1. Unterrichtsinhalte der Grundbildung in Musikschule, Grundschule und Kinderchor
Grundbildung5 für Kinder oder Erwachsene braucht das Diversitätsverfahren mit Liedern für alle Anlässe und Stimmungen, mit Kinderliedern, Musik aus den Charts, Instrumentalmusik, »Omaliedern« … Jedoch lieben Kinder wie Erwachsene auch die Intensität des Nukleusverfahrens. Es dient daher in Mischform mit dem Diversitätsverfahren als Richtschnur für solmisationsgestützten Unterricht. Dieses Buch beschreibt überwiegend das Verankern und Erweitern des Nukleus. Solmisationsgestützte Grundbildung beginnt das Nukleusverfahren mit textierten Liedern und solmisierten Melodien eines eingeschränkten Tonkreises, meistens des Tonkreises der Rufterz so-mi, dem 5. und dem 3. Ton der Durtonleiter. Manche Lehrkräfte wählen für den Anfang auch die drei ersten Töne der Durtonleiter abwärts, mi-re-do.
Die hier angeführten Lieder sind Vorschläge, die sich im Unterricht bewährt haben. Sie können durch andere Lieder des gleichen Tonkreises ersetzt werden. Es werden zudem sehr viele Melodien pro Tonkreis angegeben, die keineswegs alle mit den Kindern gelernt werden sollen. Sie dienen der Auswahl oder der Anregung zum selbst Finden. Wenn eine Melodie und zwei bis drei Textlieder pro Tonkreis zum Besitz der Lernenden werden, schafft das erfahrungsgemäß eine gute Basis für die weiteren Lernschritte.
Hier werden methodische Vorschläge beschrieben, die zunächst die Wahrnehmung und dann die Wiedergabe von Musik durch Singen und Spielen auslösen, beginnend mit den Unterrichtsinhalten einer ersten Stunde. Dem folgen Schritte, die eine eingehende Vertrautheit mit der Melodie fordern, also für viel spätere Stunden aufzusparen sind. Schließlich werden in diesem Kapitel auch Lernschritte beschrieben, die erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt und erst nach ausführlicher musikalischer Vorbildung einen Sinn ergeben. Theoretische Hinweise werden den methodischen Anregungen angefügt, wenn sie zur Anwendung der Verfahren unmittelbar benötigt werden. Weiterführende theoretische Erläuterungen finden sich im dritten Teil; Verweise dorthin sind mit einem Pfeil (→) gekennzeichnet.
1.1.Tonkreis s-m (Rufterz)
Der Tonkreis »Rufterz« enthält die Tonverbindung so-mi (5. und 3. Ton einer Durtonleiter) und dessen Umkehrung mi-so; geschrieben in → Buchstabennotation (Buno): s-m bzw. m-s .
Zwei didaktische Modelle
1. Das Steinspiel
Lernziele:
Eigenes Handeln von Musik bestimmen lassen; einen Melodieverlauf als Form erkennen; einen Spannungsbogen empfinden; Metrum spüren; die Rufterz in ihrer Kodierung als s-m erfahren; gezieltes Aufmerken; ruhevolles Umgehen mit Musik; Singen; Musik besitzen; Musik genießen; Genießen von einfachen Reizen; Musik als Gemeinschaftsaktion empfinden; allmähliches Erspüren musikalischer Zusammenhänge …
Die Steinmelodie:
Für die Melodien und Lieder in Liniennotation (Kopfnotation) sind Tonarten angegeben, die sich gut singen lassen; sie sind jedoch nie verbindlich.
Die Steinmelodie, hier in E-Dur notiert:
Die Lehrkraft zeigt der im Kreis sitzenden Gruppe einen Stein und löst damit Aufmerksamkeit aus. Das Anschauen des Steins schafft die für Musik wichtige Vorauskonzentration. Die Gruppe hat eine gemeinsame Konzentrationsrichtung. Die Lehrkraft lässt den Stein von einer Hand in die andere fallen: Die Kinder verfolgen den Fall und werden nach einigen Malen aufgefordert, den Moment des Auffangens akustisch zu markieren (etwa: »ss« oder »ba« o. ä.). Wenn die Kinder den Fall des Steins als einen Verlauf in der Zeit wahrnehmen, verfolgen sie ihn wie einen Musikverlauf in der Zeit. Durch Fallenlassen in unterschiedlichen Abständen wird die Aufmerksamkeit gesteigert. Ohne diesen Verlauf abzubrechen, singt die Lehrkraft solmisierend die Melodie. Die Viertelpause markiert sie durch den Steinfall. Sie singt die Melodie mehrfach, schließlich lässt sie den Stein in die offene Hand des neben ihr sitzenden Kindes fallen, das ihn wiederum mit der nächsten Viertelpause weitergibt.
Der Stein wird zunächst nicht rhythmisch und nicht formal passend zum Nachbarkind transportiert. Er wird auf den Boden fallen oder länger bei einem Kind bleiben, weil es ihn betrachten will. Sofortige Perfektion ist auch nicht das Ziel. Die Wahrnehmung der Kinder richtet sich noch allein auf den Stein und dessen Handhabung. Sie brauchen Zeit, um zu erfassen, dass ihre Handlung nicht nur von ihnen selbst, sondern auch von der Musik bestimmt wird.
Die Lehrkraft singt die Wiederholungen unmittelbar aufeinander folgend, damit ein durchlaufendes Metrum spürbar wird. Sie singt auch dann weiter, wenn der Stein auf den Boden fällt – vielleicht findet die Gruppe zurück in den musikalischen Ablauf. Sie könnte auch den metrischen Fluss unterbrechen, bis die Handlungen der Kinder ihn wieder zulassen. Beide Verfahren fördern das Empfinden für die Zusammengehörigkeit von Handlung und Musik. Um den → Gültigkeitspunkt der Pause zu empfinden und den Stein entsprechend zu platzieren, kann die folgende Übung helfen: Beim Singen der Melodie werden die Viertelpausen gemeinsam geklatscht (Ausgangsposition des Klatschens: ineinandergehaltene Hände). Der Auftakt zum Klatschen wird von der Lehrkraft suggestiv so gegeben, dass die Kinder genau mitklatschen können. Auch dies ist eine Konzentrationsübung (statt Klatschen ist auch jede andere → Klanggeste zielführend).
Wenn Lernende den Stein in die Pause fallen lassen, ist die Aufmerksamkeit auf den Verlauf der ganzen Melodie sichergestellt. Sie bewegen den Stein mit planendem, abwartendem Bewusstsein, führen die Hand mit dem Stein in einem Bogen zu der Stelle, an der sie ihn über der Hand des nächsten Kindes fallen lassen können. So spüren sie den Spannungsbogen und schaffen es, bis zu dessen Ende durchzuhalten. Sie haben dann gelernt, dass ihre individuelle Handlung von Musik mitbestimmt werden kann. Sie gliedern sich in die Musik ein. So gesteuertes Weitergeben des Steins macht durch seine Kongruenz mit der Musik mehr Spaß.
Die Fähigkeit, dies zu tun, entsteht nicht durch Fokussieren einer bestimmten Stelle der Melodie, sondern durch Verfolgen des Verlaufs. Wer Musik als Verlauf erlebt und in selbstständigem Handeln mitvollzieht, spürt den »Sog« einer Melodie unmittelbar und nimmt auf diese Weise mehr von der Musik auf als durch Hinwendung zu einzelnen Tönen oder Rhythmen.
Musik ist immer ein Verlauf in der Zeit. Eine Melodie formt einen Anfang, eine Entwicklung, meist einen Höhepunkt und ein Ende. Die menschliche Wertschätzung von Musik beruht auch darauf, dass uns solche Verläufe aus dem täglichen Leben vertraut sind. Wir erkennen sie in der Musik wieder. Sie erzeugen erwartungsvolles Interesse und am Ende der Musik die beruhigende Erleichterung nach einer Anspannung. Die Wahrnehmung solcher musikalischen Abläufe erfolgt überwiegend unbewusst.
Aus gutem Grund werden derart elementare Musikerfahrungen vor die Lernschritte gestellt, mit denen Details einer Melodie und kleinmotorische Spielvorgänge geübt werden. Es ist wichtig, Lernenden die Zeit zu geben, in der sie elementare Vorgänge wie das Erleben eines Spannungsbogens von sich aus erspüren können. Die Verkürzung durch kognitive Erklärungen (»zähl doch bis acht«) verhindert das eigene Erkunden und Finden der Melodiespannung. Grundlegende Erfahrungen entstehen nicht durch Erklärungen, sondern durch eigene Aktivität. In diesem Fall führt Handeln zu allmählichem Erkennen von Zusammenhängen.
Bei den häufigen Wiederholungen der Melodie wird die Aufmerksamkeit der Kinder von dem Spannungsbogen in Anspruch genommen, einzelne Töne werden ihnen kaum bewusst. Die geraten aber trotzdem in die Wahrnehmung, ebenso der Rhythmus. Beim → Huckepackverfahren, das einzelne Töne oder Rhythmen einer Melodie nicht als Lernziel fokussiert, nehmen die Lernenden alle Bausteine der Melodie in sich auf. Sie gelangen beiläufig in die Wahrnehmung und in die Erinnerung.
Zu beiläufigem Vermitteln musikalischer Fertigkeit gehört auch, dass die Kinder nicht aufgefordert werden, die Melodie mitzusingen. Sie nehmen die Melodie im Huckepackverfahren auf und werden sie nach einiger Zeit singen, ohne dass es ihnen bewusst wird. Im Vordergrund ihrer Vorstellung steht das Spiel mit dem Stein, zu dem die Melodie gehört. Diese Einheit lässt sie automatisch singen.
Die frühen Erlebnisse des systematischen Musikunterrichts bestimmen die künftige Beziehung Lernender zur Musik. Wenn in diesem Lernstadium statt des Verlaufs Einzelheiten fokussiert werden, etwa Töne oder Rhythmen, kann das für die lernenden Kinder die Lebendigkeit der Musik verdecken. Zwar wird in der musikpädagogischen Folge das Detail sehr wichtig werden. Jedoch soll die ganzheitliche, globale Erfahrung einer Melodie und ihrer Wirkung den Anfang...