Kapitel 1 Der Moment der Wahrheit
Wollten wir über neues Wissen verfügen, müssten wir uns eine ganz neue Welt von Fragen zu eigen machen.
Susanne K. Langer
Auf dem Briefbeschwerer aus Rosenholz auf meinem Schreibtisch befindet sich eine Plakette mit der Aufschrift: »Großartige Ergebnisse beginnen mit großartigen Fragen.« Der Briefbeschwerer ist das Geschenk eines sehr besonderen Menschen in meinem Leben – Joseph S. Edwards. Er hat mir das Question Thinking beigebracht – so nannte er die Techniken, die er mich lehrte. Durch QT erschloss sich mir ein Bereich meines Geistes, den ich sonst wahrscheinlich nie entdeckt hätte. Wie jeder andere Mensch dachte ich, um ein Problem zu lösen, müsse man nach den richtigen Antworten suchen. Doch Joseph zeigte mir, dass der beste Weg zur Lösung eines Problems darin besteht, zunächst bessere Fragen zu stellen. Er brachte mir Techniken bei, die meine berufliche Karriere sowie meine Ehe retteten. Beide Bereiche waren damals zweifellos gefährdet.
Alles begann damit, dass mir eine Position bei QTec angeboten wurde. Das Unternehmen befand sich zu der Zeit mitten in einer großen Umstrukturierungsphase, und man munkelte, es werde wohl noch im gleichen Jahr pleitegehen, wenn nicht ein Wunder passiere. Ein Freund warnte mich davor, zu QTec zu gehen, denn das sei so, als heuere ich auf einem sinkenden Schiff an. Doch was überzeugte mich, das Risiko trotzdem einzugehen? Es war mein Vertrauen in Alexa Harte, die neu ernannte Geschäftsführerin von QTec, die mir die Position angeboten hatte. Ich hatte jahrelang bei der KB Corp., meinem vorigen Arbeitgeber, für sie gearbeitet und sie als äußerst begabte Führungspersönlichkeit schätzen gelernt. Ihre Zuversicht, QTec wieder auf Kurs zu bringen, war ansteckend. Zudem sicherte sie mir großartige Konditionen zu: eine beachtliche Gehaltserhöhung, einen beeindruckenden Titel und die Chance, ein Team bei der Entwicklung eines innovativen Produktes zu leiten. Wenn alles gut ging, würde sich das Risiko vielfach auszahlen. Wenn nicht … nun ja, darüber versuchte ich nicht nachzudenken.
Anfangs war ich voller Elan und überzeugt davon, den Job gut in den Griff zu bekommen. Alexa hatte mich aufgrund meines technologischen Wissens und meiner Fähigkeiten als Entwickler eingestellt, und ich wusste, dass ich sie diesbezüglich nicht enttäuschen würde. Das neue Produkt interessierte mich sehr, und die technischen Herausforderungen entsprachen mir absolut. Bei KB – wo ich Alexa zufolge wahre Wunder vollbracht hatte – war ich als der »Antworten-Mann« bekannt. Ich hatte immer wieder die schwierigsten technischen Probleme gelöst. Allerdings stand mir bei QTec noch eine weitere Herausforderung bevor – ich musste ein hoch qualifiziertes Vorzeigeteam von Experten leiten. Dieser Aufgabe sah ich mit gespannter Erwartung entgegen. Allerdings hatte Alexa mich darauf hingewiesen, dass ich gezielt an meinen kommunikativen Fähigkeiten sowie an meinen Führungsqualitäten arbeiten müsse.
Mein Team war allem Anschein nach eine motivierte und talentierte Truppe, und eine Weile lief alles gut. Doch dann begannen die Dinge aus dem Ruder zu laufen. Es war, als würde plötzlich ein greller Scheinwerfer auf meine Defizite gerichtet. Ich wagte nicht, es auszusprechen, aber insgeheim hatte ich das Gefühl, es mit lauter Versagern zu tun zu haben.
Zu allem Übel war da noch Charles. Man hatte ihn bei dem Job, der schließlich mir angeboten wurde, übergangen. Mir war klar, dass er mich womöglich ablehnen würde. Und wie erwartet, war er tatsächlich von Anfang an schwierig und hinterfragte alles, was ich sagte und tat.
Die Situation verschlechterte sich zunehmend. Vielleicht ging das QTec-Schiff noch nicht unter, wie mein Freund vermutet hatte, aber es war definitiv leckgeschlagen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich die Lecks stopfen sollte. Meine Teammeetings wurden zur Farce – wir konnten nichts konstruktiv miteinander besprechen, fanden zu keinen Lösungen und es herrschte keinerlei Teamgeist. Niemand musste mich daran erinnern, dass die Skeptiker recht behalten würden, wenn es uns nicht gelang, unser Produkt vor der Konkurrenz auf den Markt zu bringen.
Zu Hause war die Situation nicht viel besser. Die Spannungen zwischen mir und meiner Frau Grace, die ich vor knapp acht Monaten geheiratet hatte, nahmen zu. Ständig fragte sie mich, wie es in der Arbeit lief. Schließlich herrschte ich sie eines Tages an, dass sie zu viele Fragen stelle und ihre Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken solle. Sie war verletzt und ich fühlte mich deshalb mies, hatte aber überhaupt keine Idee, wie ich mich verhalten sollte.
Ich wollte nicht, dass Grace erfuhr, wie viele Probleme ich hatte. Ich war immer sehr stolz darauf gewesen, mit Aufgaben fertigzuwerden, die alle anderen ins Schleudern brachten. Mit etwas Glück würden sich auch dieses Mal die richtigen Lösungen einstellen, bevor Grace, Alexa und die Leute aus meinem Team herausfanden, dass der Job mich heillos überforderte. Unterdessen zog ich mich immer mehr in mich selbst zurück und versuchte mit aller Kraft, Tag für Tag zu überstehen.
Ich war verwirrt und überfordert. Alles in meinem Leben lief offenbar schief. Und schließlich eskalierte die Situation. Grace und ich hatten am Morgen einen Streit, und nur ein paar Stunden später kam es in der Firma zu einer größeren Krise. Niemand sprach es aus, aber ich konnte es an den Augen der anderen ablesen: Wir waren am Ende.
Das war mein Moment der Wahrheit. Ich musste allein sein und nachdenken. Grace hinterließ ich telefonisch eine Nachricht, dass ich eine Nachtschicht einlegen würde, um einen wichtigen Bericht fertigzustellen. Dann verbrachte ich die ganze lange Nacht in meinem Büro, starrte die Wände an, suchte verzweifelt nach den richtigen Antworten und durchlebte die schlimmsten Wochen meines Lebens aufs Neue. Ich sagte mir, dass ich der Wahrheit ins Auge blicken müsse: Ich hatte versagt. Am Morgen ging ich um kurz nach sechs hinaus, um mir einen Kaffee zu holen, und danach begann ich, meine Kündigung zu schreiben. Drei Stunden später war ich damit fertig, rief Alexa an und vereinbarte eine sofortige Unterredung.
Alexas Büro auf der Chefetage war nur knapp 100 Meter von meinem entfernt. An diesem Morgen kam mir der Weg dorthin wie 100 Meilen vor. Als ich die große Flügeltür zu ihrem Büro erreichte, blieb ich stehen und atmete einmal tief durch, um mich zu sammeln. Ich stand eine ganze Weile dort und versuchte, den Mut zum Anklopfen aufzubringen. Gerade als ich endlich meine Hand dazu hob, hörte ich eine Stimme hinter mir.
»Hallo Ben, Sie sind ja schon da. Gut, gut!«
Es war Alexa. Ihre Stimme war unverkennbar. Sie klang stets fröhlich und optimistisch, selbst wenn die Dinge nicht gut liefen. Alexa war eine selbstbewusste, attraktive, sportlich wirkende Frau Ende 40. Ich hatte Grace erzählt, dass ich noch nie jemandem wie Alexa begegnet sei. Sie nahm ihre Aufgaben bei QTec mit unerschöpflichem Enthusiasmus in Angriff. Nicht dass sie ihren Job nicht ernst genommen hätte. Sie nahm ihn sogar sehr ernst! Aber sie erledigte ihn mit so viel Spaß und Zuversicht, dass es mühelos wirkte.
In diesem Moment wurden mir meine Schwächen allein schon durch ihre Anwesenheit bewusst. Ich fühlte mich wie betäubt und murmelte ein kaum hörbares Guten Morgen, als sie meine Schulter berührte und mich in ihr Büro führte.
Der Raum war ausladend. Über einen tiefen, weichen, grünen Teppichboden ging ich bis zu einem großen Erkerfenster, vor dem sich der Besprechungsbereich befand, mit zwei dick gepolsterten Sofas, die sich gegenüberstanden, und einem Couchtisch aus Nussbaum dazwischen.
»Nehmen Sie doch bitte Platz!«, sagte Alexa und deutete mit einer einladenden Geste auf eins der Sofas. »Betty hat mir erzählt, bei Ihnen sei noch Licht gewesen, als sie gestern Abend um halb acht nach Hause ging, und Sie seien bereits hier gewesen, als sie heute früh herkam.«
Sie setzte sich mir gegenüber auf die andere Couch.
»Ich nehme an, das ist für mich?«, fragte Alexa und deutete auf die grüne Mappe mit meiner Kündigung, die ich auf den Couchtisch gelegt hatte.
Ich nickte und wartete darauf, dass sie die Mappe zur Hand nahm. Stattdessen lehnte sie sich auf dem Sofa zurück. Es wirkte so, als habe sie alle Zeit der Welt.
»Erzählen Sie mir doch mal, was mit Ihnen los ist«, forderte sie mich auf.
Ich deutete auf die grüne Mappe. »Das ist meine Kündigung. Es tut mir leid, Alexa.«
Das Nächste, was ich hörte, überraschte mich vollkommen. Es war kein Seufzen, keinerlei Vorwurf, sondern ein Lachen! Allerdings war es kein höhnisches Lachen. Was war mir entgangen? Ich verstand es nicht. Wie konnte Alexa angesichts all dessen, was ich vermasselt hatte, immer noch so freundlich sein?
»Ben«, sagte sie, »Sie werden jetzt nicht aussteigen.« Sie schob den Hefter in meine Richtung zurück. »Nehmen Sie das wieder an sich. Ich weiß mehr über Ihre Situation, als Ihnen bewusst ist. Ich möchte, dass Sie zumindest noch ein paar Monate bleiben. Aber Sie müssen sich dazu verpflichten, in dieser Zeit etwas zu verändern.«
»Sind Sie sich wirklich sicher?«, fragte ich sie verblüfft.
»Dazu möchte Ihnen gern Folgendes sagen«, entgegnete sie. »Vor vielen Jahren war ich in einer ähnlichen Situation wie Sie. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen. Wenn ich erfolgreich sein wollte, musste ich einige Dinge grundlegend...