III. Deutsche Staatlichkeit im Alten Reich der Neuzeit
1. Die Reichsreform: Reichssteuerpflicht und «Ewiger» Landfrieden
Das Ende des Mittelalters leiteten schon im Laufe des 15. Jahrhunderts kriegerische Ereignisse ein, denen die bisherigen Mittel der Krisenbewältigung nicht mehr gewachsen waren. Der innere Frieden im Reich war durch eine Häufung verheerender Fehden erheblich gestört, weil Fürsten die jetzt unter dem Einfluss von Juristen stehende königliche Gerichtsbarkeit nicht mehr akzeptierten (II. 4.). Der Reformbedarf war offensichtlich, Reichsreformvorschläge machten die Runde und wurden auf Hoftagen und in Reichsversammlungen verhandelt. Von gleichem Gewicht für die Staatsbildung in Deutschland sollte sich die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Kriegsfinanzierung erweisen. Seit 1419 führte das Reich über ein Jahrzehnt hinweg gegen die böhmischen Hussiten einen Ketzerkrieg, dessen Erfolglosigkeit Reformen erzwang. 1422 fertigte man eine erste «Reichsmatrikel» an, das heißt eine Liste der zur Reichshilfe verpflichteten Herrschaftsträger, und legte die Anzahl der zu stellenden Truppen fest. 1427 versuchte eine Reichskriegssteuerordnung in Hinblick auf den geistlichen Zweck des Konflikts das kirchliche Vermögen heranzuziehen und Kopfsteuern über die Pfarreien aufzubringen. Inzwischen jedoch drohte Gefahr von anderer Seite. Osmanische Heerscharen hatten schon im 14. Jahrhundert weite Teile des Balkans unter ihre Kontrolle gebracht. 1453 eroberten sie auch Konstantinopel. Seit 1471 fielen ihre Angst und Schrecken verbreitenden Vorboten in die Steiermark ein. Eine eilig nach Regensburg berufene Reichsversammlung beschloss nun ein Kriegssteuersystem, das die Erhebung der Steuern von den Untertanen durch die jeweiligen Landesherren nach Maßgabe der diesen zu leistenden Abgaben vorsah.
Damit musste die Frage entschieden werden, welche Herrschaften dem Reiche unmittelbar zugehörten, somit diesem direkt steuerpflichtig waren, und wer andererseits die für das Reich bestimmte «Türkensteuer» einem höheren Herrn zur Weiterleitung an das Reich zu übergeben hatte. Die Reichsunmittelbarkeit der Fürsten als Inhaber von Reichslehen verstand sich von selbst (II. 5.). Für einige Bischöfe, auch Grafen und freie Herren, nicht zuletzt zahlreiche Abteien und Städte, schien das aber zweifelhaft. Territoriales Denken verdrängte nun endgültig nur personale Beziehungen und Königsnähe. Zahlreiche Streitigkeiten, die sich weit in das 16. Jahrhundert hineinzogen, waren die Folge. Denn an der Pflicht, dem Reiche direkt zu steuern, hing fortan das «Reichsstandschaft» genannte Recht, Sitz und Stimme im Reichstag wahrzunehmen (III. 4.). Dafür galt die auf dem Wormser Reichstag von 1521 beschlossene Reichsmatrikel als beweiskräftigstes Indiz. Sie dokumentiert Truppenstärken und die ersatzweise zu leistenden Geldbeträge für die sieben Kurfürstentümer, 50 geistliche und etwa 30 weltliche Fürstentümer, rund 70 Prälaten, über 130 Grafen und Herren sowie mehr als 80 Städte. Später sollte sich die Zahl der geistlichen Reichsstände infolge der Reformation und die der Grafen und Herren nach Erlöschen mehrerer Familien erheblich verringern, während sich der Kreis der weltlichen Fürsten infolge Landesteilungen und Standeserhöhungen erweiterte. Allein dem Kaiser unterstanden im 18. Jahrhundert nur noch 51 Reichsstädte. Doch trotz dieser Schwankungen hatte die Territorienbildung im Reich durch den Mechanismus der Reichssteuer einen gewissen Abschluss erreicht. Hervorgegangen aus diesem Prozess war freilich auch die anachronistisch anmutende Figur der Reichsritterschaft: Weil der Ritter nicht Steuern zahle wie der gemeine Mann, sondern mit seinem Leibe diene, sei er auch von dieser Steuer befreit. So verweigerte sich der niedere Adel in Franken, Schwaben und am Rhein den Steuerforderungen der Fürsten, um dann aber dem Kaiser direkt «freiwillige» Subsidien zu erbringen. Die Reichsunmittelbarkeit adeliger Kleinstterritorien war das Ergebnis. Zugang zum Reichstag erhielten sie nicht.
Das kriegerische Fehdewesen im Inneren des Reiches ließ sich nur durch eine grundlegende Reform der höchsten Gerichtsbarkeit beenden. Die Fürsten verlangten ihre Beteiligung am Königsgericht und beharrten darauf, Urteile selbst zu vollstrecken und diese Aufgabe nicht etwa kaiserlichen Hauptleuten zu übertragen. König Maximilian I. hat schließlich auf dem Wormser Reichstag 1495 eine Lösung zugestanden, die den Vorstellungen der Reichsstände weit entgegenkam. Vier Reichsgesetze aus jenem Jahr markieren seitdem einen Einschnitt in der deutschen Verfassungsgeschichte, der als eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit erscheint: die Verkündung eines zeitlich unbegrenzten Fehdeverbots im sogenannten «Ewigen Landfrieden», die Errichtung des Reichskammergerichts mit einem hochadeligen Richter und einer hälftig mit gelehrten Juristen und Adeligen besetzten Urteilerbank, der Erlass einer Exekutionsordnung mit Namen «Handhabung Friedens und Rechts», die den Fürsten anvertraut wurde, und eine Ordnung des «gemeinen Pfennigs» zur Finanzierung sowohl dieser Maßnahmen wie auch der Türkenabwehr.
Dieses umfassende Gesetzgebungswerk erfüllten die beteiligten politischen Kräfte – «Kaiser und Reich» – in unterschiedlicher Weise mit Leben; es beschäftigte sie noch auf vielen Reichstagen. Fehden führten einzelne Fürsten und Ritter unbeirrt noch bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, erfolgreich bekämpft freilich von Koalitionen ihrer Standesgenossen als Exekutoren des Landfriedens. Das von den Reichsständen besetzte Reichskammergericht begann, nach Startschwierigkeiten, eine Erfolgsgeschichte als Landfriedensgericht zu schreiben, das nicht nur «nach des Reichs gemainen Rechten» entschied und damit die Rezeption des gelehrten Rechts förderte (II. 4.), sondern auch «Ordnungen, Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht» berücksichtigte. Aus dieser doppelten Orientierung an zwei grundverschiedenen Rechtstraditionen erwuchs eine pragmatische Judikatur, die einen wesentlichen Beitrag zur «Verrechtlichung» politischer Konflikte leistete. Den 1498 reorganisierten und bald so genannten «Reichs»-Hofrat konnte das neue Gericht allerdings nicht entmachten. Der Kaiser dachte nicht daran, auf sein höchstrichterliches Amt zu verzichten (III. 4.). Den «gemeinen Pfennig» aber, wie geplant, als flächendeckende Kopfsteuer zu erheben, gelang nur selten. Die Matrikularsteuer, die dem unterschiedlichen Leistungsvermögen der einzelnen Territorien besser Rechnung trug, blieb wichtigste Finanzquelle des Reiches. Den Unterhalt des Reichskammergerichts sicherte seit 1548 der «Kammerzieler», erhoben gleichfalls auf der Grundlage der Reichsmatrikel.
Führende Fürsten wollten die Reichsstände stärker und stetig an der Leitung des Reiches beteiligt sehen. Sie trotzten im Jahre 1500 Maximilian I. und 1521 Karl V. die Einrichtung eines von ihnen mit 20 Personen zu besetzenden «Reichsregiments» mit Sitz in Nürnberg ab. Es scheiterte jeweils nach wenigen Jahren an der Weigerung des Kaisers, Teilhabe an seiner Macht zu gewähren. Aber die mit dem Reichsregiment geborene Idee, das Reich in «Kreise» einzuteilen, um für eine repräsentative Vertretung seiner verschiedenen Regionen in dem neuen Gremium zu sorgen, erwies sich für die Entwicklung des Reiches als nützlich. Seit 1512 waren die großen und kleinen Herrschaftsträger dem burgundischen, schwäbischen, fränkischen, oberrheinischen, kur- oder niederrheinischen, niederländisch-westfälischen, niedersächsischen, obersächsischen, bayerischen und österreichischen Reichskreis zugeordnet. Diese Organisationsmaßnahme erleichterte die Vollstreckung der von den Reichsgerichten gefällten Urteile und die gemeinsame Gewährleistung der inneren Sicherheit, insbesondere in solchen Gegenden, in denen es eine dominierende Regionalmacht nicht gab, wie in Franken, Schwaben und am Rhein.
Die Reichstage des 16. Jahrhunderts haben sich auch auffallend intensiv um eine für alle Glieder des Reiches verbindliche Reichsgesetzgebung bemüht. In dieser Zeit verband die regierenden Obrigkeiten ein gemeinsames Interesse an der Besserung des moralischen und christlichen Lebenswandels ihrer Untertanen, wie schon der Aristotelismus nahelegte (II. 7.) und nun die Reformation forderte. Und schärfer als zuvor erkannte man gemeinsame Ordnungsaufgaben, die ein reichseinheitliches Vorgehen verlangten oder kleinere Landesherren überforderten. 1512 trat eine für die Verlässlichkeit des Urkundenwesens wichtige Notariatsordnung in Kraft; zugleich setzte die lange Reihe der Verbote kaufmännischer Monopole ein. Seit 1524 wurden Münzordnungen für das ganze Reich erlassen, seit 1530 vielfältige Verhaltensregeln in Ordnungen der «guten Policey» (III. 3.), in endgültiger Gestalt schließlich 1577. Mit der «Peinlichen Gerichtsordnung» Kaiser Karls V. («Carolina») erhielt das Reich 1532 ein subtil durchdachtes Straf- und Strafprozessgesetz, dessen richtungsweisender Charakter durch die zunächst nur unvollkommene Umsetzung in...