Kapitel 1 Die Katastrophe
DER ZWEITE WEIHNACHTSTAG ist kein besonderer Tag für die Buddhisten, Hindus und Muslime in Asien, und nur wenige der dort lebenden Christen begehen ihn als Feiertag. Der 26. Dezember 2004 fiel auf einen Sonntag, doch auch dies unterschied ihn kaum von anderen Tagen. Die Armen haben auch am Sonntag keine Muße, und für Touristen ist jeder Tag ein Mußetag. So taten die Menschen an den Küsten des Indischen Ozeans an diesem Tag das, was sie immer tun: Die Fischer fuhren aus, die Hafenarbeiter machten sich an die Arbeit, Touristen und besser gestellte Einheimische, die den Sonntag freimachen können, gingen, wenn sie sich nicht noch in den Betten räkelten, an den Strand, denn die Sonne schien, der Himmel war in weiten Regionen wolkenlos, das Meer lockte.
Von jeher zieht das Meer die Menschen an. Die Ozeane ernähren uns, von ihnen steigt das Wasser auf, das als Regen wieder zur Erde fällt, unsere wichtigsten Transportwege verlaufen über die Meere, und ihre Küsten sind unsere bevorzugten Lebensräume. Die Mehrzahl der Menschen wohnt heute in küstennahen Regionen. Für reiche Touristen sind Urlaub und Strand fast schon zu Synonymen geworden.
Das Meer besitzt in vielerlei Hinsicht mythische Qualitäten. Das Leben ist in den Ozeanen entstanden, und die Weite des Horizonts vermittelt uns einen Eindruck von Unendlichkeit. Aber das Meer ist auch gefahrvoll und todbringend. In der Überlieferung vieler Völker ist die Rede von einer Sintflut, mit der den Menschen auf fürchterliche Weise gerade die Endlichkeit alles Irdischen vor Augen geführt wird. Das dürfte der amerikanische Philosoph und Kulturhistoriker William James Durant im Sinn gehabt haben, als er schrieb: »Die Zivilisation besteht nur mit der geologischen Einwilligung unseres Planeten. Diese Einwilligung kann er jederzeit und ohne Vorwarnung widerrufen.«
An diesem zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 schien es, als ob der Planet seinen Kontrakt mit der Zivilisation aufkündigen wollte. Doch ohne Vorwarnungen geschah dies nicht. Indes konnten oder wollten die Menschen diese Vorwarnungen nicht beherzigen.
In der Nacht zum 26. Dezember bebt der Meeresboden entlang der Kontinentalplatte vor Sumatra mehrere Male. Die Beben bleiben zunächst folgenlos. Indonesien wird alle paar Tage von Erdstößen erschüttert. Sie gehören zum Alltag und werden von der Bevölkerung als Gott gegeben hingenommen. Wissenschaftler nehmen in dieser Nacht höchst unterschiedliche Messungen vor.
Es ist 0:58 UTC, der Universal Coordinated Time, der Zeitmessung, die früher Greenwich Mean Time, GMT, genannt wurde. Auf Sumatra ist es also 7:58 Uhr, und vom Institut für Wetterkunde und Geophysik in der auf der Nachbarinsel Java liegenden indonesischen Hauptstadt Jakarta werden die Erdstöße mit einer Stärke von 6,4 auf der Richterskala registriert. Ein nicht sonderlich beunruhigender Wert in dieser Region. Auf den Philippinen, die ebenfalls in der Vergangenheit häufig von Erdstößen und Tsunamis heimgesucht worden sind, wird an diesem Sonntagmorgen gar nicht gemessen, obwohl das Land sich mit internationalen Verträgen verpflichtet hat, Erdbeben zu registrieren und die Daten ins Internet zu stellen. In Singapur dagegen, Sumatra gegenüber an der Straße von Malakka, wird ein Wert von 8,5 ermittelt. In der US-amerikanischen Erdbebenwarte im Bundesstaat Colorado stellen die Experten ein Beben von einer Stärke von 8,9 fest. Und in Malaysia, ebenfalls Sumatra östlich gegenüber, registrieren Seismologen in diesem Moment ein Seebeben der Stärke 9. Mit 9 Punkten auf der Richterskala wäre dies das weltweit gewaltigste Beben seit vierzig Jahren und das fünftstärkste, das überhaupt je gemessen wurde.
Von den amerikanischen Forschern wird eine Warnung ausgegeben, dass auf die Erdstöße ein Tsunami folgen könnte. Eine entsprechende Meldung wird wenige Minuten nach dem Beben auf die Internetseite des Geologischen Dienstes der USA gestellt. Wer sie lesen will, muss allerdings ein wenig suchen, sich über fünf Links weiterklicken. Zunächst ist nur die Entwarnung für die Anrainer eines anderen Ozeans zu lesen: »Keine Tsunami-Gefahr für die Pazifik-Region.« Darunter der lapidare Hinweis: »Möglichkeit eines Tsunami im Erdbebengebiet.« Die Warnung verpufft, wer von ihr erfuhr, nahm sie nicht ernst. Das »Erdbebengebiet« liegt irgendwo auf hoher See. Tsunamis im Indischen Ozean – lang ist es her, dass jemand von diesen Wellen gehört hätte, zu lang. Und die bloße »Möglichkeit« eines Tsunami besteht in dieser Region praktisch jeden Tag.
Ein direkter Kontakt zwischen den amerikanischen Experten und den Behörden in der Region kommt nicht zustande. Es gab keine Adresse, keine Telefonnummern – die Amerikaner erklärten später, sie hätten schlicht nicht gewusst, wen sie auf die drohende Gefahr hätten aufmerksam machen können. Immerhin wurden E-Mails an die amerikanischen Botschaften und andere Außenstellen rund um den Indischen Ozean verschickt und Anrufe getätigt. Es bleibt ungeklärt, ob dabei von der »Wahrscheinlichkeit« (»probability«) oder nach wie vor lediglich von der »Möglichkeit« (»possibility«) eines Tsunami die Rede war.
Das Epizentrum, der genau senkrecht über dem Erdbebenherd liegende Punkt, befindet sich vor der Küste Sumatras, bei 3,3° nördlicher Breite und 95,8° östlicher Länge, rund dreihundert Kilometer von der Nordspitze der Insel und rund tausendfünfhundert Kilometer von Jakarta entfernt (siehe Karte). Auf einer bogenförmigen Strecke von rund tausend Kilometer lösen sich zwei Platten aus ihrer Verkantung, die westlich gelegene Indische Platte schiebt sich unter die der Eurasischen Platte vorgelagere kleinere Burma-Platte. Der Meeresboden sinkt plötzlich um zehn Meter. Dann federt er wieder hoch. Ein Sog nach unten entsteht. An der Meeresoberfläche bilden sich Flutwellen. Sie breiten sich aus, rasen mit ungeheurer Geschwindigkeit in alle Richtungen. Aber nicht so kreisförmig wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein in ruhiges Wasser wirft. Da suggerieren die Grafiken, die bald darauf publiziert werden, etwas Falsches. Die Wellen des Tsunami im Indischen Ozean rollen wie zielgerichtet voran. Ihr Lauf wird bestimmt von der Struktur des Meeresbodens, von Inseln und am Ende von der Beschaffenheit der Küste, auf die sie treffen. Thailand, Indien, Indonesien und Sri Lanka liegen gewissermaßen in den Brennpunkten, die Hauptwellen kommen dort mit gebündelter Kraft an. Bangladesch hingegen bleibt verschont, die Sedimentablagerungen im Ganges-Delta können die Wasserwalze bremsen. Auch die Insel Diego Garcia mit dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt kommt davon. Die Malediven, die bekanntlich nur zwei Meter über den Meeresspiegel ragen, werden zwar nicht von der konzentrierten Hauptwelle getroffen, trotzdem aber überflutet.
Ein gewaltiges Faltengebirge erstreckt sich im Westen der Insel und fällt zur Küste hin steil ab. Viele Orte liegen hier in den ungeschützten flachen Buchten. Sie werden vom Tsunami fast vollständig ausgelöscht. Nur die eine oder andere Moschee bleibt stehen, die Gotteshäuser wurden eindeutig stabiler als die Wohnungen der Menschen gebaut.
Unvorstellbare Szenen ereignen sich. Vor der Küste von Aceh, der Provinz im Norden Sumatras, die dem Epizentrum am nächsten liegt, hebt die Welle ein Fischerboot an und schleudert es an Land. Das Boot landet auf dem Dach einer Moschee. Die Fischer steigen unversehrt aus. Sie klettern hinunter, schauen in das Gebetshaus. Sie sehen Dutzende von Leichen. Die Gläubigen sind beim Gebet von der Flut überrascht worden und ertrunken.
In Banda Aceh, der 400000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt von Aceh, wälzt sich urplötzlich ein schwarzer schlammiger Strom durch die Einkaufsstraßen des Zentrums. Es ist, als würde ein Fluss rückwärts fließen, den Berghang hinauf. In ihm treiben Hunderte, ja Tausende von Toten. Baumstämme, Überreste von Häusern und Bretterbuden, Mopeds und Autos, Tierkadaver und Marktgüter, alles verhakt und verkantet sich ineinander, zerschmettert die Knochen derer, die, im Wasser treibend, vielleicht noch am Leben sind, reißt Wunden in die Körper derer, die sich verzweifelt irgendwo festzuhalten versuchen, Wunden, die sich bald infizieren werden und deren Brand sich nur durch Amputationen noch wird aufhalten lassen. Achtzehn Stunden lang ist die Stadt von der Welt völlig abgeschnitten. Nach dem Rückzug der Wassermassen bedeckt eine dicke Schlammschicht die Straßen und Plätze. Die Leichen beginnen in der tropischen Hitze bereits zu verwesen, als die ersten Helfer eintreffen. Die Flutwellen haben in die Küste neue Buchten gegraben. Eine der Stadt vorgelagerte kleine Insel ist vollständig verschwunden. Und die Verwüstungen reichen weit bis ins Landesinnere hinein. Die Todeszone von Banda Aceh wird auf über vierzig Quadratkilometer geschätzt.
Siedlungen, Dörfer, Städte wie Banda Aceh, die mehr oder weniger nah an der Küste erbaut sind, konnten den Menschen so gut wie keinen Schutz bieten. Und die natürlichen Schutzwälle, die einst an vielen Küsten des tropischen Asien anzufinden waren, die Dreifachwellenbrecher aus Riffen, Dünen und Mangrovenwäldern, die dem Wasser einen großen Teil der Wucht nehmen können, sind der modernen Zivilisation schon vor Jahren zum Opfer gefallen.
Indonesiens Präsident...