1.5.1 Rehabilitation in der Rentenversicherung
»Rehabilitation« ist ein vielschichtiger Begriff. So müssen z. B. fachliche, (sozial-)rechtliche oder leistungsrechtliche Aspekte bei der Verwendung dieses Begriffs auseinandergehalten werden, obwohl es Schnittmengen gibt. Daneben wird unter medizinischer Rehabilitation ein auf Jahre hin angelegter Interventionsprozess bei der Behandlung chronischer Erkrankungen verstanden, unabhängig von der Kostenträgerschaft. Dabei kommen zu verschiedenen Zeitpunkten diverse Maßnahmen durch unterschiedliche Personen und Institutionen zur Anwendung. Dazu zählen neben der teilstationären oder stationären Rehabilitation z. B. Initiativen und Institutionen wie die Patientenselbsthilfe, die Langzeitbetreuung durch Haus- und Fachärzte, soziale Dienste und Einrichtungen u.v. a. m.
Die Rehabilitation, wie sie mit großem materiellem und personellem Aufwand im Rahmen des Rentenversicherungssystems betrieben wird, begründet sich auf das seit den Bismarckschen Reformen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Sozial- und Gesundheitssystem in Deutschland, das zu Recht als eine der Säulen des sozialen Friedens und des Wohlstands in Deutschland bezeichnet werden kann. In einem kleinen historischen Exkurs wird hier die Entwicklung in Stichpunkten nachvollzogen.
Aus Sorge um das Erstarken sozialdemokratischer Kräfte im Reich veranlasste Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898, Reichskanzler 1871–1890) Kaiser Wilhelm II. zu einer Gesetzesinitiative zum Schutze der Arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter (Planet Wissen 2012). Dieser forderte daraufhin in einer Kaiserlichen Botschaft am 17. November 1881 den Reichstag auf, zur »positiven Förderung des Wohles der Arbeiter […] die rechten Mittel und Wege zu finden«, Gesetze zur Absicherung gegen Betriebsunfälle, zur organisierten Krankenversicherung, zur Fürsorge gegen Alter und Invalidität – »nicht ohne die Aufwendung erheblicher Mittel« – zu formulieren. In der Folge beschloss der Reichstag 1883/1884 das Gesetz zur Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung der Arbeiter, das u. a. erstmals Krankengeld, Lohnfortzahlung, Übernahme von Behandlungskosten und Mutterschaftshilfen und die Struktur der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) regelte. 1884/1885 folgte das Unfallversicherungsgesetz, das Unfallrenten und Wege der Unfallverhütung sowie das Wesen der Berufsgenossenschaften festlegte. Die Invaliditäts- und Alterssicherung wurde 1889 verabschiedet und trat 1891 in Kraft. Altersrenten konnten damals ab dem 70. Lebensjahr beansprucht werden. Die gesamte deutsche Sozialversicherung wurde ab 1911/1914 in der Reichversicherungsordnung (RVO) zusammengefasst, die seit den 1990er Jahren weitestgehend im Sozialgesetzbuch aufgegangen ist. In dieser Zeit entstand auch die Angestelltenversicherung (AnV). Die Angestellten waren damals eine eigenständige soziale Gruppe zwischen den Arbeitern und den Beamten. Weitere wichtige Etappen waren der weitgehende Vermögensverlust der Rentenversicherung 1921, die Einführung der Arbeitslosenversicherung 1927, die Entstehung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit für freiwillig Versicherte 1936 als Vorläufer der privaten Krankenkassen, die Versicherungspflicht für selbständige Handwerker durch das Handwerker-Versorgungsgesetz (HVG) 1939 und die unentgeltliche Krankenversicherung von Rentnern 1941 (bis 1984). In der Nachkriegszeit kam es in der Bundesrepublik Deutschland 1957 zur Rentenreform: : Die Rentenversicherung wurde zu einem Versicherungssystem ausgebaut, das sich auf den Generationenvertrag bezog und lohn- bzw. beitragsbezogen funktionierte. 1975 wurde eine flexible Altersgrenze beschlossen, seit 1985 werden Kindererziehungszeiten angerechnet. Die Pflegeversicherung schließlich wurde aufgrund der zu erwartenden demographischen Entwicklung 1995 als eigenes System aus der Krankenversicherung gelöst. Das aktuelle soziale Sicherungssystem in Deutschland hat damit »fünf Säulen«: die Kranken-, die Unfall-, die Renten-, die Arbeitslosen- und die Pflegeversicherung. Die einzelnen Sozialgesetzbücher entstanden seit 1977. Seit 1990 wurden die neuen Bundesländer in das soziale Sicherungssystem integriert.
Juristisch bezieht sich die Rehabilitation auf das Sozialrecht. Ein einheitlicher Begriff des Sozialrechts existiert bis heute nicht. Sein übergeordnetes Prinzip ist die grundgesetzlich verankerte Sozialstaatlichkeit. Demnach muss der Staat ein System der sozialen Sicherheit gewähren. Beim Sozialrecht werden die Bereiche Sozialversicherung, Sozialversorgung und Sozialhilfe sowie die allgemeine Sozialförderung unterschieden. Sozialrecht regelt als Teilbereich des Verwaltungsrechts Aspekte der öffentlichen Leistungsverwaltung. Das Sozialrecht ist gekennzeichnet durch Unter- und Überordnung von Staat und Bürger als Antragsteller, Leistungsempfänger oder Sozialversicherte. Die Einzelheiten des Sozialrechts sind in den Sozialgesetzbüchern (SGB) I bis XII geregelt. Dabei enthalten die Gesetzbücher I, IV und X allgemeine verwaltungsrechtliche Vorschriften, während die Leistungsgesetze als so genanntes materielles Recht in den übrigen Sozialgesetzbüchern geregelt sind ( Tab. 1.9).
Tab. 1.9: Die Sozialgesetzbücher
Die Rehabilitation ist im 9. Sozialgesetzbuch geregelt. Es gilt das Prinzip der trägerbezogenen Risikozuordnung, und zwar für alle Zweige der Sozialversicherung. Vorstellung ist, dass Rehabilitation dort am wirksamsten umgesetzt wird, wo der einzelne Leistungsträger auch deren Misserfolg zu verantworten hat. So müssen die Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit als Kostenträger von Rehabilitationsleistungen auch für die Konsequenzen aus dem Scheitern der jeweiligen Rehabilitation aufkommen, zum Beispiel bei Eintritt von Schwerbehinderung, Invalidität, Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit.
Im Folgenden werden einige wichtige sozialrechtliche Begriffe und Tatbestände der Rehabilitation referiert und ggf. in den Kontext der psychosomatischen Rehabilitation gestellt. Dabei ist die Darstellung bewusst knapp gehalten, da es dazu eine Fülle ausführlichster Literatur gibt (z. B. Schmid-Ott et al. 2008, Glossar der DRV 2009).
1.5.2 Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe3
Leistungen zur Rehabilitation sollen definitionsgemäß Behinderungen und chronische Krankheiten abwenden und Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit vermeiden oder Pflegebedürftigkeit verhindern. Dazu werden im 9. Sozialgesetzbuch medizinische, berufliche, soziale und andere unterhaltssichernde Rehabilitationsmaßnahmen unterschieden. Medizinische Reha kann ambulant oder stationär durchgeführt werden, berufliche Reha wird als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) spezifiziert, so wie die soziale Reha als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (LTLG) benannt ist.
Für die Leistungserbringung gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten, wie in Tabelle 1.10 aufgeführt.
Tab. 1.10: Für die Rehabilitation zuständige Leistungsträger
Aufgrund des so gegliederten Leistungssystems muss immer geklärt werden, welcher der Leistungsträger zuständig ist. Dabei ist zunächst entscheidend, bei welchem Träger der Antrag gestellt wurde. Der so genannte erstangegangene Träger stellt seine Zuständigkeit fest und den Rehabilitationsbedarf, ggf. mittels Begutachtung. Wenn er sich nicht für zuständig hält, muss er den Antrag innerhalb von 2 Wochen an einen zweiten Träger weiterleiten. Das Gutachten zur Klärung des Rehabilitationsbedarfes soll für alle Träger verwendet werden können und muss daher bereits alle sozialmedizinischen Aspekte berücksichtigen. Diese Gutachten sind ebenfalls innerhalb von 2 Wochen zu erstellen. Danach ist innerhalb von 3 Wochen über den Antrag zu entscheiden, wenn nicht ein Zusatzgutachten benötigt wird. Im Entscheidungssystem besteht also ein erheblicher Zeitdruck.
Leitet der erstangegangene Träger den Antrag weiter, dann entfällt beim zweiten Träger die Prüfung der Zuständigkeit, er muss leisten, sofern Rehabilitationsbedarf besteht. Wer letztendlich aufkommt, wird nach der Bewilligung geklärt.
Eine Sonderform ist der Antrag nach § 51 Abs. 1 SGB V. In diesem Fall fordert die Krankenkasse Versicherte bei erheblich gefährdeter oder geminderter Erwerbsfähigkeit auf, sich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Der Anspruch auf Krankengeld ruht, wenn der Versicherte dieser Aufforderung nicht in angemessener Zeit nachkommt. Diese Anträge werden üblicherweise bei langer Arbeitsunfähigkeit gestellt oder wenn der Verdacht besteht, dass sich die Leistungsfähigkeit des Versicherten vermindert hat (sog. Leistungswandel). Auch die Arbeitsagentur kann bei mindestens 6 Monate dauernder Minderung...