1 Im Gewitter
Portugal · Deutschland
Let’s see colours that have never been seen
Let’s go places no one else has been (…)
Well if the sky can crack there must be some way back
To love and only love.
Lass uns Farben sehen, die noch nie ein Mensch
gesehen hat,
Lass uns an Orte gehen, an denen noch niemand
gewesen ist (…)
Wenn der Himmel sich einen Spalt öffnen kann,
dann muss es einen Weg zurück geben,
um zu lieben und nur zu lieben.
U2 – »Electrical Storm«
Als ich auf den beeindruckenden Klippen des Kap São Vicente stand, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, dass sich mein Leben sehr bald dramatisch verändern würde. Wir hatten unser Zelt am südwestlichsten Punkt Europas unter einem fantastischen Sternenhimmel aufgeschlagen, weit weg von den Lichtern einer Stadt.
Schon seit Tagen zogen Nick und ich in westlicher Richtung die portugiesische Algarve entlang. Abends ließen wir uns auf den Klippen nieder und grillten frischen Fisch am Lagerfeuer. Tagsüber ließen wir unsere Rucksäcke im Sand liegen, eroberten den Strand und stürzten uns in die Wellen.
Die Abschlussprüfungen an der Londoner Universität waren bestanden und nun lag sie vor uns, unberührt und weiß, wie die schneebedeckten Gletscher der Alpen: unsere Zukunft. Wir genossen das Leben in vollen Zügen, waren sonnengebräunt, die ungekämmten Haare vom Meer ausgeblichen.
Schon viele Tage waren wir unterwegs, das Meer zu unserer Linken, als in einem aufregenden Moment das Wasser nun auch zur Rechten auftauchte. In den letzten Tagen wurde die Landzunge von Kilometer zu Kilometer immer schmaler, bis zu dem Punkt, an dem wir jetzt standen. Wie ein Ausrufezeichen hinter Europa markierte ein einsamer Leuchtturm die Stelle, an der die zwei Ozeane mit voller Wucht zusammentrafen.
Kap São Vicente hat etwas Absolutes an sich. Es erinnert an eine karge Mondlandschaft, und unaufhörlich schlagen die Wellen gegen diese gewaltige Festung der Natur, selbst die schwarzen Raben kreisen weit unter dir, wenn du von da aufs Meer hinausblickst. Nur wenige Dinge im Leben scheinen so sicher wie diese Felsen. Es ist keine schöne Bilderbuchlandschaft, aber jeder spürt, dass sie eine Bedeutung hat, auch wenn man sie nicht in Worte fassen kann.
Schon immer haben sich die Menschen zu dieser geheimnisvollen Einöde hingezogen gefühlt, die in Tausenden von Jahren durch die kollidierenden Brandungen des Atlantiks und des Mittelmeers geformt wurde. In der Bronzezeit begruben die einheimischen Stämme hier ihre Toten und errichteten massive Gedenksteine. 304 nach Christus brachten trauernde Mönche die Überreste von St. Vincent, dem Märtyrer, hierher. Die Legende sagt, dass seine Knochen von den Raben bewacht wurden. So wurde dieser Ort nach dem Märtyrer benannt und in den darauf folgenden Jahrhunderten zur Pilgerstätte für christliche und moslemische Gläubige. Die Römer glaubten schlicht und einfach, dass hier die Welt zu Ende war. Es sollten noch Jahrhunderte vergehen, bevor die Europäer Amerika »entdeckten« – weit hinter dem scheinbar unverrückbaren blauen Horizont.
Aber als ich damals in dieser Nacht da stand, kannte ich die Geschichte dieses Ortes nicht. Ich spürte nur etwas unendlich Trauriges, aber auch Besonderes an diesem Ort. Nick und ich schlugen unser kleines grünes Zelt genau auf den Klippen auf und lachten uns darüber tot, dass wir für eine Nacht die südwestlichsten Bewohner Europas sein würden. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen, also schlüpfte ich lautlos aus dem Zelt und ließ Nick leise schnarchend zurück. Eine atemberaubende Aussicht empfing mich: Der unendliche, bedrohliche Ozean tobte unter dem schimmernden Firmament ewiger Sterne. Als hätte ich mich in den Zweigen eines gigantischen Weihnachtsbaums verlaufen.
Südlich von mir wäre der nächste feste Boden unter meinen Füßen der afrikanische Kontinent, im Westen Amerika. Dann drehte ich mich um, und, mit dem Rücken zum Meer, stellte ich mir Europa vor, wie es sich vor meinen Füßen über die nächsten 15 000 Kilometer erstreckte. Hier, wo ich stand, war der Kontinent nur eine Handvoll Felsbrocken und ein kleines grünes Zelt, doch jenseits davon breiteten sich vor meinem unsichtbaren Auge Portugal und Spanien, Frankreich und die Schweiz, Italien, Deutschland, Ungarn und viele weitere Länder aus. Schließlich würde dieser Kontinent in Russland, China und der indischen Halbinsel münden.
Als ich mir ein Land nach dem anderen vorstellte, erhob ich die Hände und begann für jedes einzelne namentlich zu beten. Und dann geschah es. Zuerst kribbelte meine Kopfhaut, und dann jagte ein Stromstoß mein Rückgrat hinunter, wieder und wieder. Mein Körper zitterte. Noch nie zuvor ist mir so etwas passiert. Und es sollte auch noch Jahre dauern, bevor ähnliche geistliche Erfahrungen auftauchen würden, die dann mit »Toronto-Segen« umschrieben wurden. Über mir hörte ich ein summendes, klickendes Geräusch, als ob Stromkabel aneinanderschlügen. Zu Tode erschrocken fragte ich mich, ob ich gleich geröstet werden würde. Diese eigenartigen Dinge hielten an und ich hatte eine Vision. Meine Augen standen offen, doch ich konnte mit absoluter Klarheit die verschiedenen Länder vor mir »sehen«, wie in einem Atlas. Aus jeder Seite eines jeden Landes stieg eine Armee von unscheinbaren jungen Menschen, Massen aus jedem Land, die auf ihre Befehle warten.
Ich habe keine Ahnung, wie lange die Vision anhielt – vielleicht war es nur eine Minute, vielleicht auch eine Stunde. Schließlich kletterte ich wieder in meinen Schlafsack neben Nick, der immer noch still vor sich hin schnarchte. Noch immer drehte sich alles in meinem Kopf, und so fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Mein Leben würde niemals mehr dasselbe sein.
Zwei Jahre früher. Leipzig, damals noch DDR. Armeefahrzeuge säumten die Straßen, bewaffnete Soldaten und Polizisten, wohin das Auge blickte. Auf den Dächern Scharfschützen. In den Kirchen sollten Notlazarette eingerichtet worden sein. Gab es einen Schießbefehl?
Wie gebannt verfolgte der Junge die Bilder, die er in den Abendnachrichten sah.
»Da ist Vati doch auch gerade!«, rief Markus Lägel seiner Mutter zu. Eigentlich müsste er längst wieder da sein! Was ist, wenn es wieder so wird wie gestern? Oder vorgestern zum 40. Jahrestag der DDR, als die Demonstrationen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten? Pfarrer Führer, der diese Friedensgebete initiiert hatte, beschrieb diesen Tag wie folgt: »An diesem Tag schlugen Uniformierte zehn Stunden lang auf wehrlose Menschen ein, transportierten sie ab in Lastwagen. Hunderte von ihnen wurden in Markkleeberg in Pferdeställe gepfercht.« Was ist, wenn es diesmal wieder so ist? Und sein Vater mittendrin! Doch er kam heim an diesem Montag. Ihm war nichts passiert. Über Umwege gelangten sie aus der Stadt, wurden jedoch zweimal von der Polizei angehalten. Trotzdem würde Markus’ Vater nächsten Montag wieder da sein. Aber dann wäre Markus mit dabei! Diesmal durfte er noch nicht. Er war erst 13. Doch in drei Tagen feierte er seinen 14. Geburtstag. »Dann darf ich mitfahren. Und ich werde mitfahren.«
Was Markus eine Woche später sah, war das Gewaltigste, was er in seinem jungen Leben erlebte. Und ist es bis heute geblieben:
Tausende Menschen trafen sich – zum Beten. Zum Beten für den Frieden. Um 18 Uhr sollten die Gebetsstunden losgehen. Eigentlich in der Nikolaikirche. Aber die war schon voll. Und dabei war es erst 4 Uhr nachmittags! So gingen Markus und seine Eltern zur Thomaskirche. Auch die war voll, aber sie fanden noch einen Platz. Sie waren eine Familie. Nicht nur sie drei. Alle. Alle, die jetzt in dieser Kirche waren. Alle, die jetzt in ALL den Kirchen waren. Die Menschen saßen und standen, wo immer sie noch einen Platz fanden. Die Kirchenbänke waren schon lange voll. Die Kirche schien aus allen Nähten zu platzen. Die Menschen sprachen einfache, aber ehrliche Gebete. Viele glaubten nicht mal an Gott. Aber wer sonst kann jetzt noch helfen? Als am Ende alle sangen: »Dona nobis pacem« – »Bring uns Frieden, Herr!« –, hatten sie das Wunder erlebt, das eine Woche davor auch schon passiert war.
»… als wir, mehr als 2000 Menschen, aus der Kirche kamen – den Anblick werde ich nie vergessen –, warteten Zehntausende draußen auf dem Platz. Sie hatten Kerzen in den Händen. Und wenn man eine Kerze trägt, braucht man beide Hände. Man muss das Licht behüten, vor dem Auslöschen schützen. Da kann man nicht gleichzeitig noch einen Stein oder Knüppel in der Hand halten. Und das Wunder geschah. Der GEIST JESU der Gewaltlosigkeit erfasste die Massen und wurde zur materiellen, zur friedlichen Gewalt.«
Schon zehn Jahre eher – seit 1979! – hatten Menschen damals in Leipzig in der Nikolaikirche angefangen zu beten. Jeden Montag. Für Frieden und für Gerechtigkeit. Zehn Jahre lang! Hatten Leid und Diffamierungen auf sich genommen. Es war nicht einfach, sein Christsein zu leben. Trotzdem: Im Oktober 1989 waren es Zehntausende, die sich den Friedensgebeten angeschlossen hatten.
Zehntausende Menschen mit Kerzen. Sie stellten die Kerzen vor den Füßen der bewaffneten Soldaten und der Polizisten ab. Die Treppen zu dem Gebäude, in dem die Staatssicherheit sitzt – die Organisation, welche die Menschen bespitzelt, misshandelt und verkauft hat –, sind gesäumt mit Kerzen. Wie ein...