, Saugen, Kauen, Schlucken, über Trinken, Lutschen und Essen. In diesen oralen Ausdrucksformen gibt es einen aktiven (oral-sadistischen) und einen passiven Modus. Der oral-sadistische aktive Modus setzt erst mit dem Durchbruch der Zähne durchs Zahnfleisch ein, die ein Beißen ermöglichen. Orale Funktionsmodi umfassen nach Freud das Beißen, Einnehmen, Festhalten, Ausspeien und Schließen. In der Tätigkeit des Gestilltwerdens vonseiten der Mutter und des Saugens und Beißens sowie Kauens bieten sich interpersonelle Bedeutungen an, die dieser gemeinsame Akt für Mutter und Kind haben kann. Hier entstehen dann intersubjektive Bedeutungen, durch die die Objektbeziehung organisiert wird. Die frühe libidinöse Beziehung zur Mutter wird beispielsweise durch die Bedeutung des Essens und Gegessenwerdens gekennzeichnet. Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung manifestieren sich dann auf der Ebene der oralen Nahrungsaufnahme (z. B. bei Fütterstörungen). Auch dem Abstillen kommt eine große Bedeutung zu: Erfolgt es zu rasch und abrupt oder wird die Entwöhnung langsam vorbereitet? Die Art und Weise des Umgangs mit den oralen Bedürfnissen (beispielsweise deren exzessive Befriedigung oder Versagung) beeinflusst die Entwicklung von Triebfixierungen. Diese werden von Freud als Niederschlag konflikthafter Ausgestaltung der jeweiligen libidinösen Phase verstanden.
Anale Phase (2. und 3. Lebensjahr): In der Zeit von ca. dem zweiten bis zum vierten Lebensjahr spiegelt sich die libidinöse Vorrangstellung der analen Zone in der Beschäftigung des Kindes mit dem Ausstoßen und Zurückhalten seiner Faeces wider. In dieser libidinösen Phase geht eine Vielzahl von kindlichen Aktivitäten, die Freud als Abkömmlinge der Analerotik erkennt, mit Lustempfindungen einher. Das Kind stellt auf eine mehr oder weniger direkte oder indirekte Art Beziehungen zu seinen Objekten her, die seine Beschäftigung mit und seine Sorge um die Defäkation widerspiegelt. Vorherrschende erogene Zone ist in der analen Phase die Darmausgangszone. So bezieht das Kind etwa Lust aus der Retention der Faeces, wobei die Analschleimhaut eine Reizung erfährt. Freud schreibt hierzu: »Kinder, welche die erogene Reizbarkeit der Afterzone ausnützen, verraten sich dadurch, daß sie die Stuhlmassen zurückhalten, bis dieselben durch ihre Anhäufung heftige Muskelkontraktionen anregen und beim Durchgang durch den After einen starken Reiz auf die Schleimhaut ausüben können« (S. Freud, 1905, S. 87). Die Kontrolle über das Ausscheiden oder Aufhalten der Faeces verschafft dem Kind ein Gefühl der Kontrolle nicht nur über den Darminhalt, sondern auch über die Objekte in seiner Umgebung, deren Teilaspekte eine anale symbolische Bedeutung annehmen (z. B. Faeces = Geschenk). In Freuds Worten: »Er [der Darminhalt] wird offenbar wie ein zugehöriger Körperteil behandelt, stellt das erste ›Geschenk‹ dar, durch dessen Entäußerung die Gefügigkeit, durch dessen Verweigerung der Trotz des kleinen Wesens gegen seine Umgebung ausgedrückt werden kann« (ebd.). Dem elementaren, lustvollen Erlebnis des Ausscheidens stellen sich die Anforderungen der Umwelt entgegen: Diese verlangt einen Aufschub der Ausscheidung bzw. eine Ausscheidung auf Anforderung und auf reinliche Art. Eine unbefriedigende Lösung des Konflikts zwischen Umwelt (Mutter/Eltern/Reinlichkeitsgebot der Gesellschaft) und Kind kann nach Freud zu analen Fixierungen resp. zur Entwicklung eines sogenannten analen Charakters führen. Hierbei kann sowohl der eine Pol des Konflikts als auch der andere eine Überbetonung erhalten: Der Konflikt um das Zurückhalten kann beispielsweise übertriebenen Geiz und Knausrigkeit nach sich ziehen, der Aspekt des Ausscheidens und Schenkens des analen Modus kann sich dann etwa später in Großzügigkeit, Aufopferung und Generosität zeigen. »Vom ›Geschenk‹ aus gewinnt er [der Darminhalt] dann später die Bedeutung des ›Kindes‹, das nach einer der infantilen Sexualtheorien durch Essen erworben und durch den Darm geboren wird« (ebd).
Phallisch-ödipale Phase (3. bis 6. Lebensjahr): In der phallischen Phase – von ungefähr dreieinhalb bis zum Alter von fünf Jahren – beschäftigen sich Jungen und Mädchen intensiv mit ihren Genitalien. Dabei messen sie dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Penis eine besondere Bedeutung bei. Es erfüllt die Jungen mit Sorge, zu bemerken, dass Mädchen und Frauen nicht über einen Penis verfügen. Die Möglichkeit, dass dieses so lustvoll empfundene Organ auch wieder verloren gehen könnte, macht den Jungen Angst (Freud, 1905).
Die ödipale Phase ist ein komplexes Zusammenspiel von Phantasien über den eigenen Körper und den...