1. Kapitel.
Allgemeine Charakteristik der Massen.
Das psychologische Gesetz ihrer seelischen Einheit.
Im gewöhnlichen Wortsinne bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger Nationalität, beliebigem Berufe und Geschlecht und beliebigem Anlasse der Vereinigung.
Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und bloß unter diesen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die wohl transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen (loi de l’unite mentale des foules).
Augenscheinlich ist es nicht der Umstand allein, daß viele Individuen sich zufällig zusammenfinden, wodurch sie die Eigenschaften einer organisierten Masse annehmen. Tausend zufällig auf einem öffentlichen Platze vereinigte Individuen ohne bestimmten Zweck bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne. Zur Erlangung der speziellen Merkmale dieser gehört der Einfluß gewisser Reize, deren Wesen wir zu bestimmen haben.
Das Schwinden der bewußten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, das die ersten Merkmale der sich organisierenden Masse bildet, erfordert nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Individuen an einem einzigen Orte. Tausende getrennte Individuen können in gewissen Momenten unter dem Einflusse gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Merkmale einer psychologischen Masse gewinnen. Es braucht dann nur ein Zufall sie zu vereinigen, damit ihre Handlungen sogleich die spezifischen Merkmale der Massenhandlungen annehmen. In gewissen Momenten kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse konstituieren, während Hunderte zufällig vereinigter Menschen sie nicht konstituieren können. Andererseits kann ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Einfluß gewisser Faktoren zu einer Masse werden.
Hat sich eine psychologische Masse gebildet, so erwirbt sie provisorische, aber bestimmbare allgemeine Merkmale. Diesen gesellen sich besondere Merkmale veränderlicher Art hinzu, je nach den Elementen, aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch welche deren geistige Struktur modifizierbar ist.
Die psychologischen Massen sind also einer Klassifikation zugänglich, und wir werden, wenn wir zu einer solchen gelangen, sehen, daß heterogene, d. h. aus ungleichartigen Elementen zusammengesetzte Massen, mit den homogenen, d. h. aus mehr oder minder ähnlichen Elementen zusammengesetzte Massen (Sekten, Kasten, Klassen) Merkmale gemein haben und außerdem noch Besonderheiten aufweisen, durch die sie sich voneinander unterscheiden lassen.
Bevor wir uns aber mit den verschiedenen Kategorien der Masse befassen, müssen wir zuerst die allen gemeinsamen. Merkmale untersuchen. Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen, der mit der Beschreibung der allgemeinen Merkmale, welche allen Individuen gemein sind, beginnt, bevor er sich mit den besonderen Merkmalen befaßt, welche die Unterscheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermöglichen.
Die genaue .Schilderung der Massenseele ist nicht leicht, weil ihre Organisation nicht bloß je nach Rasse und Zusammensetzung der Gesamtheiten, sondern auch je nach der Natur und dem Grade der Anreize, denen diese Gesamtheiten unterliegen, variiert. Aber dieselbe Schwierigkeit besteht für das psychologische Studium jeglicher Individuen. Nur in Romanen sieht man die Individuen mit einem konstanten Charakter durchs Leben gehen. Die Gleichförmigkeit des Milieu allein schafft die sichtbare Gleichartigkeit der Charaktere. Ich habe anderwärts gezeigt, daß alle geistigen Konstitutionen Charaktermöglichkeiten enthalten, die sich bei einem jähen Wechsel des Milieu offenbaren können. So fanden sich unter den wildesten, grausamsten Konventmitgliedern gutmütige Bürger, die unter normalen Verhältnissen friedliche Notare oder ehrsame Beamte gewesen wären. Nach dem Sturm nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Bürger wieder an. Unter ihnen fand Napoleon seine willigsten Diener.
Da wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren können, werden wir sie besonders in der Phase ihrer vollständigen Organisation ins Auge fassen. Wir werden derart sehen, was sie werden können, nicht, was sie immer sind. Diese fortgeschrittene Organisationsphase allein ist es, in der sich auf dem unveränderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale aufbauen und wo sich die Orientierung aller Gefühle und Gedanken der Gesamtheit nach einer identischen Richtung vollzieht. Hier nun zeigt sich, was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habe.
Es gibt unter den psychischen Merkmalen der Massen solche, welche sie mit isolierten Individuen gemein haben können, während andere wieder für sie durchaus spezifisch und nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind. Die spezifischen Merkmale wollen wir zunächst studieren, um ihre Bedeutung so recht darzutun.
An einer psychologischen Masse ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Individuen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.
Im Widerspruche mit einer Anschauung, die sich befremdlicherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen, wie Herbert Spencer es ist, findet, gibt es in dem eine Masse bildenden Aggregat keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Elemente, sondern eine Kombination und Bildung neuer Elemente, genau so, wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z. B. die Basen und Säuren, bei ihrem Zusammenkommen zur Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind.
Leicht ist die Feststellung des Maßes von Verschiedenheit des einer Masse angehörenden vom isolierten Individuum, weniger leicht ist aber die Entdeckung der Ursachen dieser Verschiedenheit.
Um diese Ursachen wenigstens einigermaßen zu finden, muß man sich zunächst der von der modernen Psychologie gemachten Feststellung erinnern, daß nicht bloß im organischen Leben, sondern auch in den intellektuellen Funktionen die unbewußten Phänomene eine überwiegende Rolle spielen. Das bewußte Geistesleben stellt nur einen recht geringen Teil neben dem unbewußten Seelenleben dar. Die feinste Analyse, die schärfste Beobachtung gelangt nur zu einer kleinen Anzahl bewußter Motive des Seelenlebens. Unsere bewußten Akte leiten sich aus einem, besonders durch Vererbungseinflüsse geschaffenen, unbewußten Substrat her. Dieses enthält die zahllosen Ahnenspuren, aus denen sich die Rassenseele konstituiert. Hinter den eingestandenen Motiven unserer Handlungen gibt es zweifellos die geheimen Gründe, die wir nicht eingestehen, hinter diesen aber liegen noch geheimere, die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer alltäglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener, uns entgehender Motive.
Es sind vornehmlich die der Rassenseele zugrunde liegenden unbewußten Elemente, wodurch sich alle Individuen dieser Rasse ähneln, und sie, die Produkte der Erziehung, noch mehr aber einer außerordentlichen Erblichkeit, sind es auch, wodurch sie sich unterscheiden. Die an Intelligenz unähnlichsten Menschen haben äußerst ähnliche Triebe, Leidenschaften und äefühle. In allem, was Gegenstand des Gefühls ist: Religion, Politik, Moral, Sympathien und Antipathien usw., überragen die ausgezeichnetsten Menschen nur sehr selten das Niveau der gewöhnlichsten Individuen. Zwischen einem großen Mathematiker und seinem Schuster kann intellektuell ein Abgrund klaffen, aber hinsichtlich des Charakters ist der Unterschied sehr oft nichtig oder sehr gering.
Nun sind eben diese allgemeinen Charaktereigenschaften, die vom Unbewußten beherrscht und die der Mehrzahl der normalen Vertreter einer Rasse ziemlich gleichmäßig zukommen, dasjenige, was in den Massen vergemeinschaftlicht wird. In der Kollektivseele verwischen sich die intellektuellen Fähigkeiten und damit auch die Individualität der Individuen. Das Heterogene versinkt im Homogenen, und es überwiegen die unbewußten Qualitäten.
Eben diese Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften ist es, was uns erklärt, warum die Massen niemals Handlungen, zu welchen eine besondere Intelligenz gehört, werden ausführen können. Die Entscheidungen von allgemeinem Interesse, die von einer Versammlung...