Wind
30. Dezember 2014. Tag vier des siebten Jahres in der »Dawn Wall«. 350 senkrechte Meter Freikletterei liegen unter uns, 550 haben wir noch vor uns.
Aus einem Kilometer Entfernung hören wir den Wind heranrasen – ein Dröhnen in der Dunkelheit, gemischt mit einem schrillen Heulen. Das Geräusch schwillt an, übertönt alles andere. Wir kauern an der Wand wie Wasserspeier, die Beine in den Schlafsäcken, den Rücken an den Fels gepresst. Kevin, mein Kletterpartner, klammert sich an einen der Gurte unseres Hängezelts und lächelt gezwungen. Ich kann von seinen Lippen ablesen, was er sagt: »Gut festhalten!« Ein ohrenbetäubendes Wap-a-pap-pap hallt wider, mit der Frequenz einer Maschinengewehrsalve. Es ist nur die Zeltplane, die gegen den Granit schlägt, und doch durchfährt mich ein unwillkürlicher Schauder, rüttelt Erinnerungen wach, die anderthalb Jahrzehnte zurückliegen, Erinnerungen an den Geruch explodierenden Gesteins, Bilder von Blut, das auf dem Boden der Gebirgssteppe zu einer Lache gerinnt.
Ein plötzlicher Aufwind wirbelt um das Portaledge – unser Zuhause, nicht größer als eine Sperrholzplatte, ein Aluminiumrahmen, über den Nylonplanen gespannt sind. Der Zeltboden beginnt, sich zu heben, und für einen Augenblick schweben wir in der Luft, als würden wir auf einem fliegenden Teppich sitzen. Ich stelle mir den Edelstahlhaken mit seinen zehn Millimetern Durchmesser vor, an dem wir und unsere gesamte Ausrüstung hängen. Dann hört der Wind plötzlich auf, und das Portaledge kracht nach unten, während sich die Gurte mit einem lauten Knall straffen.
Jeder Tag beginnt gleich. Schon beim Aufwachen denke ich darüber nach, wie sich das Rätsel über uns lösen lässt. Wir setzen Kaffee auf und beobachten von unserem kleinen Hochsitz aus ehrfürchtig, wie uns das erste Licht des Tages erreicht – nicht umsonst wird diese Seite des Felsmonoliths El Capitan im kalifornischen Yosemite Valley als »Dawn Wall« bezeichnet. Ich putze mir die Zähne, nehme einen Schluck Wasser in den Mund und strecke den Kopf aus dem Zelt. Während ich zusehe, wie meine Zahnpasta nach unten fällt, zähle ich: eins, zwei, drei … Ich bin ungefähr bei zehn, als der weiße Klumpen tief unter mir im Wald verschwindet.
Ich halte inne und starre meine neun Fingerspitzen an – sie sind zerschnitten und wund, aber sie halten noch. Ich muss oft darüber nachdenken, wie sehr das Gelingen dieser gewaltigen Durchsteigung von winzigen Details abhängt. Millimetergroßer Hautkontakt und molekülweise Heilung entscheiden über den Ausgang dieses Projekts.
Ich lasse meinen Blick über das von Gletschern ausgeschürfte Tal schweifen, bis hin zu den Gipfeln, die sich am Horizont erheben. Ich beobachte Falken dabei, wie sie im Flug Schwalben schlagen. Jeden Tag spüre ich in meinen ruhelosen Beinen die Intensität meiner Erregtheit. Es ist schon seltsam: Eigentlich bin ich ein ganz normaler Typ – ein bisschen unsicher, manchmal auch schüchtern und unbeholfen. In der Wand aber ist es, als würde ich lebendig werden; sie ist ein Ort, der mich verändert. Das war schon immer so. Ich hole tief Luft und wende mich dem blanken Fels zu, der sich über mir erhebt.
Niemand hatte je geglaubt, dass es möglich sei, die »Dawn Wall« frei zu durchsteigen, also zum Vorankommen nur den eigenen Körper (in erster Linie Finger und Zehen) einzusetzen, wirklich zu klettern, ohne sich an Haken oder anderen Hilfsmitteln hochzuziehen. Legendäre Gestalten der Kletterszene – von denen ich manche über meinen Dad aus meiner Kindheit kannte, als sie bei uns zu Hause herumhingen – hatten sich lange gefragt, ob eine Erkletterung des El Capitan überhaupt je machbar sein werde, egal, mit welchen Mitteln. Die Erstdurchsteigung im Jahr 1958 war dann ein Quantensprung. In den nachfolgenden Jahren schafften es unzählige Kletterer über die unterschiedlichsten Routen auf den Gipfel. Die »Dawn Wall« frei zu klettern blieb jedoch ein unvorstellbares Unterfangen. Es war, als schwebte auf den geistigen Landkarten der vertikalen, nahezu strukturlosen und glatten Wand über dieser Stelle ein warnendes »Hier existieren Drachen!«.
Mein Vater ist der Grund dafür, dass ich dem Klettern verfallen war, lange bevor ich irgendetwas oder irgendjemand anderem verfiel. Für mich ist eine freie Durchsteigung der »Dawn Wall« ein Akt der Reinheit. Es aus eigener Kraft, ohne technische Hilfsmittel, nach oben zu schaffen bietet mir die Möglichkeit, mich und meine Leidenschaft für das Klettern und das Leben auszudrücken, auf die denkbar erhabenste Art und Weise und in einer gigantischen Dimension. Wenn es mir gelingt, und vielleicht selbst dann, wenn ich scheitere, werden damit nicht nur meine jahrelangen Vorbereitungen eine Bestätigung finden, sondern mein ganzes Leben.
Immer wenn ich eine schwierige Seillänge angehe – und hier sind so ziemlich alle schwierig –, nehme ich meine mentale Verfassung einen Augenblick früher wahr als meinen Körper. Sobald ich auch nur einen Anflug von Zweifel verspüre, zögere ich. Nur einen Moment lang. Dann beginnen meine Füße auch schon abzurutschen, und meine Körperspannung lässt nach. Beim Versuch, meine Position beizubehalten, belaste ich die Hände zu stark, wobei kostbare Hautschichten beschädigt werden. Für einen außenstehenden Beobachter mag dies alles kaum wahrnehmbar sein – bis diese minimale Gewichtsverlagerung mich aus der Wand reißt und durch die Luft segeln lässt. Ich schieße nach unten, falle manchmal zwanzig Meter tief, doch die Wand ist so steil, dass ich nirgendwo aufpralle. Das Seil strafft sich, nimmt die Wucht des Sturzes auf und bremst ihn sicher und weich.
In den Sekunden nach einem Sturz durchströmt mich manchmal eine wahre Kaskade von Emotionen. Vor lauter Frust und Enttäuschung lasse ich meinen Kopf auf die Brust sinken. Ich zweifle an meiner Kraft, meinem Gleichgewichtssinn, meinem Durchhaltevermögen. Sonst – eigentlich die meiste Zeit über – leitet mich ein fast absurder Optimismus. Wie viele andere Lebensbereiche gibt es schon, in denen man sich selbst immer wieder erproben kann? Welche anderen Unternehmungen verschaffen einem eine derart unmittelbare Rückmeldung? Ich analysiere, sortiere mich neu und versuche es noch einmal. Du schaffst das. Du weißt es. Die Angst verflüchtigt sich, die Gedanken werden ruhig, die Beherrschung von Körper und Geist rückt wieder in den Vordergrund. In solchen Momenten existiert für mich nichts als dieser eine Griff, diese Abfolge von Kletterzügen im Fels, die Informationen, die meine Fingerspitzen ans Gehirn senden. Die ganze weite Welt reduziert sich auf die Größe und Spannweite meines Körpers, während ich mich dazu zwinge, mich selbst über die begründetsten Zweifel hinwegzusetzen. Das Felsklettern ist ein Spiel, bei dem es um Kontrolle geht.
Wenn wir nicht klettern, reden Kevin und ich über die Kletterzüge. Über die Nuancen unserer Körperhaltung, den Winkel, in dem unsere Zehen auf einer nahezu unsichtbaren Felsrille stehen, wie wir die Finger auf einer Kante platzieren, die so schmal ist wie ein Zehn-Cent-Stück, auf genau die richtige Art und Weise, in genau der richtigen Reihenfolge und genau der richtigen Kombination von Balance, Körperspannung und Fußarbeit. Nachts liege ich wach und stelle mir die Bewegungen vor, damit sich Präzision und Perfektion in meinen Körper und in meinen Geist einschreiben. Am Fels üben wir dann die Züge ein wie Turner oder Balletttänzer, bis wir es schaffen, fließend von einer Position in die nächste überzugehen. Wenn alles gut läuft, erleben wir magische Momente.
Manchmal, wenn ich zwischen zwei Versuchen in unserem Portaledge sitze und die Beine über dem Abgrund baumeln lasse, erinnere ich mich an die Zeit vor sieben Jahren, als diese Reise, die zur Obsession wurde, begann. Ich denke an die unzähligen Tage, die ich damit verbracht habe, schwere Säcke mit Material und Wasser die Wand hinaufzuziehen, daran, wie ich meine Füße in Schuhe zwänge, die so eng sind, dass sich manchmal Fußnägel ablösen, und daran, wie ich mich wieder und immer wieder an dieselben rasiermesserscharfen Schuppen kralle, bis meine Fingerkuppen bluten und die Muskeln zittern.
Im Grunde begann es vor weit mehr als sieben Jahren. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist die an einen gewaltigen Blizzard, bei dem der Wind genauso toste wie in diesem Moment. Meine Schwester war sechs Jahre alt, ich war drei und brauchte noch Windeln. Gut eingepackt bis zur Nasenspitze lagen wir zusammen in einem Daunenschlafsack neben unserem Vater, tief verborgen in einer Schneehöhle hoch oben in den Bergen von Colorado. Ich ließ den silbernen Lichtstrahl meiner kleinen Taschenlampe über die Decke der Höhle gleiten und beobachtete, wie er blau wurde. Ich lauschte den gedämpften Geräuschen des Sturmes und dem Schnarchen meines Dads, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Alle paar Stunden wachte er auf, zog den Reißverschluss seines Schlafsacks auf, stieg in seine Skistiefel und ging nach draußen, um den frisch gefallenen Schnee wegzuschaufeln, damit wir nicht eingeschlossen würden. Jedes Mal, wenn er zurückkam und sich wieder zu uns legte, nahm er uns in seine Arme und drückte uns. Dann kuschelten wir uns an ihn und schliefen wieder ein, in der Gewissheit, dass alles in Ordnung war.
Auch meine ersten Ausflüge zum El Capitan unternahm ich mit meinem Dad, vor neunzehn Jahren, als ich noch an der Highschool war. Die Ausgesetztheit verursachte mir Übelkeit. Wenn ich nach unten schaute, um Halt für meine Füße zu suchen, verschob sich mein Bezugspunkt. Direkt unter mir begannen die Baumriesen, die von oben wie Brokkoliröschen aussahen, sich zu...