1. Der Ausbildungsweg des Reiters
In unserer Reitlehre gibt es als Leitfaden für die Ausbildung eines Pferdes die berühmte und viel diskutierte Ausbildungsskala.
Weniger bekannt, in unseren neueren Richtlinien aber schon beschrieben, gibt es etwas Ähnliches für die Ausbildung des Reiters, in diesem Fall bezeichnet als „Ausbildungsweg“ mit den vier Abschnitten:
- Sitz und Sitzschulung
- Hilfengebung
- Gefühl
- Einwirkung
Nachdem in den letzten Jahren auch bei der Ausbildung von Reitern zunehmend Wert darauf gelegt wurde, Erkenntnisse der Sportpädagogik und vor allem auch der Bewegungslehre einzubeziehen und zu nutzen, erscheint es sinnvoll, dieses doch etwas magere Gerippe etwas auszubauen und zu komplettieren.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einmal genauer in die von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung zusammengestellten und veröffentlichten „Ethischen Grundsätze des Pferdefreundes“1 hineinzusehen (erstmals veröffentlicht 1995). Dementsprechend muss schon dem angehenden Reiter vermittelt und der fortgeschrittene oder der sich gar im Sport betätigende Reiter immer wieder daran erinnert werden, welch große Verantwortung dem Menschen zukommt, wenn er mit dem Pferd sportlich aktiv werden will:
Den Züchtern ist es, besonders in den letzten Jahrzehnten, durch entsprechende Selektion nach Reitpferdepoints und -eigenschaften zunehmend gelungen, den Reitern Pferde zur Verfügung zu stellen, die sich sowohl auf Grund ihres Exterieurs als auch ihres Interieurs besonders gut für den Einsatz unter dem Sattel eignen. Dennoch gilt es zu bedenken, dass erst durch entsprechend fachgerechte, sorgfältige Ausbildung und durch ebensolches Training ein Pferd in die Lage versetzt wird, seinen Reiter tatsächlich auf dem Rücken zu tragen und ihn nicht nur zu ertragen. Diesbezüglich muss sich jeder, der sich, sei es als Reiter, sei es als Trainer, mit der Ausbildung von Pferden befasst, möglichst gute Kenntnisse aneignen und diese in der täglichen Arbeit, aber auch in der mittel- und langfristigen Trainingsplanung versuchen umzusetzen. Besonders groß ist hier auch die Verantwortung der Richter, weil sie vorgeben, was auf Turnieren honoriert oder negativ bewertet wird und damit die Trainingsziele zumindest ihrer Klientel sehr stark bestimmen.
Bevor wir auf die Ausbildungsziele für den Reiter im Einzelnen eingehen, lohnt es sich, einmal darüber nachzudenken, welche mentalen Eigenschaften den Umgang mit dem Pferd erleichtern, teilweise sogar unabdingbar Voraussetzung sind:
- Ehrliche Achtung vor der Kreatur und Tierliebe
- Sensibles Einfühlungsvermögen und -bereitschaft
- Große Geduld und Ausdauer
- Absolute Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und die Bereitschaft,
- eigene Fehler einzugestehen
- Neugier und ständige Lernbereitschaft
- Gute Konzentrationsfähigkeit
- Sichere Beobachtungsgabe, besonders für Bewegungsabläufe
- Disziplin und Selbstbeherrschung
Diese Eigenschaften werden aber im Laufe einer entsprechend systematischen und gut betreuten Ausbildung auch noch gefördert werden, eventuell sogar aufgebaut.
Wer unseren wunderbaren Sport mit Pferden betreiben möchte, egal ob als Freizeitreiter oder Leistungssportler, hat die moralische Verpflichtung, sich und sein Pferd mindestens soweit einer Ausbildung zu unterziehen, dass beide Beteiligte möglichst lange mit Freude diesem Sport nachgehen können, ohne dass es zu Lasten des Pferdes geht.
Viele Menschen glauben, Reiten sei eine Sportart, bei der Leistung in erster Linie durch das Pferd erbracht werden muss und deshalb auch nur bei diesem die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Dies ist natürlich völlig falsch! Auch ein reiner Freizeitreiter z.B., der nichts anderes anstrebt, als mit seinem Pferd im Gelände Spaß zu haben, muss eben in der Lage sein, solange er auf dem Pferde sitzt, sich auszubalancieren und dem Pferd seinen Einsatz so leicht wie möglich zu gestalten.
Bevor überhaupt mit Ausbildung auf dem Pferd begonnen werden kann, muss der angehende Reiter eine gute Grundfitness haben. Anderenfalls ist es dringend notwendig, begleitend daran zu arbeiten. Mit diesbezüglichen Defiziten muss auf Grund der heutigen Lebensgewohnheiten selbst bei Kindern und Jugendlichen durchaus gerechnet werden. Ganz Ähnliches gilt für die oben schon angeschnittenen Kenntnisse. Dadurch, dass beim Reiten zwei Lebewesen zusammenkommen und möglichst gut harmonieren sollen, ist dies eine der anspruchsvollsten und kompliziertesten Sportarten. Deshalb kann nur derjenige dabei Freude und Erfolg haben, der sich möglichst viel Wissen über Pferd und Reiter, besonders aber über die Querverbindungen und Abhängigkeiten beider aneignet und bereit ist, ein Reiterleben lang hinzuzulernen. Richtig wertvoll wird dieses Wissen aber erst, wenn es durchdacht, verstanden und durch persönliches reiterliches Erleben erfüllt wird. Theoretisches und praktisches Lernen gehen idealerweise Hand in Hand und ergänzen sich gegenseitig.
Die vielfältigen Ausbildungsziele auf dem Weg zum guten Reiter kann man in folgenden acht Punkten zusammenfassen. Dabei muss, ähnlich wie bei der Ausbildungsskala des Pferdes, klar sein, dass sie nicht einzelne Etappen darstellen, die jeweils nach Erreichen erledigt sind und dass trotz einer vorgegebenen Reihenfolge manches parallel angesteuert werden muss:
1.1 Vertrauen und Abbau übergroßen Respekts
Besonders Menschen, die nicht mit (großen) Tieren aufgewachsen sind, womöglich überhaupt noch keinen näheren Kontakt zu Tieren hatten, werden Pferden zunächst übergroßen Respekt entgegenbringen; das ist ganz natürlich. Deshalb muss noch vor Beginn der eigentlichen Reitausbildung durch das Erlernen eines fachgerechten, aber auch sicheren Umgangs, z.B. beim Führen und bei der Pflege, ein gewisses Vertrauen zunächst zu den eigenen Fähigkeiten, dann aber eben auch zum Pferd aufgebaut werden. Fehler in dieser Phase, etwa wegen mangelnder oder wenig fachgerechter Unterweisung, können sehr schnell dazu führen, dass Angst entsteht. Allerdings muss auch bedacht werden, dass zu sorgloser oder unachtsamer Umgang mit Pferden durchaus gefährlich werden kann. Durch ihre relativ große Körpermasse und -größe haben sie selbst bei langsamer Bewegung ein ganz erhebliches Energiepotenzial, dem der doch deutlich weniger stabile Körper des Menschen im Zweifelsfall wenig entgegenzusetzen hat. Von Anfang an sollte ganz selbstverständlich dem Grundsatz Rechnung getragen werden, dass der Anfänger am schnellsten und besten übergroßen Respekt abbauen und Vertrauen aufbauen kann, wenn dafür erfahrene, wohl erzogene Pferde zur Verfügung stehen, deren Vertrauen zum Menschen ungestört ist und die gelernt haben, den Menschen als ranghöheres Wesen zu akzeptieren.
Schon beim Pflegen kann das Vertrauen zwischen Reiter und Pferd aufgebaut und gefestigt werden
Bereits in dieser Phase der Ausbildung kann alles leichter und schneller vorangehen, wenn der angehende Reiter auch theoretisches Wissen über das Pferd erwirbt, z.B. bezüglich
- typischer Eigenschaften und Wesensmerkmale,
- der entwicklungsgeschichtlich begründeten Ausbildung seiner Sinnesorgane,
- seiner natürlichen artgemäßen Bedürfnisse, die für seine Haltung wichtig sind etc.
Auf welche Art diese Kenntnisse am besten erworben werden können, ob durch theoretischen Unterricht, aus Büchern und Videos oder durch Erklärungen des Ausbilders während des Umgangs, hängt ganz von den individuellen Lernvoraussetzungen des Schülers ab; optimal ist sicherlich eine Kombination aus allem.
1.2 Losgelassenheit und Balance
Losgelassenheit und Balance sind für erquickliches, gutes Reiten unabdingbare Voraussetzungen. Beide sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig:
Ein Reiter, der aus welchen Gründen auch immer starke Balanceprobleme hat, wird sich psychisch und physisch nicht loslassen können (siehe hierzu Losgelassenheit des Reiters).
Ebenso wenig kann einer, der, z.B. aus Angst vor einem bestimmten Pferd, sich verspannt oder sogar verkrampft, auch nur annähernd ausbalanciert auf diesem sitzen.
Losgelassenheit bedeutet, dass der Reiter bei aller Konzentration und gegebenenfalls auch Leistungswillen weder physisch noch mental verkrampft, sodass die Atmung, der Kreislauf sowie der gesamte Bewegungsapparat gut und ökonomisch funktionieren (siehe hierzu auch Losgelassenheit des Pferdes).
Wie gut und schnell der angehende Reiter lernen kann, sich auszubalancieren und allmählich auch bei unvorhergesehenen, abrupten Bewegungen und Richtungsänderungen des Pferdes im Gleichgewicht zu bleiben, hängt von seiner entsprechenden Veranlagung sowie etwaiger Vorbildung, z.B. in anderen Sportarten ab. Auch was die Motorik anbelangt kann, wie oben schon angedeutet, wegen mangelnder Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten heute selbst bei Kindern nicht mit einem großen Spektrum an Erfahrungen und Möglichkeiten gerechnet werden. Gezielte, begleitende Gymnastik kann auch diesbezüglich sehr wertvoll sein, ist gelegentlich sogar unabdingbar.
Gymnastische Übungen, z.B. an der Longe verbessern die Losgelassenheit des Reiters
Das Loben hinter dem Sattel entspannt auch den Reiter
Ausbalancierter leichter Sitz
Auch im Hinblick auf Losgelassenheit und Balance ist das gut geschulte, selbst gut losgelassene und ausbalancierte Pferd der beste Lehrmeister.
1.3 Der Sitz und seine unterschiedlichen Formen
In der neueren Ausgabe der Richtlinien Band I...