7 Motivation zur Veränderung
Sandra Becker
7.1 Herstellen eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses
Menschen mit Adipositas finden oftmals schwer eine ausreichende Motivation zur Verhaltensänderung. Dass Ermahnungen von ärztlicher Seite wie beispielsweise »Sie müssen abnehmen und weniger essen und sich mehr bewegen« kaum erfolgreich sind, ist unbestritten.
Die Betroffenen haben zumeist viele frustrierende Erfahrungen mit vorausgegangenen Gewichtsreduktionsversuchen hinter sich, die mittelfristig im Gewichtsverlauf wieder zu einem Jojo-Effekt geführt haben. Sie zweifeln daran, ob und wie sie es schaffen können, eine Verhaltensänderung in Bezug auf ihr Ess- und Bewegungsverhalten herbei zu führen, die zu einem langfristigen Gewichtsverlust führt. Oftmals stellt sich ihnen die Frage, ob die Anstrengungen, die sie für eine erfolgreiche Gewichtabnahme aufbringen müssen, im Verhältnis zu dem Ergebnis stehen. Die realistisch zu erwartende Gewichtsabnahme fällt in der Regel geringer aus als diejenige, die die Betroffenen sich wünschen. Deshalb ist es wichtig, dass sich Patienten vor Beginn einer Intervention verdeutlichen, was es für Gründe für, aber auch gegen eine Teilnahme an einem Gewichtsreduktionsprogramm gibt. Zweifel und kritische Einstellungen sollen ebenso wie die damit verbundenen Erfolgserwartungen und Vorteile erörtert und diskutiert werden. Ziel ist die Förderung der Veränderungsbereitschaft unentschlossener, ambivalenter Betroffener durch eine motivierende Gesprächsführung, dem sogenannten »Motivational Interviewing« (MI). MI wurde ursprünglich von Miller und Rollnick in den 1980er Jahren aus der Arbeit mit Suchtpatienten entwickelt (Miller und Rollnick 1991) und ist eine Kommunikationsmethode, die heute in vielen Bereichen – so auch in der Adipositas- und Essstörungsbehandung (Keifenheim et al. 2013; Carels et al. 2007; DiMarco et al. 2009) –, in denen Patienten zu einer Verhaltensänderung motiviert werden sollen, Anwendung findet.
Zentrale Elemente sind die Förderung intrinsischer Motivation und die Auflösung von Ambivalenz. Der Therapeut sollte dabei einen konfrontativen Stil vermeiden und so die Entscheidung zu einer Verhaltensänderung beim Patienten erleichtern. Er schafft eine Gesprächsatmosphäre, in der vorwiegend der Patient zum Verfechter der Veränderung wird. Ambivalenz wird nicht als Hindernis, sondern als normales Stadium auf dem Weg zu einer Verhaltensänderung verstanden und nicht problematisiert. Widerstand gegen eine Veränderung wird auch als ein Ergebnis von Interaktion zwischen Patient und Behandler betrachtet (Miller und Rollnick 2009). MI geht davon aus, dass der Patient die Argumente für eine Veränderung selbst entdecken und aussprechen muss. Behandler helfen ihm lediglich, diese Argumente zu finden und zu beleuchten, werden aber selbst nicht in Richtung einer Veränderung argumentieren. Je mehr der Patient über Veränderung spricht (sog. »Change-Talk«) und je mehr er dabei Aussagen zur Selbstverpflichtung macht (sog. »Commitment-Talk«), desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Veränderung stattfindet.
In Tabelle 7.1 sind hilfreiche Strategien zur motivierenden Gesprächsführung zusammengefasst.
Tab. 7.1: Strategien der motivierenden Gesprächsführung
7.2 Interventionen zur Überprüfung der Veränderungsmotivation
Im Folgenden werden verschiedene Übungen vorgestellt, die Patienten auf eine Verhaltensänderung vorbereiten und in einer Entscheidungsfindung unterstützen. Die Übungen befassen sich mit Vor- und Nachteilen des momentanen Status-quo bzw. der Verhaltensänderung und klären, welche Ziele der Patient in seiner Zukunft erreichen will, welchen Gewinn er sich von einer Verhaltensänderung verspricht und wie sehr er sich und sein Verhalten ändern will.
Vierfeldertafel zu Vor- und Nachteilen einer Verhaltensänderung
Mithilfe eines Bilanzbogens ( Tab. 7.2 bzw. Arbeitsblatt 1) können Patienten alle Gedanken, Argumente und Ideen für und gegen eine Verhaltensänderung festhalten und gegeneinander abwägen. Ebenso können widersprüchliche Argumente gegenüber gestellt und diskutiert werden. Das Bewusstmachen der Vor- und Nachteile ist für eine bessere Einschätzung der Dringlichkeit und der Stärke der Ausprägung eines Veränderungsbedarfs wichtig. Manchen Patienten wird erst hierbei richtig bewusst, wie ambivalent sie einer Veränderung gegenüber sind. Im Herausarbeiten der Vor- und Nachteile kann zusätzlich zwischen kurz- und langfristigen Aspekten differenziert werden. Dabei wird oft klar, dass der
Tab. 7.2: Vierfeldertafel (Beispiel)
Status-quo kurzfristig sehr häufig Vorteile mit sich bringt, wohingegen die Nachteile oft erst langfristig eintreten. Wenn alle Pro- und Contra-Argumente bezüglich einer Verhaltensänderung herausgearbeitet wurden, kann zusätzlich eine Einschätzung erfolgen, wie gewichtig die verschiedenen Argumente sind, z. B. indem die Patienten eine Zahl zwischen 1 und 10 (1 = wenig wichtig / 10 = äußerst wichtig) angeben. Im Rahmen einer Gesamtschau der gesammelten und gewichteten Argumente erfolgt eine gemeinsame Diskussion bzw. Einschätzung über die derzeitige Veränderungsbereitschaft des Patienten.
Reflexion über Zukunftsziele
Die Patienten werden mit Hilfe eines Arbeitsblattes (AB 2 »Zukunftsvorstellung nach Verhaltensänderung«) angeleitet, sich vorzustellen, wie ihre Situation aussehen würde, wenn sie eine Verhaltensänderung durch ein Gewichtsreduktionsprogramm erfolgreich durchgeführt hätten. Verschiedene Bereiche wie Stimmung, Selbstwertgefühl, Berufstätigkeit, soziale Beziehungen, Freizeitbeschäftigung, Lebenszufriedenheit und Gesundheit werden dabei fokussiert ( Tab. 7.3). Das Arbeitsblatt dient als Grundlage, um über Wünsche, Ziele, Hoffnungen und Erwartungen, die mit einer Intervention zur Gewichtsreduktion verbunden sind, zu
Tab. 7.3: Zukunftsvorstellung nach Verhaltensänderung (Beispiel)
reflektieren. Darüber hinaus kann sich der Patient bewusst werden, ob er für sich lohnenswerte Veränderungen in seinem Leben antizipiert, die seine Motivation an sich zu arbeiten, erhöht.
An dieser Stelle ist zusätzlich wichtig, dass überprüft wird, ob die Ziele, die der Patient bzgl. einer Gewichtsreduktion hat, realistisch sind ( Kap. 9.3). Oftmals zeigen sich überhöhte Erwartungen von Seiten der Patienten, die das Risiko für Frustrations- und Enttäuschungserlebnisse deutlich erhöhen.
Bezüglich Effekten von verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktionsprogrammen zeigen bisherige Untersuchungen, dass mit einer Lebensstiländerung eine Gewichtsabnahme von durchschnittlich 5–10 % vom Ausgangsgewicht zu erreichen ist ( Kap. 4.2). Realistisches Ziel einer solchen Intervention ist somit ein moderater Gewichtsverlust, der langfristig aufrechterhalten werden soll. Den Patienten sollte frühzeitig, vor Behandlungsbeginn, vermittelt werden, dass nach einer Phase der Gewichtsabnahme von ca. 5–10 % des Ausgangsgewichts (bei einer Dauer von ca. 6–12 Monaten) eine Phase der Gewichtsstabilisierung folgt. Wichtiger Bestandteil der Motivationsphase ist, mit den Patienten Diskrepanzen zwischen ihrem persönlichen Wunschgewicht und dem realistisch zu erwartenden Gewicht, das mit einem Abnahmeprogramm erreicht werden kann, zu thematisieren ( Kap. 9.3). Ansonsten ist das Risiko für einen vorzeitigen Programmausstieg bei denjenigen Patienten mit unrealistischen bzw. unerreichbaren Erwartungen bzgl. der Gewichtsabnahme erhöht.
Motivationslineal
Die Bearbeitung des Motivationslineals ( Tab. 7.4, bzw. AB 3 »Motivationslineal«) verhilft dem Patienten dazu, sich seiner Veränderungsbereitschaft sowie der Zuversicht, die Veränderung erreichen zu können, bewusst zu werden. Fragen wie beispielsweise: »Aus welchem Grund haben Sie nicht die 0 angekreuzt?« / »Warum haben Sie nicht die 10 angekreuzt?«/ »Was können Sie tun, um dem Wert 10 näher zu kommen?« können den Dialog über die Behandlungsmotivation (»Change-Talk«) anregen.
Tab. 7.4: Motivationslineal
Durch die Arbeit an einer Veränderungsmotivation sollen Patienten sich bewusst für die Therapie entscheiden und sich der Notwendigkeit einer aktiven Haltung bewusst werden. Lebensstiländerung erfordert...