Kapitel 3.2, Gesundheitserziehung und therapeutisches Verhalten in Selbsthilfegruppen:
Moeller stellt heraus, dass Selbsthilfegruppenarbeit identisch mit der Behandlungstechnik von Therapeuten ist. In der Selbsthilfegruppe ist jeder ‚Patient’ und ‚Therapeut’ zugleich. Es hat sich in den Selbsthilfegruppen eine für die Konfliktarbeit günstige Umgangsform entwickelt. Die Art und Weise miteinander umzugehen, wird als therapeutisches Verhalten bezeichnet. ‘Das Therapieziel, die eigenen Konflikte zu bearbeiten, setzt zum Beispiel Gefühle wie Scheu, Unbehagen und Angst unbewusst viel stärker in Gang als das Alltagsleben. Konflikte sind aus Angst verdrängt’. Aktivitäten in der Selbsthilfe durch Betroffene und Interessenten erwachsen aus einem geänderten Bewusstsein in Bezug auf Zusammenhänge zwischen einer pathogenen Gesellschaft und individuellem gesundheitsschädlichen Verhalten. Es wird klar, dass die vorbeugende Gesundheitserziehung ein wichtiger Bestandteil der Selbsthilfegruppenarbeit ist. ‘Immer dort, wo die Gemeinschaft die Folgekosten für die gesundheitliche Schädigung der einzelnen trägt, (...) wird der Anspruch der Gemeinschaft an das Individuum in Richtung Verhaltensbeeinflussung ein größeres Ausmaß annehmen’. Selbsthilfegruppen tragen zu einer praktischen und theoretischen Gesundheitsbildung bei, denn es geht um die Aneignung und Entwicklung von Kompetenzen.
Therapeutisches Verhalten:
Was als therapeutisches Verhalten in Selbsthilfegruppen bezeichnet wird, stellte Michael Lukas Moeller, Psychoanalytiker, in den 1970er Jahren an den Psychosomatischen Universitätskliniken in Gießen und Heidelberg heraus. Er baut damit auf die Idee von Horst Eberhard Richter, ebenfalls Psychoanalytiker und Kollege von Moeller, auf. Bei diesem Konzept geht es um die Anwendung gruppentherapeutischer Ansätze auf unabhängige Gruppen. Diese Technik hielt in diesem Zusammenhang nicht nur Einzug in psychologisch – therapeutische Selbsthilfegruppen, sondern wurde auch auf Selbsthilfegruppen, die sich mit psychosomatischen und organischen Erkrankungen befassen, übertragen.
‘Der verbindende Leitgedanke lautete, Stigmatisierte und Benachteiligte in ihren Eigeninitiativen und ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, um trennende soziale Barrieren zu überwinden….’.
Moeller kommt in seinem Buch ‘Selbsthilfegruppen’ zu der Erkenntnis, dass die Art und Weise miteinander umzugehen, als therapeutisches Verhalten bezeichnet werden kann. So stellte er fest, dass jede therapeutische Bedingung etwas direkt oder indirekt am Verhalten verändert. Wenn sich Menschen entscheiden, den Anschluss an eine Selbsthilfegruppe zu suchen, kann man von einem mehr oder weniger großen Leidensdruck ausgehen. Der Leidensdruck setzt die Entscheidung des Betroffenen in Gang, etwas zur Minderung und Beseitigung der Situation zu unternehmen. Moeller schreibt weiter, dass der Leidensdruck auch das Maß für den Grad der Offenheit gegenüber der eigenen Störung ist. Er ist ein Zeichen der intrapsychischen Wahrnehmung und der emotionalen Durchlässigkeit. Daraus lässt sich ableiten, dass von der emotionalen Durchlässigkeit und von der intrapsychischen Wahrnehmung die Entscheidung, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen, abhängt. Die Entscheidung in eine Selbsthilfegruppe zu gehen, geht gleichzeitig mit einer Zielsetzung einher, sich zunächst dem Problem zu stellen und es bearbeiten zu wollen. Leidensdruck und Zielsetzung bedingen sich demnach. Wesentliches Element therapeutischen Verhaltens ist das Ziel, an sich zu arbeiten, um die eigenen Konflikte zu lösen.
Weiterhin erwähnt Moeller spontanes Verhalten während der Selbsthilfegruppensitzung als ein unausgesprochenes Leitbild. Spontaneität steht für geringe Kontrolle oder eine verminderte Abwehrbereitschaft. Verdrängungen werden teilweise aufgehoben. Moeller schreibt weiter, dass spontanes Verhalten nur möglich ist, wenn die Beziehungen authentisch und offen sind. ‘Wer spontan ist, ist echter – auch echter in seiner neurotischen Verzerrung oder in seinen Defekten’. Im spontanen Verhalten wiederholen sich konflikthafte Beziehungen. Es werden aber auch neue Beziehungen aufgenommen, die eine Gegenkraft zu den neurotischen Verzerrungen darstellen. Hinzu kommt eine beobachtende, verarbeitende, abschätzende, zuordnende und bewahrende Ich-Funktion. Die Reflexion beinhaltet die Klärung der psychischen Situation und das schrittweise neue Selbstverständnis. Moeller bemerkt, dass dieses therapeutische Verhalten für die meisten Teilnehmer von Selbsthilfegruppen sehr schwierig ist. Die Fähigkeit, sich zu öffnen und die reflektierende Betrachtung entwickeln sich erst im Verlaufe des therapeutischen Prozesses. In Selbsthilfegruppen scheint durch verstärktes Vertrauen und die Abwesenheit von Professionellen eher die Entwicklung von Spontaneität möglich zu sein, was die Möglichkeit der reflektierenden Betrachtung eher in Gang setzt.
Moeller schreibt auch, dass sich an die Entwicklung von spontanem, reflektierenden Verhalten ein Prozess der Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung anschließt. Nicht in Ich-Einschränkung oder phobischer Vermeidung zu verharren, gehört zur Fähigkeit, sich zu aktivieren und sich zu verwirklichen. Damit kommt der Charakter der Selbsthilfe, die Selbstmobilisierung, zum Ausdruck. Im Wesentlichen geht es in Selbsthilfegruppen darum, miteinander ins Gespräch zu kommen. Somit ist das Sprechen, dem kathartische Wirkung zugeschrieben wird, das Hauptinstrument für den Austausch. Im Sprechen gewinnen Probleme Gestalt, sie werden sichtbar, werden in der Sprache festgemacht und können zugeordnet werden. Insofern sind kathartische Vorgänge Entlastung von Spannungen und gleichzeitig aktive Neugestaltung von seelischen Phänomenen. Derartige Abläufe führen Einsicht in bisher unverstandene und unbemerkte konflikthafte Vorgänge. Selbsthilfegruppen entwickeln, wie jede therapeutische Gruppe, Reaktionen, einen homöostatischen Charakter. Das heißt, dass das Gruppengleichgewicht und damit auch das Angstniveau bewahrt bleibt. ‘Allgemein steigert die Häufigkeit des Gesprächs seine wirklichkeitssetzende Kraft. Kontinuität und Frequenz der Gruppensitzungen haben auch in diesem Zusammenhang ihre zusätzliche Wirkung’.
Verändernde Einsicht durch teilnehmende Resonanz sind Effekte, die aus dem praktizierten Selbsthilfeprinzip und dem Gruppenprinzip resultieren. Die Autoren Liebermann und Bond heben hervor, dass Einsicht eine Veränderung der Persönlichkeit, eine Korrektur von Fehlverhalten und eine angemessenere Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen bewirkt. Teilnehmende Resonanz bzw. fachsprachlicher ausgedrückt, identifikatorische Resonanz bedeutet, die wechselseitige Identifikation in Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander. Grundvoraussetzung für diese Gruppenselbstbehandlung ist die Fähigkeit, das bisher beschriebene ‘therapeutische Verhalten’ praktizieren zu können. Moeller stellt fest, dass dazu ‘die Fähigkeit, eigene Konflikte anzuerkennen, die Fähigkeit zu leiden, die Fähigkeit, sich ein Ziel zu setzen und sich daran zu halten, die Fähigkeit, über ein Minimum an Spontaneität und Selbstbeobachtung zu verfügen, die Fähigkeit und der Wunsch, sich selbst zu entdecken und eigene Empfindungen zur Sprache zu bringen, die innere Bereitschaft, sich wirklich zu ändern’ gehört. Ausgehend von diesen Wertvorstellungen kann auf die drei therapeutischen Prinzipien abgestellt werden. Sie verdeutlichen die notwendigen Fähigkeiten zur Selbsthilfegruppenarbeit."