1. Einleitung
1.1. Gegenstand der Untersuchung und Fragestellung
„Der Föderalismus unserer Zeit kann [...] nur ein kooperativer Föderalismus sein“ (Kommission für die Finanzreform, 1966, S. 20)
„Die Schweiz wird föderalistisch sein, oder sie wird nicht sein“ (Werner Kägi, 1944, S. 44 )
„Most people have little interest in abstract debates that argue which level of government should be responsible for a given task. What people care about is getting the policies they want“ (David Nice, 1987, S. 24)
Die Zitate stammen aus drei klassischen Bundesstaaten und widerspiegeln doch ganz unterschiedliche Ziele, die mit dem Föderalismus erreicht werden sollen. Bundesstaat ist also nicht gleich Bundesstaat, und die Entscheidung für die föderale Ordnung kann offenbar verschiedene Gründe haben. Es wird noch genauer darauf zurückzukommen sein, was überhaupt Föderalismus ist und wodurch genau föderale Staatsorganisation sich kennzeichnet. Bei aller Diskussion ist sämtlichen Definitionsversuchen jedoch eines gemeinsam: Als föderal gelten nur Staaten, die mindestens zwei Regierungsebenen kennen, welche jeweils über ein gewisses Maß an Unabhängigkeit verfügen (z.B. Reagan 1972: 3; Schultze 1991: 157; Wheare 1951: 11). Diese doppelte Staatlichkeit provoziert zwangsläufig mehr Konflikte und erfordert häufiger Verhandlungen, als dies in zentralistischen Staaten der Fall ist. In den meisten Föderalstaaten besteht also eine ständige Diskussion darüber, wie genau die bundesstaatliche Ordnung ausgestaltet werden solle (vgl. Renzsch 2005: 91). Diese Debatte findet nicht nur zwischen Vertretern der Gliedstaaten und Repräsentanten der Bundesebene statt, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur. Die Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sind in besonderem Maße daran beteiligt, Reformbedarf aufzuzeigen und Lösungen zu diskutieren. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu untersuchen, wodurch in konkreten Fällen Reformbedarf ausgelöst wird, welche Lösungen diskutiert werden und warum womöglich unterschiedliche Ergebnisse zustande kommen. [1]
Nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist dagegen, durch den Vergleich des Reformbedarfs in verschiedenen Staaten eine Art perfekten Föderalismus herauszuarbeiten und so einen normativen oder effizienztheoretischen Beitrag zur Bundesstaatsforschung zu leisten. Vielmehr sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob der wahrgenommene Reformbedarf tatsächlich zu entsprechender Reformpolitik führt, ob und unter welchen Bedingungen also eine föderale polity in der Lage ist, sich neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Dabei soll vermieden werden, mit einer Einzelfallstudie womöglich interessante, jedoch nicht verallgemeinerungsfähige Ergebnisse zu erzielen.
Der vorliegende Vergleich Deutschlands, der Schweiz und der USA bedeutet hingegen, drei Fälle zu untersuchen, die sich in Grundzügen ähneln (Demokratie, Föderalismus, hoch entwickelte Marktwirtschaft). Durch Industrialisierung, Tertiärisierung, technologischen Wandel und internationale Zusammenarbeit sehen sich ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften vergleichbaren Herausforderungen gegenüber. So entstehen staatenübergreifend institutionenpolitische Trends, die jeweils zeitgemäße Lösungen für Strukturprobleme versprechen (z.B. die Planungseuphorie in den 1960er Jahren und die Rückkehr des Wettbewerbsgedankens seit den 1980er Jahren, s. dazu J.J.Hesse/Benz 1990: 41ff, 72f; Grotz 2007: 38f). Es gilt zu zeigen, dass derartige Leitideen auch die Diskussion über die Reformbedürftigkeit der jeweiligen föderalen Ordnung etwa gleichzeitig in dieselbe Richtung lenken. Dies muss im Übrigen nicht bedeuten, dass die konkreten Reformvorschläge über die gemeinsame Ausrichtung hinaus völlig identisch wären.
Trotz dieser übergeordneten Einflüsse betreiben die drei Föderalstaaten jedoch höchst unterschiedliche Reformpolitik. Dass sie hinsichtlich ihrer spezifischen Entwicklungspfade, nationaler institutioneller Arrangements und Akteurkonstellationen große Unterschiede aufweisen, deutet darauf hin, dass nicht der international induzierte Reformbedarf, sondern endogene Faktoren darüber entscheiden, ob und wie Reformen stattfinden (s. Grotz 2007: 39).
Die vergleichende Untersuchung dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede verspricht, Regelmäßigkeiten aufzudecken, die der Einzelfallstudie verborgen blieben und soll die angesprochene Diskrepanz zwischen Reformbedarf und Reformpolitik erklären (vgl. Schmidt 2003: 261f). Daraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:
Warum kommt es in den drei Föderalstaaten trotz ähnlich wahrgenommenen Reformbedarfs zu unterschiedlicher Reformpolitik?
Die Untersuchung dieser Fragestellung setzt voraus, dass die Hypothesen „Der Reformbedarf ist ähnlich“ und „Die Reformpolitik ist unterschiedlich“ empirisch bewiesen werden. Wenn der Reformbedarf tatsächlich durch gemeinsame institutionelle Trends beeinflusst wird, muss auch dies empirisch gezeigt werden. Schließlich gilt es, und hierin besteht das hauptsächliche Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, die spezifischen endogenen Faktoren zu ermitteln, die in den jeweiligen Staaten zu unterschiedlicher Reformen führen. In den folgenden Kapiteln werden jedoch zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen dargestellt, die eine systematische empirische Untersuchung ermöglichen.
1.2. Forschungsstand
Ein Beitrag der vorliegenden Arbeit zur Föderalismusforschung besteht darin, den Einfluss internationaler institutioneller Leitideen auf die Wahrnehmung der Reformbedürftigkeit der bundesstaatlichen Ordnung aufzuzeigen. Vor allem aber soll bewiesen werden, dass nicht der so wahrgenommene Reformbedarf, sondern endogene Faktoren ausschlaggebend für tatsächliche Reformen sind. Diese Diskrepanz von Wahrnehmung und Ergebnissen ist bislang nicht untersucht worden, es können also keine theoretischen oder empirischen Erkenntnisse dokumentiert werden. Zwar bestehen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich mit Politikdiffusion oder dem Einfluss supranationaler Organisationen auf Nationalstaaten beschäftigen, die methodischen Konzepte dieser Ansätze haben jedoch wenig mit jenem der vorliegenden Arbeit gemeinsam. Die Auswahl an theoretischer Literatur über endogene Ursachen von Wandel in Föderalstaaten ist dagegen üppig, zudem bestehen zahlreiche ausführliche Fallstudien zu Deutschland und den USA. Für die Schweiz ist die politikwissenschaftliche Literatur etwas weniger ergiebig.
Die meisten Autoren sind sich einig, dass internationale Einflüsse das nationale Institutionengefüge beeinflussen, auch wenn die vorliegende Frage nach der Bedeutung gemeinsamer institutioneller Leitideen für Reformbedarf und Reformpolitik so nicht diskutiert wird. Meist beschränken sich die einschlägigen Untersuchungen auf jüngere „Tendenzen der Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung nationalstaatlicher Politik“ (Braun 2002: 99; s.a. Fallend 2001, Knill/Lehmkuhl 2000). Vor allem zum Einfluss der Europäisierung bestehen zahlreiche Studien, die sich oft jedoch nur unter anderem mit Bundesstaaten beschäftigen (z.B. Anderson 2002; Börzel 2002, Sciarini et al. 2004). Diese Varianten der „Mehrebenenanalyse“ (Sturm 2000: 29) sind für die vorliegende Arbeit nur beschränkt relevant, da sie nicht allgemeine Rahmenbedingungen, sondern den speziellen Einfluss der supranationalen Einrichtung EU auf deren Mitglieder behandeln. Die Erforschung der EU-unabhängigen „Politikdiffusion“ dagegen beschränkt sich bislang noch auf die Verbreitung von policies und hat weder zur Staatsorganisation im Allgemeinen, noch zur Föderalismusreform im Besonderen theoretische Konzepte hervorgebracht, die hier von Bedeutung sein könnten (vgl. Haas 1992; Holzinger/Knill 2005)
Die Literatur zur Diskussion über die endogenen Bedingungen, welche die Entwicklung föderaler Systeme beeinflussen, ist hingegen breiter gefächert und vor allem von zwei Ansätzen geprägt (Sturm 2000: 29). Der historische Institutionalismus betont die Pfadabhängigkeit institutionellen Wandels: „Aus dem Zusammenwirken eigentümlicher institutioneller Ausgangsbedingungen und kultureller Orientierungen [resultieren] institutionelle Weichenstellungen (oder »critical junctures«)“, die den weiteren Entwicklungspfad eines Staates bestimmen (Lehmbruch 2002: 5). Diese Definition ist auf den deutschen Bundesstaat bezogen, das Konzept der Pfadabhängigkeit ist jedoch über dessen Grenzen hinaus verbreitet (z.B. Abromeit 1992: 33ff; Benz 2001: 19ff; Elazar 1976: 19; Neidhart 2001: 123f; Schultze/Zinterer 2001: 273; Weaver/Rockman 1993: 36). Dabei ist keineswegs nur die traditionelle Ausgestaltung des Verhältnisses der föderalen Ebenen relevant; ebenso können Regimetyp, Verfassungsgerichtsbarkeit oder Parteiensystem den Entwicklungspfad der bundesstaatlichen Ordnung beeinflussen, einengen und verstetigen (s. Lehmbruch 1998: 9; Weaver/Rockman: 7ff).
Nicht auf Institutionen im engeren Sinne bezogen sind Ansätze, die Gestalt und Wandel der föderalen Staatsorganisation mit Rahmenbedingungen erklären, die nicht unmittelbar dem politischen System und seiner Verfassungsordnung entstammen, seinen Entwicklungspfad jedoch entscheidend...