I
Es war ein Festtag heller Erinnerungen [entsann sich Phia Rilke, als ihr berühmter Sohn siebenundvierzig wurde], eingeleitet am 3. Dez., der Schnee lag riesig hoch, doch wir wagten uns um fünf Uhr aus, besuchten Großmama (die gute, hilfsbereite), denn am vierten war ihr Namensfest, und dann ging der gute Papa auf meinen Vorschlag freudig ein, wir besorgten bei Rummel ein kl. goldenes Kreuz für unser Kind, das wir doch erst im Feber erwartet, aber es war uns Freude, das Kleinod als erste Gabe daheim zu haben. Gegen acht Uhr wurde mir plötzlich so unwohl, daß wir die unentbehrliche Madame um ihren Abendbesuch baten, – sie kam – und ließ sich häuslich nieder, – prophezeite sofort, ein Siebenmonatkind hat es eilig in die Welt zu kommen … um Mitternacht, – die gleiche Stunde, wo unser Heiland geboren wurde, – und da es zum Samstag ging, – wurdest Du sofort ein Marienkind! – der gnadenreichen Madonna geweiht. Papa und ich segneten, küßten Dich, – unser helles Glück flüchtete im Dankgebet zu Jesus und Maria. Klein und zart war unser süßer Bubi, – aber prächtig entwickelt – und als er vormittags im Bettchen lag, bekam er das kl. Kreuzchen, – so wurde »Jesus« sein erstes Geschenk. – Dann kamen leider viele große und kleine Sorgen, – aber wenn ich an Deiner Wiege kniete, – jubelte mein Herz, der reizende Bubi – war unser höchstes Glück![2]
So ekstatisch begrüßte man im 19. Jahrhundert vielerorts noch die Geburt eines Kindes! Denn wenn wir der Mutter auch ihre Bigotterie und hart am Kitsch vorbeigehende Ausdrucksweise nachsehen müssen, so besteht doch kein Zweifel, daß Rilkes Eltern sich ein Kind gewünscht hatten; und dies um so sehnlicher, als ein im Vorjahr geborenes Mädchen nur wenige Wochen gelebt hatte. Der am 4. Dezember 1875 in Prag als Siebenmonatskind geborene Junge wurde am 19. Dezember in der Kirche zu St. Heinrich auf die Namen René Karl Wilhelm Johann Josef Maria getauft. Da Rilke, der als Einzelkind aufwuchs, sich wie kaum ein anderer deutscher Dichter für seine Vorfahren interessierte, lohnt es sich, zunächst seine Eltern kennenzulernen.
Der Vater, der 1838 im böhmischen Schwabitz geborene Josef Rilke, war in Militärschulen erzogen worden und als Offiziersanwärter in den Krieg von 1859 gezogen. Dort erreichte er, als Kadettfeuerwerker (Fähnrich) im 1. k.u.k. Artillerieregiment, sogleich den Höhepunkt seiner militärischen Laufbahn: Im Alter von einundzwanzig war er vorübergehend selbständiger Kommandant der Zitadelle von Brescia. Es war ein wichtiger Posten, denn Brescia bildete zusammen mit Mantua, Verona und Legnano das Festungsviereck, auf dem die österreichische Stellung in Oberitalien beruhte. Nach verlorenem Feldzug – als Folge der Niederlagen von Magenta und Solferino mußte Österreich die Lombardei an Napoleon III. abtreten, der sie dem Königreich Sardinien überließ – wurde er Instrukteur an der Kriegsschule seines Regiments.
Teils wegen eines chronischen Halsleidens und zum Teil wohl auch aus Enttäuschung darüber, daß man ihm trotz makelloser Führung und wiederholter Eingaben das Offizierspatent vorenthalten hatte, nahm Josef Rilke 1865 nach erst zehnjährigem Dienst seinen Abschied. Zuerst trieb er landwirtschaftliche Studien auf dem Gut einer Tante in Mähren, dann gelang es ihm dank der Protektion seines ältesten Bruders, des Landtagsabgeordneten und eigentlichen Hauptes der Familie Jaroslav Rilke, als Beamter (»Offizial«) bei der kurz zuvor gegründeten k.k. Turnau-Kralup-Prager Eisenbahngesellschaft unterzukommen. Er verbrachte den Rest seines Lebens als Bahnhofschef und Magazinvorstand in verschiedenen Kleinstädten und wurde schließlich als Inspektor (»Revisor«) der Böhmischen Nordbahn pensioniert. Ein letzter Versuch, das eintönige Beamtendasein gegen die Verwaltung eines Gutes einzutauschen, war schon vor Jahren gescheitert:
Die gräflich Sporksche Herrschaft Kukus [schreibt Rilke 1924 an seine Tochter] suchte einen Güterdirektor, mein Vater mußte Gründe haben, zu glauben, daß er einer solchen Aufgabe gewachsen wäre. – Aber es war nicht leicht, Beweise für diese Fähigkeit, die er sich zutraute, aufzubringen. Allerdings hatte er als junger Mensch auf dem Gute seiner Tante, der Baronin Weissenburg, volontiert …, diese Tatsache wurde nun in das vollste Licht gestellt und so behandelt, als wäre sie der Angelpunkt seines Lebens gewesen. Die Erwartung und Hoffnung in unserm Hause war groß, nicht allein versprach man sich von diesem Wechsel finanzielle und gesundheitliche Vorteile, das große Sporksche Barockschloß in Kukus war unbewohnt und wäre dem neuen Güterdirektor zugewiesen worden …; ich, soweit ich etwas von der schwebenden Angelegenheit begriff, ließ mich schon gehen in meiner Leidenschaft für Wagen- und Schlittenfahrten, für hohe Zimmer und lange weiße Gänge. Natürlich und gerechtermaßen wurde damals ein anderer Bewerber vorgezogen, der nicht nur landwirtschaftliche Jugenderinnerungen aufzuweisen hatte; und unser Provinzdasein versank, enttäuscht, in seiner trübseligen Alltäglichkeit. Hätte mein guter Papa eher diesen Entschluß gefaßt, so wäre wahrscheinlich alles anders verlaufen.
So ist Josef Rilke nicht über den mittleren Eisenbahndienst hinausgekommen. Ein kurz vor der Verheiratung aufgenommenes Bild zeigt einen hochgewachsenen, athletisch gebauten Mann mit vollem Backenbart nach kaiserlich-königlichem Vorbild, der sich lässig an den damals zu den Requisiten eines Photoateliers zählenden Sockel aus Pappmaché lehnt; dabei schaut er nicht der neben ihm sitzenden Braut, sondern der Kamera voll ins Auge. Es ist das zivile und bürgerliche Gegenstück zu einer alten Daguerreotypie, einer verblichenen Aufnahme des uniformierten Vaters, die Rilke immer bei sich trug. In einem Jugend-Bildnis meines Vaters betitelten Gedicht hat er ihn romantisch verklärt:
Im Auge Traum. Die Stirn wie in Berührung
mit etwas Fernem. Um den Mund enorm
viel Jugend, ungelächelte Verführung,
und vor der vollen schmückenden Verschnürung
der schlanken adeligen Uniform
der Säbelkorb und beide Hände –, die
abwarten, ruhig, zu nichts hingedrängt.
Und nun fast nicht mehr sichtbar: als ob sie
zuerst, die Fernes greifenden, verschwänden.
Und alles andere mit sich selbst verhängt
und ausgelöscht als ob wirs nicht verständen
und tief aus seiner eignen Tiefe trüb –.
Du schnell vergehendes Daguerrotyp
in meinen langsamer vergehenden Händen.
Auch im Alter war Josef Rilke noch ein Mann mit »enorm viel … Verführung«. Max Brod hat ihn als »eleganten Schwerenöter« geschildert, »der wie ein strammer Kavallerieoffizier in Zivil aussah« und beim sonntäglichen Grabenbummel, auf dem Weg zum Café Continental in der Altstadt, »den wohlbehüteten hübschen Mädchen mit tiefen Blicken ins Gesicht« schaute; ein anderer Prager, Hugo Lindemann, erinnerte sich an den älteren Rilke als einen würdevollen Herrn mit weißem Vollbart: »Wir nannten ihn deshalb den lieben Gott.« – Seiner dreizehn Jahre jüngeren Frau Sophie Rilke, genannt Phia, konnte dieser fesche und gutmütige, aber beschränkte und auch ein wenig spießige Mann allerdings weder geistig noch gesellschaftlich das bieten, was sie sich von der Ehe erhofft hatte.
Phia entstammte einer angesehenen Prager Familie, die aus dem Elsaß eingewandert war; ein Umstand, auf den Rilke gelegentlich seine Neigung zu einer spezifisch französischen Art von Geistigkeit zurückführte (auf eine andere Art von möglichem Erbgut ist er hingegen nicht eingegangen: Theresia Mayerhof, Phias Urgroßmutter mütterlicherseits, scheint Jüdin gewesen zu sein). Phias Vater, Carl Entz, Sohn eines Prager Stadtschreibers, hatte es zum Direktionsmitglied der Böhmischen Sparkasse und Kaiserlichen Rat gebracht. Die Mutter, Caroline Entz geb. Kinzelberger, war in ihrer Brautzeit als ausgesprochene Schönheit gefeiert worden und galt noch in hohen Jahren – sie starb, fast hundertjährig, erst 1927 – als eine lebenslustige Dame. Im Barockpalais Entz-Milesimo in der Herrengasse führten die Eltern ein Leben von großbürgerlichem Zuschnitt, an das Phia wehmütig zurückdachte, als sie mit dem auf sein Beamtengehalt angewiesenen Mann in die bescheidene Mietwohnung in der Heinrichsgasse 18 (auf dem Weg vom Roßmarkt zum Heuwagsplatz, jetzt Jindřišká ulice) gezogen war. Es dauerte nicht lange, bis der junge René, dem bei sonntäglichen Besuchen oft genug »der Löffel Suppe recht fremd in den Mund hineinfuhr«, sich seinerseits über die Diskrepanz im Lebensstil der beiden Familien Gedanken machte. Er hat nie ein rechtes Verhältnis zu den Großeltern gefunden, obwohl er artig genug war, Caroline Entz jedes Jahr zu Weihnachten eine Schachtel Süßigkeiten schicken zu lassen.
Als Ersatz für die verstorbene Tochter, vielleicht auch aus unterschwelliger Aggression gegen den ungeliebten Gatten erzog Phia ihren Sohn, den sie nicht hatte stillen können oder wollen, zunächst als Mädchen. Auf einer 1882 angefertigten Photographie vermerkte sie eigenhändig: »Mein Schatz in seinen ersten Höschen.« Bis dahin, also bis zum Alter von sieben Jahren, war René, dessen Name sich kaum von der weiblichen Form Renée unterschied, in...