Raucher und Raubeine der 1990er-Jahre? Donnerwetter, ist das lange her. Es war eine andere Zeit, eine völlig andere Bundesliga. Damals gab es sie noch, diese «Typen», nach denen heutzutage alle lechzen und die so furchtbar selten geworden sind, wenn man den Gazetten und den Zuschauern Glauben schenken mag. Denke ich zurück an die Neunziger, dann sehe ich insbesondere die großen Umwälzungen in der Bundesliga. Der Fußball überhaupt hat sich in diesen zehn Jahren grundlegend verändert. Nicht nur zum Positiven. 1992 wurde die Champions League eingeführt, es war der Beginn des Pay-TV, Geld spielte eine immer größere Rolle und irgendwann war Fußball nicht mehr nur Samstag um 15.30 Uhr. Um es mit Zahlen zu unterfüttern: 1990 zahlten die Sender ARD und RTL 20 Millionen DM für die Übertragungsrechte der Bundesliga. Ende der Neunziger waren es dank Sat.1 und Premiere stolze 169 Millionen DM, im Vergleich zu heute immer noch Peanuts. Aber es zeigt: Pay-TV hat den Fußball entscheidend geprägt.
Dazu kam das Bosman-Urteil 1995. Meine Güte – viele dachten, das wäre das Ende des Vereinsfußballs. Zwar sind uns die Ablösesummen bei Spielertransfers erhalten geblieben, aber seither wurden die Fußballer immer reicher und viele Berater gleich mit. Ich habe immer gesagt: Die außergewöhnlichen Spieler sollen verdienen, was sie wollen. Das sind die, die den Fußball interessant machen. Aber wenn die Mittelmäßigen siebenstellig verdienen, wird es kompliziert.
Mit den Mittelmäßigen meine ich im Übrigen keinesfalls jene Spieler, um die es in dieser kleinen Fibel hier gehen soll: Raucher und Raubeine. Wenn ich mit ein wenig Abstand drauf schaue, glaube ich: Es gibt sie auch heute noch, aber mehr im verdeckten Raum. Die Profis unserer Zeit können nicht mehr in die Disco gehen, die machen es mittlerweile wie die Brasilianer: sie kochen zuhause, machen laut Musik und quälen ihre Nachbarn. Man muss sie verstehen. Aufgefallen sind Fußballer schon immer, ganz egal ob mit Oberlippenbärtchen oder im Pelzmantel. Aber dieses «sich unter allen Umständen Präsentieren» – ich verstehe es nicht. Es ist fast absurd, dass ein Aubameyang wöchentlich eine neue Maske aus dem Ärmel zauberte und niemand ernsthafte Konsequenzen in Erwägung zog. Nicolai Müller riss sich 2017 beim Propeller-Jubel das Kreuzband. Junge, wenn du nicht genau weißt, ob du sauber runterkommst, warum machst du es dann? Ausgefallene Jubelarien mit Grußbotschaften gehen mir furchtbar auf die Nerven. Aber das nur am Rande.
Die Neunziger waren außergewöhnlich: Sechsmal hieß der Deutsche Meister nicht FC Bayern München (zweimal Lautern, zweimal Dortmund, Werder, Stuttgart), damals waren die Bayern in Not, ich habe es hautnah miterlebt. Sechs Trainer in sieben Jahren. Die Roten Teufel vom Betzenberg, als Aufsteiger Deutscher Meister – das wird es nicht mehr geben. Wir beklagen heutzutage die Einseitigkeit der Liga. Undenkbar damals. Ich erinnere mich, wie Christoph Daum zu der Zeit der jüngste Meistertrainer wurde. Mit 38 Jahren. Da lache ich heute. Mit 38 Jahren gehörst du ja mittlerweile zum alten Eisen.
Ein letzter Gedanke noch, meine Damen und Herren: Ich habe mir die Raucher und Raubeine ganz genau angeschaut und habe herrlich geschmunzelt. Tolle Geschichten sind dabei. Länger verweilt habe ich zum Beispiel bei Uwe Wassmer. Was hatte der früher für eine Matte auf dem Kopf? Die Frisuren von damals sind noch einmal ein ganz eigenes Kapitel für sich. Schaut’s euch mal den Rudi Völler an. Nun gut – der läuft heute immer noch so herum. Ich wünsche ganz viel Freude beim Lesen und Stöbern in diesem kleinen Büchlein. Hätte ich nicht schon längst ein Exemplar, würde ich es mir sofort schenken lassen.
Habe die Ehre.
Fritz von Thurn und Taxis
Wenn es je einen Spieler gab, der Kiez und Kult des FC St. Pauli verkörperte, dann ihn. Volker Ippig war keiner, der zu St. Pauli passte – er war einer, der St. Pauli zu St. Pauli machte. Einer, der nie Star sein wollte und einen Fußballprofi auf die selbe Berufsebene stellte wie einen Hafenarbeiter. Einer, der nie die ganz großen Erfolge feiern konnte, aber bis heute Vereinslegende in Hamburg ist. Und eben einer, der die Karriere unterbrach, um Entwicklungshilfe in Nicaragua zu leisten.
Ippig ist ein Kind des Nordens: In Eutin geboren, beim TSV Lensahn das Kicken gelernt und dann mit 17 zu St. Pauli gewechselt. Dort lebte der Keeper plötzlich in einer Villa, weil Club-Boss Otto Paulick ihn bei sich aufnahm. Ausgerechnet dort wurde Ippig zum Punk, weil das Dorfkind in ihm erstmals in Berührung kam mit Kunst, Kultur und Dingen jenseits seines Tellerrandes. Als Ersatztorwart in der Oberliga bestand er sein Abi und machte sich erst mal auf den Weg nach Nicaragua: Freiwillige Sozialmonate, die heute für einen Kicker kurz vor dem Profi-Job nicht mehr denkbar, aber vielleicht keine schlechte Sache wären. Zuvor hatte er schon an einer Schule mit behinderten Kindern gearbeitet. Dinge, die ihn liebenswert für die Fans machten, aber unter den Profis wurde er damit zum Außenseiter. Während andere von größeren Eigentumswohnungen träumten, zog Ippig aus Paulicks Villa aus und lebte zeitweise in besetzten Häusern auf der Hamburger Hafenstraße, nahm an Demos teil, verteilte Flugblätter und brachte so auch viele Punks ans Millerntor. Das T-Shirt «Volker hört die Signale» war ein Verkaufshit.
In Zeiten, in denen die Vereine gerade erst anfingen, über Kommerzialisierung nachzudenken, entwickelten sich bei Pauli bereits Abneigungen gegen die Kombination von Fußball und Kohle und die Piratenflagge etablierte sich. Der blonde Schlussmann kehrte zurück und löste mit Rille Rietzke eine andere Torwartlegende ab. 1988 folgte der umjubelte Aufstieg in die Erste Bundesliga. Die Kiezkicker im Oberhaus, Ippig im Tor. Drei Jahre lang sorgten die Underdogs für Aufsehen. Gemocht wurden sie damals von keinem so wirklich. Dem DFB war der aufmüpfige Verein ein Dorn im Auge. In der Kulisse am Millerntor inklusive Ackerboden und gegen leidenschaftliche Fighter wollte niemand gerne kicken. Ippig selbst erzählt heute noch mit Freude, dass er auswärts sofort eine Gelbe Karte sah, wenn er den Ball langsamer als im Vollsprint hinter dem Tor holen ging.
In seinem dritten Erstliga-Jahr war der Kultkicker dann immer wieder verletzt. Zur entscheidenden Phase stand er aber komplett im Saft und trug mit seinen Paraden dazu bei, dass Pauli sich zumindest in die Relegation retten konnte. Gegen die Stuttgarter Kickers gab es zweimal ein 1:1. Auswärts lag man schon 0:1 hinten und hatte nur noch zehn Feldspieler, als Ippigs Reflexe und André Golkes Kopfball doch noch für ein Entscheidungsspiel auf neutralem Platz sorgten. Es sollte aber nicht sein. Die Kickers gewannen 3:1, stiegen auf und nach 65 Spielen mit 23 weißen Westen war für den Alternativen die Reise durch das Oberhaus zu Ende. Während der Club den Wiederaufstieg anstrebte und gut in die Saison startete, kämpfte Ippig um seine Karriere. Im Training knallte er auf eine Eisplatte, verletzte sich an der Wirbelsäule und litt unter Dauerschmerzen. Am elften Spieltag ging nix mehr. Das 0:2 gegen Eintracht Braunschweig sollte sein letzten Profispiel werden. Ein bitteres Ende für den erst 29-Jährigen.
Unvergessen bleibt neben seinen Besonderheiten ein Auftritt im aktuellen Sportstudio, bei dem er Moderator Bernd Heller mehrfach über den Mund fuhr, als der ihm sein Leben in der Hafenstraße madig machen wollte. Ippig, ganz typisch, machte nach der Karriere natürlich nicht nur Dinge, die man als Ex-Profi eben so macht. Zwar hatte er eine mobile Torwartschule, arbeitete unter anderem beim DFB und dem VfL Wolfsburg, aber er nahm eben auch Knochenjobs im Hamburger Hafen an. Auf dem Kiez ist er bis heute eine Vereinslegende. Einer, der nicht zum FC St. Pauli ging und deswegen Kult wurde, sondern einer, der zum FC St. Pauli ging und dem Verein das Kultimage mit verpasste. Einer wie Ippig, der mal kurz die Karriere für Entwicklungshilfe unterbricht, der mit dem Rad oder schwarz mit dem Bus zum Training kommt, den wird es nie mehr geben – nicht mal beim Kultklub St. Pauli.
Wenn einer seinem Spitznamen je alle Ehre machte, dann Gerald «Tarzan» Ehrmann. Die Lauternlegende verteidigte den Strafraum am Betzenberg wie sein Leben. Im Spiel von Roman Weidenfeller, Tim Wiese, Kevin Trapp und vielen weiteren Weltklasse-Keepern, aber auch an den Knochen vieler Stürmer, hinterließ Ehrmann seine Spuren. Es ist die Karriere eines Typen mit extrem harter Schale und weichem Kern.
Ehrmann wuchs in Tauberbischofsheim auf. Wenn man hier berühmt wird, dann eigentlich nur als Fechter. Fünf Olympiasieger kommen aus der baden-württembergischen Kreisstadt, darunter Ehrmanns Großcousine Anja Fichtel. «Gerry» hielt lieber Bälle als Säbel. Ziemlich gut sogar und das sprach sich bis Köln herum. Der 1. FC holte ihn 1977. 2000 Mark brutto gab es pro Monat für ihn. Hinter Nationalkeeper Toni Schuhmacher hatte er keine Chance, aber das war ihm egal. Er wollte lernen und Toni war ein guter Lehrmeister. Als Ehrmann genug Geld zusammen hatte, kaufte er sich einen Porsche, den er auch vierzig Jahre später noch besitzt. In sieben Jahren beim Effzeh gewann er mehr Titel als er Spiele machte, wurde zweimal Pokalsieger und einmal Meister ohne eigenes Mitwirken. Dennoch wurde er immer besser und besser und wechselte schließlich vom 1. FC zum 1. FCK.
Der Bodybuilder wurde sofort Fan-Liebling und in seinem Strafraum war der Teufel los. 1987 gab es gegen Erzfeind Waldhof Mannheim vier Elfer gegen Lautern. Als der 4:4-Ausgleich nicht zählte und Lautern verlor, mussten ihn ein halbes Dutzend Mitspieler...