„Purpose Economy löst die Information Economy ab!“ – „Das posthierarchische Zeitalter beginnt“ – „Firmen ohne Führungskräfte“ – „Das Ende der Hierarchie?!“ – „Digitalisierung wird alles verändern“ – „Die vierte industrielle Revolution nimmt Fahrt auf“. Diese und ähnliche Schlagzeilen dominieren seit Jahren die Wirtschaftspresse und die Management-Fachliteratur. Wir begegnen ihnen auch in unserer Beratungspraxis und in Anfragen aus Unternehmen an uns als Beratende: Wie kann das gelingen? Was ist zu tun? Wie können wir das bei uns umsetzen? Neben einem sicherlich auch vorhandenen Hype ist spürbar, dass etwas in Bewegung gekommen ist und dass viele Menschen und Organisationen das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als eine große Umbruchphase erleben. Ein grundlegender Entwicklungszyklus von Wirtschaft, Gesellschaft und Management kommt langsam an sein Ende und wird von etwas Neuem, das sich noch nicht exakt beschreiben lässt, abgelöst. Was ist damit gemeint?
Da man soziale Systeme, als die wir Organisationen betrachten, nur in Verbindung mit der sie umgebenden Umwelt begreifen kann, macht es Sinn, sich an dieser Stelle einen Überblick zu verschaffen, was sich in diesem Umfeld tut. In Summe ergibt sich dabei für uns folgendes Bild: Der wirtschaftliche, technische aber auch soziale Fortschritt der letzten 200 Jahre ist spürbar. Fast überall. Aber nicht alles läuft gut. In Wirtschaft und Gesellschaft sind die Fliehkräfte inzwischen unübersehbar. Das kann nicht mehr (lange) so weitergehen. Wir brauchen eine neue Entwicklungskurve in Wirtschaft und Gesellschaft. Zudem verändern sich die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen, die verstärkt auch nach Sinn in der Arbeit suchen. Mit ihnen verändert sich die Gesellschaft, aber auch was Wirtschaft und Organisationen ausmacht und was sie leisten müssen. Und gleichzeitig sind Organisationen historisch betrachtet noch ein recht junges Phänomen. Wir meinen, dass sie jung genug sind, um sich neu zu erfinden. Und es ist Zeit, dass sie erwachsen werden. Dabei werden sie noch besser lernen müssen, mit Komplexität und Widersprüchen umzugehen. Schauen wir uns diese Punkte im Folgenden genauer an.
1.1 Der Fortschritt ist spürbar – fast überall
Technologische Innovationen, Kapitalismus bzw. Marktwirtschaft, Globalisierung und Demokratie haben einen noch nie dagewesenen Wohlstand geschaffen und das Leben vieler Menschen nicht nur auf der Nordhalbkugel enorm verbessert. Der tägliche Blick in die Nachrichten lässt uns dies leicht vergessen. Dieser gewaltige Fortschritt hat eine Situation geschaffen, in der immer mehr Menschen nicht mehr um das tägliche Überleben kämpfen müssen.
Harvard-Professor Steven Pinker hat sich die Mühe gemacht, eine ganze Reihe von Daten und Fakten zusammenzutragen, die dies belegen und den Blick über den täglichen Nachrichtentellerrand hinaus schärfen sollen (Economist 2018):
Die Welt ist heute rund 100-mal wohlhabender als noch vor 200 Jahren, und dieser Wohlstand ist auch gleichmäßiger verteilt. Handel und technischer Fortschritt erlaubten es reichen Ländern weiter zu wachsen, aber auch Ärmeren aufzuschließen.
Die Zahl der extrem Armen ist weltweit deutlich gesunken. Während 1990 noch rund 1,9 Milliarden Menschen in Armut lebten, waren es 2005 „nur“ mehr 836 Millionen. Besonders stark war der Rückgang in China, wo 1990 noch mehr als 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, während es inzwischen weniger als 2 Prozent sind (Kohlenberg/Schieritz 2018, S. 14).
In Kriegen sterben derzeit jährlich rund drei Viertel weniger Menschen als noch in den 1980er-Jahren.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sank die Wahrscheinlichkeit, in den USA bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, um 96 Prozent und bei einem Brand zu sterben um 92 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Arbeitsunfalls reduzierte sich um 95 Prozent.
Ein großer Teil auch der ärmeren Bevölkerungsschichten kann heute Annehmlichkeiten nutzen, die vor 150 Jahren nicht einmal den Superreichen im Alltag zur Verfügung standen: Elektrizität, Heizungen und Klimaanlagen, Kühlschränke, Autos, Telefone oder Fernsehgeräte.
Die enormen Verbesserungen der Versorgung mit Medizin, Trinkwasser und Nahrungsmitteln sowie der sanitären Bedingungen ermöglichen es, dass Menschen heute länger, gesünder und besser leben können.
Sogar der durchschnittliche Intelligenzquotient ist weltweit in den letzten 100 Jahren um erstaunliche 30 Punkte gestiegen, so dass 98 Prozent der heute Lebenden diesbezüglich höhere Werte erreichen als die Menschen vor 100 Jahren.
Vor 200 Jahren lebte nur ein Prozent der Weltbevölkerung in Demokratien, in denen jedoch Frauen und Männern der Arbeiterklasse in der Regel das Wahlrecht verweigert wurde. Inzwischen leben zwei Drittel der Menschheit in einer Demokratie und auch autoritäre Staaten wie China erlauben heute mehr Freiheitsrechte als früher.
In 45 von 52 im World Values Survey erfassten Ländern ist das gemessene Glück und Wohlbefinden der Bewohnerinnen zwischen 1981 und 2007 gestiegen (World Value Survey 2018).
Nach Unicef-Daten hat sich zudem die Kindersterblichkeit weltweit seit 1990 halbiert (Unicef 2018).
Dieses positive Bild der Gesamtentwicklung der Welt korrespondiert so gar nicht mit den krisenhaften und bedrohlichen Eindrücken, die die Tagesnachrichten und Postings in sozialen Medien bei uns hinterlassen. Das Gesamtbild gibt durchaus Anlass zu Optimismus, aber selbstverständlich nicht dazu, die Augen vor den Problemen und Herausforderungen der Gegenwart zu verschließen.
1.2 Fliehkräfte in Wirtschaft und Gesellschaft
In Gesellschaft und Wirtschaft werden gerade in den letzten Jahren auch enorme Fliehkräfte spürbar. Immer mehr Menschen in den vergleichsweise reichen Ländern der Nordhalbkugel sehen sich als Globalisierungsverlierende, wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgegrenzt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in vielen Ländern immer weiter auseinander. Der gesellschaftliche Grundkonsens bezüglich einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, eines Sozialstaats und einer an Freihandel und funktionsfähigem Wettbewerb orientierten Marktwirtschaft wird zunehmend infrage gestellt. Immer mehr Wählende stimmen für populistische Parteien und deren einfache Rezepte. Der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf prognostizierte schon 1997, dass die Globalisierung die Konkurrenz stärke und das Gemeinschaftsgefühl schwäche. Infolgedessen gerate die Demokratie unter Druck, weil der Weltmarkt die Teilhabesuchenden fresse und die, die Anteile haben, ungeschoren lasse. Keine Gesellschaft könne es sich ungestraft leisten, so viele ihrer Mitglieder einfach auszuschließen (Heuser 2017, S. 9).
Über 20 Jahre später nach Finanzkrise und Bankenrettungen (2008ff.), Euro- und Staatsschuldenkrise (2010ff.) und Zustrom von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten des Nahen und mittleren Ostens sowie aus armen Ländern Afrikas (2015ff.) wird auch in Europa erkennbar, wie recht Dahrendorf hatte: Viele Menschen fühlen sich unfair behandelt, empfinden Wut gegenüber einem politischen und wirtschaftlichen Establishment, von dem sie sich ausgegrenzt und vergessen fühlen, und sehen sich als Verlierende der Globalisierung und zunehmenden Digitalisierung. Immer mehr zweifeln am System, machen ihren Unmut in sozialen Medien deutlich und laufen populistischen Parteien, die die Unzufriedenheit ausnutzen und eine Art neuen Nationalismus begründen, in die Arme.
Der britische Historiker Niall Ferguson hat in einem Vortrag 2016 das Rezept für Populismus beschrieben. Es besteht aus fünf Zutaten: eine große Zahl von Einwandernden, eine große ökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft, dem Eindruck vieler Menschen, sie würden benachteiligt und es gehe unfair zu, einem schweren wirtschaftlichen Schock oder einer Finanzkrise und dem Auftritt einer demagogischen, populistischen Politikerin (Fergusson zitiert nach Heuser 2016, S. 19 f.). Kommt uns irgendwie bekannt vor – inzwischen.
Die Mittelschicht fühlt sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz zunehmend bedroht und Institutionen wird immer mehr misstraut. Dabei greift ein Denken um sich, dass die Welt einteilt in „Wir“ und „Die“, in „für mich“ und „gegen mich“. Ein Gefühl von „es geht nicht fair zu“ und „die da oben richten es sich auf unsere Kosten ein“. Die Folge ist ein Rückzug in die eigene Erklärungswelt der Ungerechtigkeit, die nicht daran glaubt, gemeinsam etwas ändern zu können, sondern gegen die anderen wettert. Eine Flucht in die einfachen „Raus“-Konzepte der Demagoginnen, in Globalisierungs-, Technik- und Fremdenfeindlichkeit.
Der kritische Blick in Wirtschaft und Gesellschaft zeigt, dass wir längst nicht dort sind, wo wir gerne wären. Angesichts der Problemflut, die täglich durch die Medien schwappt, stellt sich uns manchmal die Frage, ob unsere Organisationen – und wir mit ihnen – nicht irgendwo eine wichtige Abzweigung in die erhoffte Zukunft verpasst haben. Einige Beispiele sollen dies illustrieren: