91 Warum soll sich die Soziologie mit
dem Raum beschäftigen?
»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrükken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar« (Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise, 1929).
Mit der größten Selbstverständlichkeit gehen die meisten Soziologen und Soziologinnen von der Annahme aus, es gäbe keine menschliche Existenz außerhalb von Raum und Zeit. Dem ist wenig entgegenzusetzen, solange Raum und Zeit nicht essentiell verstanden werden, sondern als etwas, was konstituiert werden muß. Erstaunlich ist nun, daß mit der gleichen Sicherheit, mit der Zeit als soziale Konstruktion verstanden wird, mittels derer Menschen die Differenz von Vergangenheit und Zukunft organisieren, Raum als materielles Substrat, Territorium oder Ort entworfen wird. Namhafte Soziologen wie Peter L. Berger/Thomas Luckmann (19723, orig. 1966), Talcott Parsons (1977) und Anthony Giddens (1988a) verfahren in dieser Weise. Die Crux ist dabei, daß dieses Verständnis von Raum in erster Linie als materielles Objekt dazu führt, daß Raum in vielen soziologischen Projekten als nicht weiter bemerkenswert, bestenfalls als in Untersuchungen auszuschließende »Umweltbedingung« erachtet wird. Als Elisabeth Konau 1977 ihr Buch »Raum und soziales Handeln« veröffentlicht, spricht sie im Untertitel von »einer vernachlässigten Dimension soziologischer Theoriebildung«. Vierzehn Jahre später, 1991, kommt Dieter Läpple in seinem viel zitierten »Essay über den Raum« immer noch zu der Schlußfolgerung, daß die dominanten Gesellschaftswissenschaften von einer offensichtlichen »Raumblindheit« (Läpple 1991, 163) geprägt seien.
10Dies ändert sich nun. Zwar wird nach wie vor die Kategorie Zeit wesentlich systematischer als Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit diskutiert als die des Raums – mit der Biographieforschung etabliert sich geradezu eine Wissenschaft der Zeit[1] –, aber auch zum Thema Raum erscheint in den letzten Jahren eine Vielzahl von Aufsätzen. In einer kürzlich (1998) veröffentlichten Schrift von Ursula Nissen zu »Kindheit, Geschlecht und Raum« kommt diese erstmals zu dem Resümee, »daß nach langer Zeit der Vernachlässigung der Kategorie ›Raum‹ in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung seit den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkt Anstrengungen unternommen werden, diesen Zustand zu überwinden« (Nissen 1998, 136).
In dem neu entstandenen Interesse zeigt sich, wie sehr die Sicherheit über den Raum in eine Krise geraten ist. Durch schnelle Transporttechnologien, sekundengenaue Übertragungen von Informationen über die ganze Welt, schließlich auch durch die neuen Möglichkeiten, sich in virtuellen Räumen zu bewegen, scheint der Raum im Sinne eines materiellen Substrats völlig bedeutungslos zu werden.[2] In den Massenmedien wird deshalb gerne von der Auflösung des Raums gesprochen. Die Zeitung »Die ZEIT« veröffentlicht zum Beispiel regelmäßig Artikel in dem Tenor, daß der Mensch das »aus seiner Raumdimension gefallene Wesen« (Guggenberger 1985, 43) sei, der Schriftsteller und Regisseur Heiner Müller erklärt in einer TV-Produktion wie in der daraus folgenden Publikation Alexander Kluge gegenüber, daß das Schlimme sei, »daß es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr« (Kluge/Müller 1995, 80). Der französische Architekt und Philosoph Paul Virilio vertritt die viel zitierte These, daß von Menschen »nicht mehr der Raum, sondern die Zeit (...) bevölkert« (Virilio 1983, 16) werde.
11Tatsächlich ist es nicht der Raum, der »verschwindet«, sondern die Organisation des Nebeneinander ist grundsätzlich verschieden, ob ein Brief Wochen braucht, um von Europa nach USA zu gelangen, oder ob eine E-Mail in Sekunden übermittelt wird. Und obwohl diese Entwicklung, daß Informationen in immer kürzeren Zeitspannen übertragen werden können, nicht neu ist, scheint sie durch die neusten technologischen Errungenschaften, insbesondere dem Mythos, der vom Internet ausgeht, ins Bewußtsein zu dringen. Auch andere gesellschaftliche Prozesse wie die Umstrukturierung städtischer Räume, verinselte Vergesellschaftungserfahrungen und sich verändernde Körpervorstellungen tragen dazu bei, daß Raum wieder als Problem wahrgenommen wird.
Die zeitliche Distanz zu der u.a. territorial begründeten Expansionspolitik der deutschen Nationalsozialisten ermöglicht eine langsame Wiederannäherung an die Kategorie Raum. In der Nachkriegszeit ist es zunächst zu einer Tabuisierung jeder Bezugnahme auf Raum gekommen, um einen möglichen Verdacht von Argumentationen im Sinne einer »Volk ohne Raum«-Politik von sich zu weisen. Noch in den 70er Jahren gilt es häufig als reaktionär, sich mit Raum zu beschäftigen. So schildert zum Beispiel Michel Foucault, der sich in seinem wissenschaftlichen Werk durchgängig mit Raumphänomenen beschäftigt, in einem Gespräch mit Jean-Pierre Barou und Michelle Perrot einen typischen Disput:
»I remember ten years or so ago discussing these problems of the politics of space, and being told that it was reactionary to go on so much about space, and that time and the ›project‹ were what life and progress are about« (Foucault 1980b, 150).
Die bewegte Zeit gilt als Thema der Zukunft. Raum haftet nicht nur die Vorstellung des Starren an, sondern erinnert auch an die geopolitischen Argumentationen im 2. Weltkrieg. In der Soziologie führt die negative Besetzung des Wortes »Raum« – weit über die Grenzen Deutschlands hinaus – zu einer Abkehr von theoretischen Auseinandersetzungen um den Raumbegriff. Einige Autoren und Autorinnen fordern heute konsequenterweise, eine erneute Betrachtung von Raumphänomenen mit einer Theoriediskussion um den Raumbegriff zu verbinden (zum Beispiel Läpple 1991).
12Durch die Tabuisierung ist der Raumbegriff in den letzten Jahrzehnten kaum weiter ausgearbeitet worden. Heute ist zu beobachten, daß einerseits räumliche Neustrukturierungen als gesellschaftliche Prozesse empirisch erhebbar sind, andererseits der zur Analyse eingesetzte Begriff nur die Schlußfolgerung zuläßt, daß Raum abstrakt wird. Nun drängt sich die Frage auf, ob der angewendete Begriff die sozialen Phänomene und seine vermutlichen Entstehungsbedingungen noch erfaßt.
Dabei wird Raum durchaus als soziologischer Grundbegriff geführt, so zum Beispiel in Nachschlagewerken wie Bernhard Schäfers »Grundbegriffe der Soziologie« (19954), jedoch nicht ohne den Hinweis, daß es sich hierbei um ein gemeinhin vernachlässigtes Thema handle. An dieser Stelle nimmt die vorliegende Schrift ihren Ausgangspunkt. Die Frage, die dem Buch zugrunde liegt, lautet, wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden kann, um aufbauend auf dieser Begriffsbildung eine Raumsoziologie zu formulieren. Im folgenden soll deutlich werden, daß die Soziologie nicht auf den Begriff des Raums verzichten kann, da mit ihm die Organisation des Nebeneinanders bezeichnet wird. Die Mikrosoziologie bedarf des Raumbegriffs, um jene Gebilde benennen zu können, die sich durch die Verknüpfung verschiedener sozialer Güter bzw. Menschen miteinander herausbilden und die als solche Handeln strukturieren. Die Makrosoziologie kann mit dem Raumbegriff die relationalen Verknüpfungen begrifflich fassen, wie sie infolge technologischer Vernetzungen oder städtischer Umstrukturierungen entstehen und als solche Lebensbedingungen prägen.
Dazu kann nicht umstandslos auf einen bereits entwickelten Raumbegriff zurückgegriffen werden. Die bisherige Nutzung des Raumbegriffs in der Soziologie oder in angrenzenden Disziplinen kann Ansatzpunkte bieten. Es wird deutlich werden, daß die Verwendung des Raumbegriffs für Territorien oder im Sinne einer Lokalisierung an Orten nur Aspekte der Konstitution erfaßt. Dies gilt auch für die vereinzelte Nutzung des Raumbegriffs im Sinne Kants als ordnendes Prinzip a priori.
Die aktuellen Arbeiten zu einem neuen Raumbegriff haben bislang noch selten den Charakter systematischer Ableitungen, sondern sind als Annäherungen an eine neue Sicht auf Räume zu lesen. Da es sich dabei meist um Aufsätze oder kurze Abhandlungen in Büchern zu einem anderen Thema handelt, bleibt dem 13raumtheoretisch ungeschulten Leser das Ausgeführte in der gebotenen Kürze meist unklar.
Die empirische Sozialforschung hat eine Reihe von Untersuchungen zur gesellschaftlichen Organisation von Räumen hervorgebracht, bislang fehlt aber eine theoretisch konsistente Vorstellung von den Verbindungen zwischen den einzelnen Phänomenen. So gibt es eine Vielzahl empirischer Untersuchungen z.B. über Nutzungsmöglichkeiten des gebauten Raums,...