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E-Book

Psychodynamische Psychotherapie im Alter

Grundlagen, Störungsbilder und Behandlungsformen

AutorMeinolf Peters, Reinhard Lindner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783170306059
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Psychodynamic psychotherapy in older people has developed into a significant clinical field in recent years. The aim of this book is to combine empirical knowledge and practical experience on the topic. Starting from a discussion of the social, developmental-psychology and physical basis of ageing, the current care situation is considered and a detailed description is given of the most important clinical pictures and their treatment. The aim is to take into account not only the younger group of older people, but also to integrate the very elderly into the psychotherapeutic care network to a greater extent.

Prof. Meinolf Peters, psychological psychotherapist, psychoanalyst; Honorary Professor at the University of Marburg, Managing Director of the Institute for Gerontology. Prof. Reinhard Lindner, specialist in neurology, psychiatry, psychosomatic medicine and psychotherapy; Professor of Theory, Empiricism and Methods of Social Therapy, University of Kassel.

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Leseprobe

 

2          Ältere und Psychotherapie – Zwei Fremde nähern sich an


 

 

 

2.1       Zur Versorgungsrealität – »Treatment gap«


Zahlreiche Erhebungen in den 1990er Jahren und danach haben immer wieder die unzureichende psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen dokumentiert. Der Anteil über 60-Jähriger an den ambulant psychotherapeutisch behandelten Patienten betrug übereinstimmend lediglich 1–2 % (vgl. Heuft, Kruse & Radebold, 2006; Peters, 2006). In der Analyse von 3 200 Kassenanträgen fand Bolk-Weischedel (2002) immerhin einen Anteil von 3,2 % an über 60-Jährigen; allerdings fand sie nur 3 Anträge von über 80-Jährigen. In einer Erhebung zur psychotherapeutischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland fanden Zepf, Mengele, Marx & Hartmann (2001) im Jahre 2001 einen Anteil von zwei Prozent über 65-Jähriger, aber bereits einen Anteil von 11 % 55- bis 64-Jähriger. Damit war zu erkennen, dass zukünftige Kohorten vermutlich eine höhere Inanspruchnahmequote haben werden. Auch die Befragung der Psychotherapeutenkammer Berlin im Jahr 2005 zeigte, dass die überwiegende Zahl der behandelten älteren Patienten zwischen 60 und 69 Jahre alt war. Nur jeder siebte in der Gruppe der älteren Patienten war zwischen 70 und 74 Jahren alt, kaum einer war 80 Jahre und älter. Die Autoren folgern: »Ältere Alte werden von Psychotherapeuten nur in Einzelfällen und Hochbetagte überhaupt nicht erreicht.« (Görgen & Engler, 2005, S. 27).

Hochbetagte, insbesondere bei körperlicher Komorbidität, werden wesentlich häufiger rein psychopharmakologisch und seltener mit Psychotherapie behandelt (Olfson & Marcus, 2009; Mohr et al., 2010; Akincigil et al., 2011; Burnett-Zeigler et al., 2012; Loeb, Ghushchyan, Huebschamnn, Lobo & Byliss, 2012). Dies, obwohl die Studienlage bezüglich der Wirkungen psychotroper Substanzen im hohen Alter unzureichend ist. Die Überbetonung einer Psychopharmakotherapie entbehrt einer empirischenGrundlage.

Zudem konnte nachgewiesen werden, dass Psychiater offenbar die Psychotherapie häufig als Management einer pharmakologischen Behandlung nutzten und die Behandlung deutlich früher, auch vor Abklingen der Symptome beendeten, als dies bei Nicht-Psychiatern der Fall ist (Wei, Sambamoorthi, Olfson, Walkup & Crystal, 2005).

Die Situation in den Psychosomatischen Kliniken unterscheidet sich von der Versorgung im ambulanten Bereich nur wenig. Erhebungen zeigen, dass der Anteil 60–69-Jähriger zwar höher liegt als im ambulanten Bereich, was aber vornehmlich darauf zurückzuführen ist, dass die noch berufstätigen Patienten von der Rentenversicherung zugewiesen werden. Über 70-Jährige werden auch hier nur ausnahmsweise behandelt (Peters, 2018). Psychotherapeutische Angebote in gerontopsychiatrischen Kliniken sind nur schwer zu überblicken, Hirsch stellte noch 1999 fest, dass nur ein Prozent als Psychotherapiepatienten zu bezeichnen seien, was allerdings nicht ausschließt, dass auch bei anderen Patienten Psychotherapie als zusätzliches, aber eben nicht vorrangiges Angebot einbezogen wird. Allerdings hat sich die Situation kaum zum Besseren verändert, wie eine Befragung von Godemann, Seemüller, Schneider & Wolff-Menzler (2015) ergab. Danach ist die Verweildauer älterer depressiver Patienten in Psychiatrischen Kliniken kürzer als die Jüngerer, sie erhalten weniger Psychotherapieeinheiten und werden nur äußerst selten in einem psychotherapeutischen Setting behandelt. Stärker psychotherapeutisch orientiert sind allein die gerontopsychiatrischen Tageskliniken.

Schließlich gibt es im ambulanten Bereich seitens der Ehe- und Lebensberatungsstellen sowie der Beratungsstellen von Pro Familia auch ein Angebot für Ältere, wobei auch dieses in der Vergangenheit nur sehr eingeschränkt wahrgenommen wurde, wie entsprechende Erhebungen zeigen (vgl. Peters, 2006). Psychosoziale oder gar psychotherapeutische Angebote im Bereich der Alten- und Seniorenberatung stellten in der Vergangenheit eine wichtige Ergänzung auch für Höheraltrige dar, der Anteil der psychosozialen Beratung ist durch das Pflegeergänzungsgesetz aber deutlich rückläufig2

Der unzureichenden Inanspruchnahme steht ein erheblicher Behandlungsbedarf gegenüber. Die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Älteren liegt bei etwa 25 %, wobei etwa die Hälfte auf dementielle Veränderungen zurückzuführen ist, die andere Hälfte auf solche psychischen Erkrankungen, die zum Behandlungsspektrum von Psychotherapie gehören (Weyerer & Bickel, 2007). Nimmt man allerdings die sehr große Zahl an subdiagnostischen Störungen hinzu, liegt der Behandlungsbedarf vermutlich noch um einiges höher (Helmchen et al., 1994). Im 6. Altenbericht der Bundesregierung (Altenbericht, 2011) wird dieser auf 10 % geschätzt, was vermutlich eher eine konservative Schätzung darstellt. Auch die neuere Studie von Andreas et al. (2016) kommt auf deutlich höhere Prävalenzzahlen – allein 17 % Älterer mit einer Angststörung –, so dass der Behandlungsbedarf vermutlich höher einzuschätzen ist. Die Versorgung und Behandlung der psychisch kranken älteren Menschen erscheint also weiterhin äußerst problematisch (Stoppe, 2011), der weitaus größte Teil dieser Gruppe wird in einer hausärztlichen Praxis versorgt. Dies gilt besonders für psychisch kranke Ältere mit Multimorbidität und körperlicher Immobilität (Lindner & Sandner, 2015). Die Versorgungssituation war also durch ein treatment gap gekennzeichnet, und es bleibt die Frage, wodurch dieser begründet war, bzw. ist und ob wir heute Veränderungen ausmachen können.

2.2       Einstellungen zur Psychotherapie Älterer – Das Vermeidungsbündnis


Von Freud (2004) ist bekannt, dass er eine äußerst skeptische Haltung gegenüber der psychotherapeutischen Behandlung älterer Patienten einnahm, wobei diese Skepsis einerseits Ausdruck des Zeitgeistes war, andererseits aber auch in seiner persönlichen Angst vor dem Alter begründet lag (Radebold, 1994). Zwar relativierte er später seine negative Haltung (Luft, 2015), seine Skepsis wurde dennoch über Generationen von Psychotherapeuten hinweg bis in die heutige Zeit hinein weitergetragen. Mehrere Erhebungen zeigten, dass Psychotherapeuten in der Vergangenheit eine überwiegend negative Einstellung gegenüber älteren Patienten an den Tag gelegt haben (Ford & Sbordone, 1980). Wolk und Wolk (1971) fanden vor ca. 4 Jahrzehnten sogar eine Rate von 80 %, die die Behandlung Älterer ablehnten. Auch in der israelischen Befragung von Shmotkin, Dyal & Lomranz (1994) gaben nur ca. 15 % an, gern oder sehr gern mit Älteren zu arbeiten. Während die meisten Studien mithilfe von Fragebögen durchgeführt wurden, wählten Ray, McKinney & Ford (1987) einen anderen Weg. Sie formulierten 4 Fallvignetten, die daraufhin beurteilt werden sollten, welche einen idealen Patienten darstellt und wie die Prognose einzuschätzen sei. Lediglich die Altersangaben wurden verändert. Es zeigte sich, dass die älteren Patienten als weniger ideal und die Prognosen als weniger günstig eingeschätzt wurden, lediglich die älteren Psychologen kamen zu einer etwas positiveren Einschätzung. Die tieferen Beweggründe für diese ablehnende Haltung werden später ausführlicher dargelegt ( Kap. 4.1).

Doch auch die älteren Patienten selbst zeigten in der Vergangenheit wenig Bereitschaft, sich in eine psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Studien aus den 1990er Jahren zeigen, dass Ältere eine große Zurückhaltung und Skepsis gegenüber Psychotherapie an den Tag legten. In einer Studie an Patienten, die in einer Psychosomatischen Klinik behandelt wurden, war bei den über 55-Jährigen, erst recht aber bei den über 65-Jährigen eine ablehnende oder doch ambivalente Haltung in der Psychotherapiemotivation stärker ausgeprägt als bei jüngeren Patienten; bei über 65-Jährigen lag der Anteil derer, die eine Psychotherapie ablehnten bei ca. 40 %. (Peters, Lange, & Radebold, 2000). Auch stand bei den Älteren eher ein medizinisch orientiertes Krankheitskonzept im Vordergrund. Die älteren machten im Vergleich zu jüngeren Patienten eher körperliche Ursachen (z. B. Verschleißerscheinungen) für ihre Erkrankung verantwortlich, bzw. einen spezifischen Umgang mit dem eigenen Körper (z. B. zu wenig...

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