SZENISCHE FOTOGRAFIEN
Stierspringer
Frankreich, 2008; Blende 4,5, 1/40 s, ISO 500, 44 mm
Dieses Foto entstand auf der Rückreise eines Besuchs beim Fest San Fermin im spanischen Pamplona. Wir machten, mehr oder weniger zufällig, Halt im ersten Ort nach der spanisch-französischen Grenze, in Saint-Jean-Pied-de-Port, auch bekannt als einer der kleinen und beschaulichen Orte auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig, als viele Leute im Ort in eine bestimmte Richtung strömten. Wir zahlten schnell und schlossen uns an, ohne zu wissen, was eigentlich los war. Selbst den relativ hohen Eintrittspreis in ein übersichtliches, provisorisch errichtetes Veranstaltungsgelände mit kleiner Tribüne zahlten wir, ohne zu wissen, wofür eigentlich genau. Drinnen wurde uns dann schnell klar: Es handelte sich um einen Stierspringer-Wettbewerb!
Im Gegensatz zu den Spaniern »spielen« die Franzosen nur mit den Stieren und bringen sie nicht um. Das ist zwar auch nicht gerade tiergerecht, aber doch schon viel besser! Die Artisten haben eine Vielzahl von Figuren und Mutproben mit den Stieren auf Lager, am spektakulärsten aber ist ganz sicher der Hechtsprung über den Stier! Da hält man die Luft an, wenn Stier und Mensch aufeinander zu rennen – selbst wenn es nicht die größten Stiere sind, die dafür ausgewählt werden, und die Hörnerspitzen abgeklebt sind! Dieses Foto hat nun, neben dem spannenden Motiv, zwei weitere Besonderheiten.
Die erste ist, dass ich es ohne den Zaun vor mir aufgenommen habe. Ich stand rechtzeitig auf, fotografierte – gerade noch so – über den Zaun und zog mir damit den Unmut des französischen Publikums zu. Zum Glück verstehe ich nicht, was boche etc. heißt! Das ist aber der Grund, warum ich nur einen Versuch hatte! (Die anderen Beispiele habe ich dann von anderen Standpunkten aus aufgenommen.) Die zweite Besonderheit ist die Technik des Mitziehens. So nennt man eine Fototechnik für dynamische Motive, bei der sich der Fotograf mit dem ganzen Oberkörper und der Kamera am Auge synchron mit dem Motiv bewegt, sodass die Kamera – im Idealfall – in derselben (Winkel-)Geschwindigkeit des sich bewegenden Motivs mitgezogen wird. Auf diese Weise wird das Motiv trotz der Bewegung scharf abgebildet, während der Hintergrund und andere Bildelemente unscharf dargestellt werden.
Der Auslöser der Kamera wird dabei während des Drehvorgangs gedrückt, die Belichtungszeit sollte dabei nicht zu kurz sein, sonst funktioniert es nicht! Diese variiert je nach Geschwindigkeit des Motivs, Versuche mit Verschlusszeiten zwischen 1/20 und 1/60 Sekunde sollten aber bei Menschen in Bewegung passen. In diesem Fall zog ich die Kamera in Laufrichtung des Stieres mit, also von rechts nach links – genau der Bewegungsrichtung des Artisten entgegengesetzt: Dadurch ist dieser praktisch doppelt verwischt! Dass sich die Hörner und ein Teil des Stierkopfes genau vor dem weißen Kreis des Prellbocks befinden, war Glück und ein schöner Zufall. Mit dieser Technik erzielt man übrigens genau den gegenteiligen Effekt zur bewussten Bewegungsunschärfe bei sich bewegenden Motiven mit fester Kamera und längerer Belichtungszeit.
Das sich bewegende Objekt wird hier durch das Mitziehen scharf, oft genügt schon eine entscheidende Stelle, der Rest des Bildes wird unscharf verwischt. Diese Technik bedarf der Übung, die sich aber lohnt, denn die gelungenen Ergebnisse wirken dynamisch und spannend, weil sie die Bewegung sichtbar machen.
Karate Kid
Time to go
Am Fenster
Brasilien, 2011; Blende 2,8, 1/40 s, ISO 10.000, –0,7 LW, 122 mm
Dieses Foto ist im Stadtteil Ferradas der brasilianischen Stadt Itabuna im Bundesstaat Bahia entstanden, und zwar mehr oder weniger zufällig während der Arbeit an meiner Kakao-Reportage. Das ist deshalb erwähnenswert, da sich zwei Gehminuten entfernt das Geburtshaus des berühmten brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado befand, dessen Roman Cacau ich damals gerade zur Einstimmung und Begleitung des Themas las. Ich war bei einem Bekannten zum Abendessen eingeladen und wir standen vor seinem Haus, weil einer der Besucher rauchen wollte. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite ging plötzlich das Licht an und die junge Mutter begann ihr Baby zu wickeln. Zum Glück hatte ich meine Kamera in der Hand, auch mit dem richtigen Objektiv montiert! Es war sehr dunkel, aber dank der Nikon D3S und dem tollen Objektiv konnte ich die Aufnahmen trotzdem realisieren.
Die Szene dauerte nur wenige Minuten, aber ich konnte in der Zeit ein paar schöne Bilder machen, mit ISO 10.000 früher undenkbar! Ich wählte dieses Foto aus, weil es die Mutter-Kind-Beziehung durch die ausgestreckten Arme des Babys am besten visualisiert. Die anderen – brasilianischen – Gäste haben überhaupt nicht verstanden, was ich da für Fotos machen wollte.
Bewusst habe ich einen Teil der Hauswand und die Eingangstür in die Bildgestaltung mit einbezogen, um noch ein wenig von der Umgebung, der Einfachheit, der Familie zu zeigen. So bekommt die Szene etwas von einer Theaterbühne und verliert das Voyeuristische, konzentriert sich aber doch noch aufs Wesentliche. Das Archetypische des Themas fesselt hier den Betrachter, wie es »archaische« Motive oft tun.
Gedenktafel für Jorge Amado
Abendliche Szene in Ferradas
Zeitfenster
Frankreich, 2005; Blende 5,6, 1/250 s, ISO 100, 70 mm
Bei einer Paris-Reise besuchte ich unter anderem auch das am südlichen Ufer der Seine gelegene Kunstmuseum Musée d‘Orsay. Paris ist fotografisch sehr inspirierend, deshalb habe ich dort insgesamt viel fotografiert, so auch in diesem Museum. Vor allem die große Halle mit dem riesigen Glasdach hatte es mir angetan, das Gebäude war ja ursprünglich einmal ein Bahnhof: der Gare d‘Orsay. Natürlich versucht man in einem Museum auch immer wieder diese »Kunstbetrachter-vor-Gemälde-Fotos« aufzunehmen, die aber leider meistens dann doch nicht so werden, wie man sie sich vorgestellt hat.
Bei unserem Rundgang durchs Museum kamen wir irgendwann auch in den hinteren der beiden Türme und gingen im Treppenhaus nach oben. Dort angekommen, war ich sofort fasziniert von der riesigen transparenten Uhr im Turmfenster. Meine fotografischen Sinne waren augenblicklich geweckt, obwohl ich die Kamera kurz davor zurück in die Tasche gesteckt hatte, denn im Treppenhaus erwartete ich kein lohnendes Motiv.
Ich musste nicht lange überlegen und schoss sofort ein paar Fotos von dieser wunderbaren Gegenlichtszenerie, ganz intuitiv probierte ich dabei verschiedene Einstellungen aus. Plötzlich kam plaudernd diese Reisegruppe an, sie nahmen mich gar nicht wahr. Nun hieß es, auf den richtigen Augenblick zu lauern, das heißt, auf die richtige Verteilung der Personen vor der Uhr. Der mittige Bildaufbau ergab sich dabei von selbst. Ich sah, dass noch Licht auf die beiden Personen rechts und links fiel und wusste: Jetzt! Und fertig war eines meiner Lieblingsbilder, das für mich eine Art Metapher für das Leben geworden ist: Wir alle haben nur ein bestimmtes Zeitfenster zur Verfügung.
Blick aus dem »Zeitfenster«
Paris, »dans le métro«
Monumental Kiss
USA, 2010; Blende 7,1, 1/160 s, ISO 125, 24 mm
Auf einer Fotografen-Tour durch den amerikanischen Südwesten machten wir unter anderem Halt im Monument Valley, das sich im Süden des Bundesstaates Utah befindet. Es ist vor allem bekannt für seine Tafelberge und einzigartigen Sandsteinformationen, außerdem diente es als Kulisse für viele Filme, vor allem natürlich für Western. Es ist eines der meistfotografierten Motive der Welt. Die Kulisse ist wirklich beeindruckend schön und erhebend, und sie entlohnt für die Strapazen der langen Anreise.
So sah ich das Pärchen zuerst – das erste Foto der Serie.
So waren wir dort am Aussichtspunkt mit unserer kleinen Gruppe zum Fotografieren frühmorgens, spätnachmittags, abends und sogar auch noch nachts unterwegs! Diese einzigartige Szenerie zu fotografieren macht Freude und man kann wunderbar mit dem Licht, dem Bildausschnitt, den Schattenverläufen der Tafelberge und natürlich mit Vorder- und Hintergrund spielen.
Im Fall dieses Fotos hatte ich zunächst versucht, die von der Sonne beleuchteten Steine im Vordergrund in den Bildaufbau einzubeziehen. Aus diesem Grund schlich ich um die Steine herum und probierte unterschiedliche Blickwinkel, verschiedene Blenden und Brennweiten, als plötzlich das Schattenspiel des Pärchens auf einem der Steine auftauchte. Sie hielten sich an der Hand und spielten selbst mit ihrem Schatten auf dem Stein – das sah vor diesem Hintergrund recht hübsch aus. Als ich sie fragte, ob sie sich nicht auch küssen könnten, hatten sie überhaupt kein...