Vorwort
»Das Rätsel Schizophrenie« ist 12 Jahre nach Erscheinen des Buches von H. Häfner1, das eine Entschlüsselung der Krankheit versprach, immer noch ungelöst. Und doch wissen wir viele neue Einzelheiten, die die Kenntnisse um Ätiologie und Pathogenese erweitern – unter anderem zeigen sich Zusammenhänge zwischen Lebensgeschichte, sozialem Umfeld und dem Psychoserisiko, die vor zwei Jahrzehnten noch kein so starkes Gewicht im wissenschaftlichen Diskurs besaßen, nachdem vornehmlich den genetischen Befunden das Augenmerk geschenkt worden war. Die Rolle der Familie wurde neu bewertet, da sich zeigte, dass dysfunktionale Kommunikationsmuster mehr die Folge als die Ursache für schizophrene Vulnerabilität darstellten. Eine Entlastung der hochaufgeladenen Familienkontexte war die Folge, da nun die Bezugspersonen zu den emotionalen Belastungen mit ihren kranken Angehörigen nicht auch noch das Schuldgefühl einer individuellen Verursachung zu tragen hatten. Die Rollen der Hormone, insbesondere des Östrogens, als Schutzfaktor wurden wieder relativiert und die Pharmakotherapie vom Nebenwirkungsprofil her verfeinert. Deutlich wirksamere Medikamente konnten leider auch in den letzten Jahrzehnten nicht gefunden werden. Die Langzeitverläufe ließen den Forscher ernüchtert zurück, die sozialen Beeinträchtigungen und affektiv-kognitiven Defizite der anhaltenden Minussymptomatik stellen uns immer noch vor ungelöste Rätsel. Morphologische und funktionelle Befunde mittels neuester bildgebender Techniken zeigen krankheitsassoziierte atrophische Veränderungen der Gehirnsubstanz und Rarefizierungen in den neuronalen Netzwerken, die nur schwer beeinflussbar scheinen, sowie Dysfunktionen in Netzwerken, die teilweise mit bestimmten PsychoseDomänen assoziiert sind. Und doch erleben wir immer wieder auch überraschende klinische Besserungen nach Jahren des chronischen Leidens, die Hoffnung und Geduld bei den Therapeuten nicht erlöschen lassen. Auch die Psychotherapie hat neuen Auftrieb erhalten – so zeigen sich Maßnahmen zur Behandlung von Plus- wie von Minussymptomen unter dem Siegel der Evidenzbasierung, dies zumindest für Erwachsene.
Im Rückblick auf die Zusammenfassung der Wissensbestände bei Schizophrenien des Kindes- und Jugendalters von 1984 (Herausgeber R. Lempp) kann die schizophrene Psychose auch heute noch als Entwicklungsstörung aufgefasst werden. Das Thema der funktionellen Regression als Mechanismus der Psychoseentstehung ist heute jedoch nicht mehr prominent und findet nur bedingt eine empirische Bestätigung. Vielmehr erscheinen beeinträchtigte Entwicklungsprozesse per se die Voraussetzungen für schizophrene Vulnerabilität zu schaffen. Das entwicklungspsychologische Wissen hat seit den 1980er Jahren zunehmenden Einfluss auf die Schizophrenietheorien ausgeübt. Heute findet sich ebenfalls in den Theorien der neuronalen Netzwerkentwicklung des Adoleszenzalters der Versuch, Neurobiologie und Entwicklungspsychologie durch Brückenschläge miteinander konzeptuell zu vereinen.
Auch gegenüber den Herausgeberbänden von Martinius (1994) und Remschmidt (2004), die das Wissen im deutschsprachigen Raum in einem Jahrzehnt zu bündeln verstanden, gibt es wieder neue Forschungsund Therapieentwicklungen, die Grundlinien der Forschungsansätze und therapeutischen Haltungen haben sich jedoch nicht verändert. Es wird nur zunehmend der Früherkennung und Frühbehandlung größere Sorgfalt gewidmet, um möglichst die frühen Chronifizierungen zu vermeiden. Mehr und mehr verschieben sich die Behandlungsansätze schon in die prodromale Phase, was mit der Schwierigkeit verbunden ist, dass aufgrund der geringen Spezifität der Vorfeldsymptomatik keine eigentliche spezifische Prävention möglich ist, sondern nur eine Behandlung je aktueller Symptome und Syndrome, die vielleicht dann das Übergehen in eine Psychose verhindern kann. Gerade zu diesem Thema finden sich in unserem Buch zahlreiche Kapitel mit den empirischen Evidenzen im Jugend- und Erwachsenenbereich sowie Handlungsanweisungen zu praktischen Interventionen.
Eine Zusammenfassung internationaler Forschungs- und Therapieansätze mit Bezug zum deutschen Sprachraum erfolgte durch die Herausgeber Eggers (1991), Remschmidt (2001) und Bürgin & Meng (2004). Auf all diesen Übersichten zum Thema Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter baut unser Buch auf. Auch wir stellen Bezüge zu internationalen Strömungen im Forschungs- und Therapiebereich her und wagen eine aktuelle Stellungnahme im Hier und Jetzt!
Das Kap. 1 über Terminologie, Epidemiologie und Verlauf beruht auf den aktuellen Zahlen und Daten zu den früh beginnenden Psychosen. Diese Grundlagen in Buchteil I werden durch neueste Befunde zu Ätiologie und Pathogenese ( Kap. 2) der Schizophrenie mit speziellem Bezug zur Adoleszenz erweitert. Die klinische Präsentation nimmt einen breiten Raum im Buchteil II ein und wird durch ein Kapitel zur Entwicklungspsychopathologie ( Kap. 3) ergänzt, das die unterschiedliche Symptompräsentation in unterschiedlichen Lebensaltern hervorhebt. Beim diagnostischen Vorgehen müssen auch die Entwicklungsressourcen, die familiendynamischen und psychodynamischen Aspekte Berücksichtigung finden (Buchteil III). Der Buchteil IV widmet sich der Früherkennung von Psychosen ( Kap. 10) und behandelt neben den praktischen Aspekten auch die Ethik der Früherkennung ( Kap. 11) und AntistigmaArbeit ( Kap. 12).
Die Therapie umfasst alle Domänen der Pharmakotherapie (Buchteil V.2; Kap. 16 und 17), Psychotherapie (Buchteil V.1) und Familieninterventionen ( Kap. 14). Besonderes Gewicht wird auf kognitiv-behaviorale Techniken ( Kap. 13) gelegt, aber das Spektrum bis zu psychodynamischen Therapieansätzen ( Kap. 14) erweitert. Auch den Therapiesettings (stationär Kap. 26 und ambulant Kap. 27 aus jungendpsychiatrischer und sozialpädagogischer Perspektive), dem Erstkontakt ( Kap. 6) und den Langzeitbehandlungsmaßnahmen im Rahmen rehabilitativer Ansätze ( Kap. 28) wird Raum gegeben. Die Besonderheiten der Therapie von Psychosen werden in eigenen Kapiteln hervorgehoben (Buchteil V.3): Es geht dabei um die kognitiven ( Kap. 18) und sozialen ( Kap. 22) Dysfunktionen, um Lebensqualität ( Kap. 23), Therapieresistenz ( Kap. 24) und Erregung/Feindseligkeit ( Kap. 19). Psychose und Sucht ( Kap. 25), Psychose und Trauma ( Kap. 21) sowie Depressivität und Suizidalität ( Kap. 20) werden im Speziellen fokussiert. In diesem Abschnitt werden auch das Prinzip der Symptomdimensionen von Psychosen und ihrer Beziehung zu Hirnsystemen sowie ihre Bedeutung für die Praxis behandelt ( Kap. 30). Den Abschluss bildet Buchteil VI zur bedarfsgerechten Versorgungsstruktur im deutschsprachigen Raum, die anhand der Beispiele der Konzepte von Hamburg ( Kap. 32), Heidelberg ( Kap. 33) und Bern ( Kap. 34) illustriert wird.
Das Buch richtet sich an alle Berufsgruppen, die mit psychotischen Menschen arbeiten. Es ist so geschrieben, dass auch der interessierte Laie und Angehörige mit medizinisch-therapeutischem Vorwissen das Buch mit Gewinn lesen können. Sein Fokus ist es, Grundlagen für eine gute Früherkennung und Behandlung Jugendlicher und junger Erwachsener mit Psychosen und vor allem unterschiedliche Behandlungstechniken und -foki darzustellen. Unser Anliegen war es nicht, die Beiträge unter einer einheitlichen, integrierenden Doktrin zum Wesen von Psychosen zu ordnen und einzuengen, sondern vielmehr teils auch sehr widersprüchliche Ansätze nebeneinander zu stellen. Wir und unsere Autoren haben sich vorwiegend auf Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis fokussiert, zumal zu bipolaren Störungen in der Adoleszenz wenig empirisches Wissen vorhanden ist. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass bipolare Störungen mit psychotischen Symptomen in der Adoleszenz den schizophrenen Psychosen phänomenologisch und bezüglich ihrer Behandlung und ihres Verlaufs sehr ähnlich sein können, so dass der Leser auch für diese Gruppe von Patienten von diesem Buch profitieren kann. Die Autoren dieses Buchs haben – wo immer sinnvoll – Fallbeispiele eingebaut, damit die beschriebenen Phänomene und Behandlungstechniken möglichst lebendig werden.
Es kommen überwiegend deutschsprachige Autorinnen und Autoren zu Wort, die sowohl international wissenschaftlich als auch klinisch ein hohes Maß an Erfahrung zum Thema Psychosen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter einbringen können. Dieses Altersspektrum definiert die Adoleszenz. Gerade im Grenzbereich zwischen Kinder- und Jugend- sowie Erwachsenenpsychiatrie war uns der Einbezug und Dialog beider Expertisen wichtig. Es ist unsere erklärte Absicht, die Zusammenarbeit beider Fächer für die...