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E-Book

Richard Strauss

Betrachtungen und Erinnerungen

AutorRichard Strauss
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783795786274
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Neben der von Willi Schuh verfassten Strauss-Biographie 'Jugend und frühe Meisterjahre' und dem Briefwechsel mit Hofmannsthal sind die 'Betrachtungen und Erinnerungen' eines der Standardbücher der Strauss-Literatur. Im Jubiläumsjahr 2014 erscheinen sie nun in einer überarbeiteten Fassung.

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Leseprobe

Gibt es für die Musik eine Fortschrittspartei?

Über die Ziele der künstlerischen Betrachtungen und kritischen Ausführungen, die in dieser Wochenschrift [«Der Morgen»] der Musik gewidmet sein sollen, eine Art Programm zu geben, widerstrebt mir gründlich.

Ich liebe überhaupt Programme nicht. Dem einen versprechen sie zu viel; den anderen beeinflussen sie zu stark; ein Dritter behauptet, in der Betätigung seiner eigenen Phantasie durch das Programm gestört zu sein; ein Vierter denkt lieber gar nichts, als daß er nachzudenken versucht, was ihm ein anderer vorgedacht hat; der Fünfte nörgelt sich mit einer anderen Ausrede hindurch — kurz, Programme sind unzeitgemäß. Nun traut man mir aber einen großen Spürsinn in der Auffindung des Sensationellen zu; ich tue auch wirklich, wie einige kluge Zeitgenossen bereits scharfsinnig herausgefunden haben, den ganzen Tag nichts anderes, als darüber spekulieren, wie ich (also so eine Art Musikschneider) die Methode der nächsten Saison wieder am besten befriedigen könnte — und so wollte ich denn zuerst, als das Allermodernste, den musikalischen Teil dieser Zeitschrift ganz ohne Programm des Herausgebers vom Stapel lassen, zumal ich damit am besten meiner kaum überwindliehen Abneigung gegen schriftstellerische Betätigung frönen konnte.

Die Herren Verleger ließen jedoch nicht nach: «Wenn Sie, werter Herr Strauss, schon als Herausgeber figurieren, geht es nicht an, daß Sie nur ab und zu als ‹spiritus rector› hinter den Kulissen wirken, sondern Sie müssen als ‹Führer der Moderne›, als ‹Haupt der Fortschrittspartei› unsern musikalischen ‹Morgen› mit einer wenn schon kurzen, aber desto bedeutenderen Kundgebung einleiten.»

Ich hasse derartige Kundgebungen von ganzem Herzen. Gegen seine beste Absicht kann man es kaum vermeiden, mehr oder minder pro domo zu sprechen, und mein Grundsatz ist nun einmal, daß man für sich selbst nur Taten und Werke, aber nicht Worte reden lassen soll. Jedenfalls ist selbst mit den verwegensten Werken der Künstler noch niemals soviel Konfusion angerichtet worden, wie mit den papierenen Kundgebungen ihrer Gegner, die mit Worten gegen Werke zu kämpfen sich bemühen. Ich überlasse daher solche Kundgebungen auch fernerhin allen denen, die ohne Schlagworte nicht leben mögen, oder die mit dogmatischen Verboten den naturnotwendigen Prozeß des Fortschritts glauben aufhalten zu können, so zum Beispiel den Gegnern der Zukunftsmusik, oder auch solchen Wagnerianern, die — an dem Geist ihres eigenen Meisters sich versündigend — ebenso petrefakt geworden sind, wie seinerzeit die Mozartianer um Franz Lachner, die Mendelssohnianer um Carl Reinecke oder die Lisztianer hinter Draeseke.

Wie gesagt, ich weigerte mich hartnäckig. Allmählich aber setzten sich die so verlockenden Worte «Führer der Moderne» und «Haupt der Fortschrittspartei», mit denen jetzt ebenso fleißig wie gedankenlos hantiert wird, immer eigensinniger in meinem Kopfe fest, und ich begann, besonders über die Fortschrittspartei, etwas nachzudenken.

Nachdenken ist immer unangenehm. Diesmal hatte es aber wenigstens zur guten Folge, daß ich mir schließlich die Frage vorlegte: Gibt es denn überhaupt eine Fortschrittspartei? Ich mußte mir diese Frage endlich mit einem strikten: Nein! beantworten.

Auch die eigentlichen engeren Wagnerianer waren doch nur eine Vereinigung gleichgesinnter Jünger, deren Ziel es war, die Ideen ihres Meisters zu erklären und zu verbreiten, Irrtümer und Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Gutwilligen in ihrem Urteil zu bestärken und die Mißgünstigen zurückzuweisen. Aber schließlich haben doch nicht diese Parteigänger den Fortschritt erzwungen, der treibende und in letzter Instanz entscheidende Faktor, der auch einem Richard Wagner, wie jedem anderen großen Neuschöpfer zu endgültigem Siege verholfen hat, war die große Masse des unbefangen genießenden Publikums, das sich in seiner naiven Empfänglichkeit für jede neue und bedeutende Kunstleistung in der Regel als der zuverlässigste Träger jeglichen Fortschrittsgedankens bewährt hat. Gegenüber der in der Geschichte immer wieder erhärteten Tatsache, daß eine große künstlerische Erscheinung vom großen Publikum sozusagen als ein Naturgegebenes instinktiv richtig erfaßt, wenn auch nicht durch klares Urteil im einzelnen begriffen wird, ist das Wirken eines etwa als Fortschrittspartei zu bezeichnenden engeren fachmännischen Kreises nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Die Hauptsache ist der zwingende Kontakt zwischen dem schaffenden Genie und der über den Rahmen jeder möglichen Partei weit hinausreichenden fortschrittswilligen Masse. Man darf sich nur dadurch nicht verwirren lassen, daß dasselbe große Publikum das mühelos Gefällige, Gemeinverständliche und sogar Banale ebenso — vorübergehend oft noch mehr — bejubelt, wie das künstlerisch Bedeutungsvolle, Neuartige, der Zeit Vorauseilende. Das Publikum hat eben zwei Seelen in seiner Brust. Eine dritte allerdings fehlt ihm: für diejenige Kunst, die weder ohne weiteres eingäuglich noch in hervorragendem Maße zwingend ist, hat das Publikum das wenigste Verständnis und die geringste Zuneigung. Daher so viele Enttäuschungen ernst strebender Künstler, von denen selbst der Gegner nicht schmähen mag, sie seien banal, und selbst der Freund nicht rühmen kann, sie besäßen eine auch die Masse fortreißende suggestive Kraft.

Carl Maria von Weber sagte einmal vom großen Publikum: «Der Einzelne ist ein Esel und das Ganze ist doch Gottes Stimme.» Und in der Tat, die Seele der tausendköpfigen Menge, die sich da in einem Konzert- oder Theatersaale zu künstlerischem Genießen vereinigt, wird in der Regel instinktiv für den Wert des ihm Gebotenen ein richtiges Empfinden haben, sobald ihm nicht von seiten geschäftiger Kritik oder geschäftlicher Konkurrenz Vorurteile eingepflanzt werden, die seine Unbefangenheit beeinflussen.

Ein markantes Beispiel für die sonderbare Verwirrung, die äußere Einflüsse auf das erste richtige Urteil des Publikums ausüben können, erzählte mir Alexander Ritter:

Als Franz Liszt vor etwa 50 Jahren zum ersten Male drei Konzerte in Dresden mit eigenen Orchesterwerken gab, löste die Uraufführung der damals zuerst gehörten, später so viel verlästerten sinfonischen Dichtungen am Konzertabend selbst eine ungeheure Begeisterung bei dem damals diesen Werken noch ganz naiv gegenüberstehenden Publikum aus. Am nächsten Morgen stand im Blättchen, Liszt sei überhaupt kein Komponist, und plötzlich schämten sich alle die guten Leute, die am Abend vorher ihrem schönen Enthusiasmus freien Lauf gelassen hatten, ihrer Begeisterung, keiner wollte schließlich applaudiert haben, und jeder hatte nachträglich tausend Wenn und Aber!

Alles Große kann jedoch schlimmstenfalls nur eine Zeitlang in seinem siegreichen Zuge gehindert, von den Dunkelmännern nicht endgültig aufgehalten werden: und so hat das große Publikum — Gottes Stimme — auch Franz Liszt gegen die Bosheit und den Unverstand erhoben, wie es Richard Wagner schon 1876 durch seine Begeisterung zu endgültigem Siege über seine Nörgler, Neider und Verleumder verholfen hat.

Wenn es nun auch im eigentlichen Sinne «keine Fortschrittspartei» gibt und nicht zu geben braucht, so ist es doch notwendig, das natürliche, gesunde Urteil der Unbefangenen zu schützen vor der Partei der ewig Rückständigen, die aus Unverstand, Unfähigkeit, Bequemlichkeit oder Eigennutz stets am Werke ist, den im Publikum lebenden Sinn für den Fortschritt zu ersticken.

Nach dem Jahre 1876 glaubte man wirklich, der Enthusiasmus des großen Publikums habe die Hetze der Feinde soweit zu Schweigen gebracht, daß sie nurmehr hinter stillen Konservatoriumsmauern, unter Ausschluß der Öffentlichkeit wagen würden, ihr Gift gegen den frechen Neuerer in die unschuldigen Seelen harmloser Klavier- und Kompositionsschüler zu träufeln. Man glaubte schon hoffen zu dürfen, von nun ab könne jeder im Kunstwald auf seine Fasson selig werden, komponieren, wie er Lust und wozu er Talent habe.

Diese Hoffnung war trügerisch. Zünftige Fachgenossen, die ängstlich besorgt um ihre eigene Wertschätzung, ohne schöpferische Potenz, lediglich im Besitz einer gewissen Kompositionstechnik irgendeiner verflossenen Kunstepoche, eigensinnig und gewalttätig gegen jede Erweiterung der Ausdrucksmittel und gegen jede Ausdehnung künstlerischer Formgebiete sich sträuben, Kritiker, deren Kunstanschauung auf einer erstarrten Ästhetik vergangeuer Zeiten basiert, wagen sich als festgeschlossene «Reaktionspartei» mehr und mehr wieder an die Öffentlichkeit und sind eifriger...

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