Einleitung
Wer erschöpften Menschen begegnet, macht immer wieder die Beobachtung: Sie sind nicht nur resigniert und mutlos, sondern im buchstäblichen Sinn auch atemlos. Sie sprechen dann davon, dass sie Zeit brauchen, um wieder Atem zu schöpfen. Und wenn ich solche Menschen begleite, höre ich aus den Gesprächen auch heraus, wie sehr sie sich danach sehnen, neue Hoffnung zu schöpfen. Offensichtlich spüren sie in ihrer derzeitigen Verfassung in sich keine Quelle mehr, aus der sie schöpfen können. Das Bild der versiegten Quelle leuchtet in diesem Zusammenhang unmittelbar ein: Das, woraus wir sonst leben, gibt plötzlich nichts mehr her. Wer erschöpft ist, der fühlt sich leer und ausgetrocknet. Er ist auch nicht mehr schöpferisch. Er hat seine Kreativität verloren. Er spürt sich selber nicht mehr, ist unzufrieden, ausgelaugt und fühlt sich oft genug wie zertreten von den vielen Menschen, die ständig etwas von ihm wollen.
Heute spricht man nicht nur von Erschöpfung, sondern auch von burn-out oder von Ausgebranntsein. Es handelt sich dabei um die gleiche Erfahrung: Man hat keine Kraft mehr, spürt kein Leben mehr in sich. Gerade helfende Berufe leiden unter diesem Phänomen. Aber auch Menschen, die in anderen Zusammenhängen hoher Verantwortung stehen und sich hohem Leistungsdruck ausgesetzt fühlen, sind davon gefährdet: Als der Fußballtrainer Otmar Hitzfeld in einer Situation hohen öffentlichen Erwartungsdrucks gefragt wurde, ob er die deutsche Nationalmannschaft trainieren wolle, lehnte er das Angebot ab mit der Begründung, sein „Akku“ sei leer. Ein Manager meinte, er fühle sich ausgebrannt wie eine Rakete. Eine ausgebrannte Rakete kann man, wie jeder weiß, zu nichts mehr gebrauchen. Autos lassen an den Zapfstellen der Mineralölkonzerne gegen Geld wieder auftanken, wenn der Sprit verbraucht ist. Akkus lassen sich wieder laden. Doch wir sind keine Maschinen.
Wie steht es um unsere seelischen Energien, wenn wir uns kraftlos und „am Ende“ fühlen? Wie finden wir zurück zu den Quellen unseres Lebens?
Erschöpfte und ausgebrannte Menschen sehnen sich nach Energiequellen, aus denen sie schöpfen können. „Meine Energie-Quelle“, so warb eine Mineralwasserfirma auf großen Plakaten, eine andere verwendet den Slogan „Die Quelle reiner Kraft“ – und verbindet damit ebenso assoziativ die Werte: vital, kraftvoll, attraktiv, jung und gesund. Offensichtlich möchten sie auf die Sehnsucht der Menschen nach Frische und Lebendigkeit antworten. Bei vielen Managerkursen geht es heute vor allem darum, wieder „aufzutanken“, „den Akku aufzuladen“ und mit den eigenen inneren Kraftquellen in Berührung zu kommen. Die Psychologie spricht heute oft von seelischen Ressourcen. Das Wort stammt aus dem Französischen und bezeichnet einen Bestand, auf den man zurückgreifen, und ein Reservoir, aus dem man schöpfen kann. Es ist vom lateinischen Wort „resurgere“ abgeleitet, das „wiedererstehen“ bedeutet. Es ist das gleiche Wort, das in der Bibel für die Auferstehung Jesu verwendet wird.
Die Ressourcen sind oft verborgen unter einer dicken Schale. Sie müssen erst entborgen werden. Wenn ich an den inneren Kern heran komme, in dem – in nuce – alle Kraft gesammelt ist, dann wird genügend Energie in mein Denken und Tun fließen, dann wird etwas in mir aufblühen. In jedem von uns ist dieser innere Kern, voller Energie, voller Verheißung. Doch es braucht die Stille, um die Schale aufzubrechen, die diesen Kern umhüllt. Nur so wird er das Leben in uns zur Blüte bringen und reiche Frucht tragen.
Viele haben heute das Gefühl, dass die Quelle, aus der sie leben, trüb geworden ist. Sie hat ihre erneuernde Kraft verloren. Oder sie ist eingetrübt durch Haltungen, die der Seele nicht gut tun, oder durch Emotionen, die von außen her eine ursprüngliche reine Quelle beschmutzen. Da sehnen sich viele Menschen nach einer Klarheit, die erfrischt und Leben schenkt. Wenn ich in Vorträgen von den Quellen spreche, aus denen wir schöpfen, vor allem von den spirituellen Quellen, dann werde ich immer wieder gefragt: Wie komme ich denn in Berührung mit dieser inneren Kraft, die ich die Quelle des Heiligen Geistes nenne?
Ich spüre hinter solchen Fragen nicht nur die bewusste oder unbewusste Einsicht vieler in ihre krankmachende Lebenssituation. Ich spüre dahinter auch die starke Sehnsucht nach dem, was gesund macht und Kraft gibt.
Andere haben den Eindruck, dass ihre Quelle nicht mehr ungehindert strömt. Sie droht zu versiegen. Ihr Wasser verrinnt dann irgendwo im Erdreich. Beim Propheten Jeremia gibt es das Bild der rissigen Zisterne, deren Wasser in der umgebenden Erde nutzlos versickert. Die Bibel nennt Gott selbst die unerschöpfliche Quelle. Jeremia hält den Menschen vor, sie hätten Gott, den Quell des lebendigen Wassers verlassen, „um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“. (Jer 2,13) Das ist ein Bild, das heute viele anspricht: Sie wissen nicht, wo das Wasser geblieben ist, aus dem sie einmal geschöpft haben. Es ist versickert. Irgendwo.
Brunnen und Quellen gehören zu den Grundbildern unserer Kultur, weil wir ohne Wasser nicht leben können. Als die Mönche der Abtei Münsterschwarzach nach der Wiederbesiedlung des Klosters im Jahre 1913 einen Brunnen bohrten, stießen sie in 5 Metern Tiefe bereits auf Wasser. Doch das war nur Oberflächenwasser. Es versickerte schnell. Wenn es heiß wurde, hörte es auf zu fließen. Das Wasser war zudem vielen Trübungen ausgesetzt. Die Mönche mussten weiter bohren, bis sie in 80 Metern Tiefe endlich auf Grundwasser stießen. Dieses Grundwasser nun war fast unerschöpflich. Selbst wenn sie großen Wasserbedarf im Sommer hatten – der Grundwasserspiegel sank kaum.
Für mich ist das ein schönes Bild: Wenn wir nicht genügend in die Tiefe gehen, dann stoßen wir nur auf trübes Wasser. Manchmal scheinen diese Quellen durchaus klar zu sein. Wir können daraus unseren Durst stillen. Doch sobald wir eine Zeitlang daraus getrunken haben, versiegen sie. Es sind Quellen, die nur in der Oberfläche unserer Seele entspringen. Sobald es in unserem Leben hitzig wird, vertrocknen sie. Und sie trüben sich ständig durch die Einflüsse von außen. Manche Quellen sind auch in sich schon trüb, so dass sie nicht wirklich Energie spenden können. Wir dürfen also nicht an der Oberfläche bleiben, wenn wir klares, lebensspendendes Wasser haben wollen. Wir müssen vorstoßen bis zu jenen Quellen, die uns wirklich erfrischen, die unser Leben befruchten und die das Trübe in uns klären.
Jeder von uns kennt den Unterschied in seinem eigenen Alltag: Manchmal können wir viel arbeiten und wirken, ohne erschöpft zu werden. Wenn wir zum Beispiel im Urlaub an einem sonnigen Morgen aufstehen, trauen wir uns ohne weiteres eine große Wanderung zu. Sie macht uns an solchen Tagen trotz aller Strapazen auch Spaß. Und dann gibt es aber auch Tage, an denen wir nichts zuwege bringen. Wir fühlen uns müde und erschöpft. Wir haben keinen richtigen Antrieb. Bisweilen lähmt uns auch ein Gefühl von Unlust. Wir möchten gar nicht auf das schauen, was uns heute erwartet. Angst vor einem Mitarbeiter kann uns blockieren. Der Druck, dem wir uns in der Arbeit ausgesetzt fühlen, raubt uns alle Energie. Die Frage ist, woraus wir unsere Kraft schöpfen?
Wir können bei uns beobachten: Manchmal strömt es in uns selber, und es blüht dann auch um uns herum auf. Doch wir kennen auch das Gegenteil: dass wir uns erschöpft fühlen, unzufrieden und bitter. Wir können davon ausgehen: Immer wenn wir erschöpft sind, schöpfen wir aus einer trüben Quelle.
Erschöpft zu sein bedeutet etwas anderes als müde zu sein. Es gibt eine „redliche Müdigkeit“. Wenn wir von einer anstrengenden Wanderung nach Hause kommen, sind wir „rechtschaffen müde“. Aber in einer solchen Müdigkeit fühlen wir uns zugleich immer auch wohl. Wir spüren uns. Wir sind dankbar für das, was wir geleistet haben. Wir fühlen uns trotz allem lebendig. Auch wenn wir einen anstrengenden Arbeitstag hatten, sind wir müde. Aber diese Müdigkeit ist zugleich von Dankbarkeit erfüllt. Wir sind von dem positiven Gefühl bestimmt: Es hat sich gelohnt, sich für die Menschen einzusetzen.
Natürlich hängt die Müdigkeit in aller Regel auch mit dem Ergebnis der Arbeit zusammen. Wenn wir Erfolg hatten, dann ist es eine positive Müdigkeit, während ein Misserfolg uns unzufrieden macht. Aber zumindest fragen sollten wir uns immer dann, wenn wir erschöpft und bitter, unzufrieden und leer sind: Aus welcher Quelle haben wir gerade geschöpft? Dabei ist es ganz natürlich und keineswegs ungewöhnlich, dass wir immer auch aus trüben Quellen schöpfen. Die Aufgabe wäre es dann allerdings, dies auch wahrzunehmen und tiefer zu graben, um mit den klaren und erfrischenden Quellen in Berührung zu kommen.
Quellen haben seit jeher etwas Faszinierendes gehabt und als besondere Orte auch die Menschen angezogen. Wasser ist lebensspendend und Leben erneuernd. Weil das Quellwasser aus der Tiefe der Erde kommt und frei von Verunreinigungen ist, galten die Quellen immer als heilig und besonders schützenswert. Das Wasser einer Quelle löscht ja nicht nur den momentanen Durst, sondern sprudelt weiter und wird so zur Möglichkeit...