HERBERT KÖNIG BETRITT DIE BÜHNE
Das war kein einfacher Jobwechsel, als der 26-jährige Magdeburger Redaktionsvolontär Herbert König 1970 die Volksstimme, die Tageszeitung der SED-Bezirksleitung, verließ und als journalistischer und kulturpolitischer Mitarbeiter an das örtliche Theater ging. Der gebürtige Magdeburger war keineswegs unbekannt in seiner Heimatstadt, der „Stadt des Schwermaschinenbaus und des Schwimmsports“, denn er war Wasserballer beim SC Aufbau Magdeburg im Jahrzehnt von 1960 bis 1970. In diesen Jahren stieg Magdeburg, nach den goldenen Jahren des achtfachen deutschen Vorkriegsmeisters Hellas Magdeburg, zum zweiten Mal zur führenden gesamtdeutschen Wasserballmetropole auf.
Wasserball war unter sozialistischer Ägide für ein Jahrzehnt lang ein staatlich geförderter Hochleistungssport und den Aktiven, den sogenannten Leistungssportlern, auch unter dem Begriff „Staatsamateure“ bekannt, öffneten sich die von den meisten Jugendlichen begehrten drei Zukunftstore in der DDR: das Tor zum Abitur an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) und zum (Fern-)Studium, das Tor zur eigenen Neubauwohnung und – ging alles gut – das Tor zum westlichen Ausland einschließlich Westdeutschland. Herbert König war Schüler der KJS Magdeburg und ein begabter Center. Die Position und Funktion des Centers im Knochenjob Wasserball ist auf verblüffende Weise nicht unähnlich der Position und Funktion des Regisseurs im Theater. Was zeichnet einen guten Centerspieler aus? Was muss er können? Der Centerspieler einer Mannschaft befindet sich beim Angriff seiner Mannschaft etwa auf Höhe der gegnerischen Zwei-Meter-Linie möglichst mittig vor des Gegners Tor. Wird er angespielt, versucht er den Ball entweder selbst ins Tor zu werfen oder er spielt ihn so ab, dass ein besser postierter Mitspieler erfolgreich werfen kann. Der Center ist der einzige Spieler während eines Angriffs, der die Sicht nach hinten hat, ist er doch mit dem Rücken zum gegnerischen Tor positioniert. So wird er zum Taktgeber und Inszenator des Angriffsspiels seiner Mannschaft.
Der erfolgreiche Center muss mit minimalem körperlichen Aufwand seine Position im Wasser erkämpfen und behaupten, scharf die Entwicklung und die Wendungen des Spiels beobachten und geduldig auf den rechten Moment warten, um entweder den eigenen Wurf zu riskieren oder sich für ein Zuspiel zum Mitspieler zu entscheiden – Verantwortung abgeben und Verantwortung auf sich nehmen, das Spiel der eigenen Mannschaft auf sich zukommen lassen und den Ball immer von neuem verteilen, dabei stets vom gegnerischen Abwehrspieler im Rücken hautnah und oftmals unfair bedrängt. Ein eigener missglückter Wurf oder Fangversuch hat die fatale Folge, schnellstens zurückschwimmen zu müssen, um noch vor dem angreifenden Gegner die Verteidigung vor dem eigenen Tor zu organisieren. Solcherart Rückwärtsverteidigung war Herbert Königs Sache nicht, wie sich ein Mitspieler1 erinnert. Vorwärts war er allemal und vorneweg dabei, aber bedachtsam.
Die Spezifik des Angriffsspiels im Wasserball kam seinem Naturell entgegen und prägte es weiter aus. Mit einer scheinbar unerschütterlichen phlegmatisch wirkenden Gelassenheit die Situation um und vor sich beobachtend, wartete er, innerlich hochgespannt, auf den richtigen Augenblick, bis es galt, schnell und treffend zu entscheiden. Sein Spitzname unter den Mitspielern war nicht grundlos „Papa“. Was Zögerlichkeit schien, war Geduld, die Kunst des Wartens, allemal Bedingung für einen vertrauenerweckenden Regisseur im Wasser wie auf den Brettern. Alles fügte sich in Herbert Königs jungen Jahren zu einer DDR-Bilderbuchbiographie, trotz seiner für eine DDR-Karriere normalerweise sehr ungeeigneten sozialen Herkunft. Sein Vater war selbständiger Schuhmachermeister und blieb es sein ganzes Leben in der DDR, wozu eine listige Halsstarrigkeit, ein kräftiger handwerklicher Eigensinn gehörte – ganz der Wagnerschen Erkenntnis gemäß „Verachtet mir die Meister nicht“. Dies erbte Herbert auf jeden Fall von seinem Vater. Doch auch die Mutter bewies unternehmerische Fähigkeiten und Courage. Sie hatte Werkstatt und Laden gleich nach Kriegsende selbständig in der Kleinstadt Burg, nahe Magdeburg gelegen, wohin sie mit ihrem Sohn Herbert vor den starken Bombardements auf Magdeburg ausgewichen war, wieder eröffnet. Die raue Nachkriegszeit war für manches Handwerk, noch dazu wenn es zu improvisieren verstand, zwar kein goldener Boden, aber doch Grundlage für ein gesichertes Leben, so auch die Schuhmacherei: Aus Ledertaschen aller Art wurden dringlich notwendige neue Schuhe gefertigt, für die Landsleute wie auch für die mit frischen Esswaren gut zahlenden sowjetischen Offiziere.
Später zog die Familie samt der Schuhmacherwerkstatt, der Vater war aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, wieder zurück nach Magdeburg, und Herbert entwickelte sich zu einem veritablen Sporttalent, so dass die Aufnahme in die Kinder- und Jugendsportschule in Magdeburg die Chance war, um die möglichen sozialen Nachteile seiner „bürgerlichen“ Herkunft auszugleichen und das Abitur ablegen zu können. Man ideologisierte in diesem Schultyp etwas weniger als in den allgemeinbildenden erweiterten Oberschulen, zählte hier doch die sportliche Leistungsbereitschaft schon als Ausweis des rechten Bewusstseins. Wenn es dennoch und zusätzlich verlangt wurde, droschen die Schüler ungerührt die angesagten Phrasen und sahen trotz Verbots weiterhin regelmäßig Westfernsehen.
Auch nach dem Abitur schien sein Leben der vorgezeichneten Laufbahn eines DDR-Spitzensportlers zu folgen: SED-Mitglied, jung gefreit, zwei Söhne wurden geboren, Neubau-Wohnung, ein Arbeitsplatz pro forma, Fliesenleger, beim Spezialbaukombinat, dem Träger des Sportclubs, dann ein irrtümliches und schnell wieder beendetes Chemiestudium. Da ihn in der KJS wahrscheinlich eine Deutschlehrerin infiziert hatte mit Interesse und Leidenschaft für Literatur und Kunst – in seiner Familie spielte Kunst keine Rolle –, sattelte er um zum Redakteur der Betriebszeitung aktuell des VEB Spezialbaukombinates Magdeburg. Diese Tätigkeit erlaubte und erzwang Einblicke in den Betriebsalltag, Einblicke, die er sonst niemals gewonnen hätte, und die Zeitung eröffnete ihm einen Raum, seine Leidenschaft für den Film öffentlich produktiv ins Kritische zu wenden – und sich über manchen DEFA-Film herzlich auszulassen. Diese Kritiken trugen ihm einen zweiten, neuen Ruf, den des argumentativ beschlagenen, kritischen jungen Mannes ein. Aber das reicht ihm bald nicht mehr, er will seinen Wirkungskreis erweitern und wirklich mitsprechen können und gehört werden. Er will Einfluss nehmen, das ist wohl auch der Grund seiner Parteizugehörigkeit, und so nutzt er seinen guten sportlichen Ruf, um als Redaktionsvolontär an die Bezirkszeitung der SED, die Volksstimme, zu wechseln. Aber die unaufhaltsam scheinende Bilderbuchbiographie endet schlagartig und unversehens. Die zentrale DDR-Sportführung in Berlin hatte bilanziert und für den Wasserballsport nach der ernüchternden Niederlage im Spiel um den fünften Platz, ausgerechnet gegen die USA, in Mexico-City bei den Olympischen Spielen 1968 folgende Rechnung aufgemacht:
Einer möglichen Medaille im Wasserball stehen 79 Medaillen im Schwimmsport gegenüber, im Berliner Leistungszentrum werden jedoch bis 18.00 Uhr nur 70 % der Wasserfläche für das Schwimmtraining genutzt, während bisher etwa 30% dem Wasserball zur Verfügung gestellt werden.
Und aus dieser unwiderleglichen Medaillenarithmetik folgerte der sportpolitische Beschluss des SED-Politbüros:
In den Jahren 1970 bis 1971 ist – nach umfassender politisch-ideologischer und organisatorischer Vorbereitung – eine stärkere Konzentration von Fördermaßnahmen auf die entscheidenden olympischen Sportarten vorzunehmen. Gleichzeitig ist die Förderung für die Sportarten […] und Wasserball, vor allem im internationalen Sportverkehr […] und in der Förderung der Sportler schrittweise einzuschränken. Diese Sportarten sind aus den Sportclubs und KJS herauszunehmen.2
Nun war es um einen sportlich konkurrenzfähigen Wasserball in Magdeburg bald geschehen. Der SC Magdeburg trennte sich gänzlich von seinen Wasserballern. König spielte noch bei einer zweitklassigen Mannschaft, trainierte aber nur noch zweimal abends in der Woche. Durch eine verhängnisvolle Verkettung von Krankheiten musste er schlagartig seine sportlichen Aktivitäten einstellen, ein Abtrainieren, ein kontrolliertes Umstellen des hochgetriebenen Organismus auf eine normale Beanspruchung war dadurch verhindert. König kompensierte das auch nicht: Eine gesundheitsbewusste Lebensführung war ihm zuwider und fremd. Er rauchte schon damals extensiv.
Der Schritt ins Theater änderte schlagartig Herbert Königs Leben. Hier fand er seine Heimat, die ihm gemäße Lebensweise, inmitten eines kreativen Chaos, dem sich anzuvertrauen und es beherrschen zu lernen, ihn offenbar magisch anzog. Er brach seine Ehe und er brach seine bisherigen sozialen Kontakte rigoros ab. Er „ging im Theater auf“. Mit 26 begann er sein zweites Leben und...