Man nannte ihn auch »Peter der Große«. Fast 50 Jahre war er der geliebte Kaiser von Brasilien. Er schaffte die Sklaverei ab, führte Eisenbahn und Elektrizität ein. Rio verdankt ihm seinen ersten Aufschwung.
Kleine Grotten, eine Allee von Sapucaiabäumen, Teiche, über die sich Schlingpflanzen neigen – die Quinta da Boa Vista 30 ( ? D 2) ist ein besonders verträumtes Stück Rio. Mitten in der Millionenmetropole lädt die von dem französischen Landschaftsarchitekten Auguste Glaziou gestaltete Parkanlage zu Mußestunden im Grünen ein. Auch der Zoo und das Naturkundemuseum, das Museu Nacional, haben in dem riesigen Areal Platz, das ursprünglich von den Jesuiten zur landwirtschaftlichen Nutzung angelegt wurde.
Wer würde vermuten, dass sich ausgerechnet dort, wo im 16. und 17. Jahrhundert Obst und Gemüse angebaut wurden, wichtige Kapitel der brasilianischen Geschichte abspielten? Dass Dom Pedro II. im Palast des Parks, im Palácio da Quinta da Boa Vista, das Licht der Welt erblickte, als 15-Jähriger Kaiser wurde und hier residierte? Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein portugiesisches Kind aus dem Haus der Bragança Herrscher von Brasilien wurde? Dem geht eine turbulente Geschichte voraus. Sie beginnt damit, dass Pedros Großvater Dom João VI., Prinzregent von Portugal, 1807 vor napoleonischen Truppen flieht. Mit seinem etwa 22 000 Menschen umfassenden Hofstaat siedelt er in das 50 000 Einwohner zählende Rio über, das dadurch den Rang einer Residenz erlangt. Kunst und Kultur mit einem regen Musikleben halten Einzug. Diese Konstellation wird das Land nachhaltig verändern.
Als Joãos geistig umnachtete Mutter, Königin Maria I., 1816 in Portugal stirbt, wird er König von Portugal und Brasilien, kehrt aber 1821 auf Drängen der portugiesischen Cortes ins Mutterland zurück und überlässt Brasilien seinem Sohn Pedro. Als auch der nach dem Willen des Parlaments, das Brasilien in den Status einer Kolonie zurückführen will, nach Portugal kommen soll, erklärt er kurzerhand am 7. September 1822 die Unabhängigkeit des Landes und krönt sich zum Kaiser Pedro I. von Brasilien. 1826 stirbt sein Vater, sodass er nun auch König von Portugal ist. Der impulsive Monarch vermag jedoch nicht beide Länder gleichzeitig zu regieren. Weil er die Erwartungen der Brasilianer nicht erfüllen kann und zunehmend mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen hat, dankt er am 7. April 1831 ab, um in Portugal die Zügel in die Hand zu nehmen – und Brasilien seinem kleinen Sohn Pedro zu überlassen. Da ist der gerade mal fünf Jahre alt.
Pedro de Alcântara João Carlos Leopoldo Salvador Bibiano Francisco Xavier de Paula Leocádio Miguel Gabriel Rafael Gonzaga von Bragança und Habsburg war am 2. Dezember 1825 zur Welt gekommen. Seine Mutter, Maria Leopoldine von Österreich, eine Tochter von Kaiser Franz II., stirbt früh, möglicherweise an den Folgen einer Frühgeburt, die ihr gewalttätiger Ehemann Pedro I. mit einem Tritt in ihren Bauch ausgelöst hat. Kaum hat sich ihr kleiner Sohn an seine Stiefmutter Amélie von Leuchtenberg gewöhnt, wird er allein mit seinen Geschwistern in Brasilien zurückgelassen. Nachdem auch Pedros ältere Schwester gestorben ist, ist er rechtmäßiger Thronfolger.
Natürlich ist ein Fünfjähriger der Aufgabe als Regent nicht gewachsen. Während ein Gremium die Regierungsgeschäfte übernimmt, wird das Kind auf die Zukunft vorbereitet. Vom Aufstehen um 6.30 Uhr bis zum Schlafengehen um 22 Uhr muss er Sprachen lernen – Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Latein und Griechisch – und sich mit Naturwissenschaften und Künsten befassen. Der Junge soll nicht wie sein hitzköpfiger Vater werden. Der kleine Pedro, der wenig Freunde und kaum Gelegenheit zum Spielen hat, flüchtet sich früh in die Welt der Bücher, entwickelt vielseitige Interessen; mit seinem ernsten Naturell werden ihm Pflichtbewusstsein und Disziplin zur zweiten Natur. Gute Voraussetzungen für einen besonnenen Monarchen.
EIN 15-JÄHRIGER WIRD KAISER
So sehen sich diejenigen, die ihn im Alter von 14 Jahren für volljährig erklären lassen, um den unerfahrenen, schüchternen Jungen gut manipulieren zu können, bald getäuscht: Als Dom Pedro II. am 18. Juli 1841 zum Kaiser gekrönt wird, umgibt er sich mit guten Beratern, sorgt für eine gerechte Machtverteilung zwischen der Liberalen und der Konservativen Partei und somit für stabile Verhältnisse. Seine Regierungsgeschäfte führt er im Paço Imperial 29 ( ? J 2), dem Kaiserpalast im Stadtzentrum von Rio. An der Praça XV gelegen, wo die Schiffe nach Niterói und zur Insel Paquetá fahren, war das im 18. Jahrhundert erbaute Gebäude im barocken Kolonialstil 150 Jahre lang Amtssitz der Könige, Vizekönige und Kaiser von Brasilien. Hier wurde die Unabhängigkeit Brasiliens ausgerufen und die Akte zur Abschaffung der Sklaverei verabschiedet. Heute bietet der Palast einen stilvollen Rahmen für Kunstausstellungen, auch das Restaurant im Innenhof lohnt einen Besuch.
Der junge Kaiser arbeitet von früh bis spät, bleibt dabei schweigsam und verschlossen. Ob sich das durch eine Hochzeit ändern würde? Zur Disposition steht Teresa Maria Cristina di Borbone von Neapel-Sizilien. Pedro willigt ein, am 30. Mai 1843 wird in Neapel der Heiratsvertrag unterzeichnet. Doch als er am 3. September in Brasilien die Braut in Empfang nimmt, ist die Enttäuschung groß: Dem 1,90 Meter großen, stattlichen und blonden Kaiser mit den blauen Augen steht eine relativ kleine, untersetzte und nicht eben attraktive Frau gegenüber. Er ist so schockiert, dass er in Gegenwart seiner Gouvernante in Tränen ausbricht – doch am nächsten Tag findet die Hochzeit statt.
Die Beziehung zwischen dem Ehepaar verbessert sich mit der Zeit, wobei ihm später auch romantische Verbindungen zu anderen Damen nachgesagt werden. Ansonsten gilt seine Liebe den schönen Künsten seiner 60 000 Bände umfassenden Bibliothek. Seine Neigungen ordnet er stets der Pflicht unter. Der Kaiser führt ein relativ bescheidenes Leben und betrachtet Luxus als Diebstahl am Volk. Nur hier und da gönnt er sich kleine Auszeiten in seiner Sommerresidenz im kühleren Petrópolis, das etwa 60 Kilometer von Rio entfernt im Orgelgebirge liegt und von Tirolern gegründet wurde. Heute wurde in dem neoklassizistischen Palast das viel besuchte Museu Imperial untergebracht.
Mit der Zeit erarbeitet sich Pedro II. eine komfortable Machtposition, die ihn mehrere Krisen überstehen lässt. 1848 kommt es zu Aufständen in Pernambuco, die niedergeschlagen werden. Dann droht außenpolitisches Ungemach von Argentinien. Seit den 1830er-Jahren hatte der argentinische Diktator Juan Manuel de Rosas Aufstände in Uruguay und Brasilien angezettelt. Nun unterstützt Pedro seinerseits eine Rebellion gegen den Machthaber, der 1852 gestürzt wird. Im uruguayischen Bürgerkrieg von 1863 schlägt sich Brasilien auf die Seite des Anführers der Liberalen, Venancio Flores, und verhilft ihm zur Präsidentschaft. Als Paraguays Diktator López, ein Freund des entmachteten uruguayischen Staatschefs, mit seiner Armee in die brasilianische Provinz Mato Grosso eindringt, um sich Zugang zum Meer zu verschaffen, schließen sich Brasilien, Argentinien und Uruguay zur sogenannten Tripel-Allianz zusammen und besiegen Paraguay in einem bis 1870 währenden Krieg.
Auch einen Konflikt mit England, der sich an der Festnahme eines betrunkenen Briten in Rio und einem Handelsschiff entzündet hat, das vor der Küste Brasiliens Schiffbruch erlitten hat und geplündert wird, kann Pedro beilegen und in buchstäblich letzter Minute verhindern, dass britische und brasilianische Kriegsschiffe aufeinander feuern. Er gilt als umsichtiger, aufgeklärter Monarch, der international wegen der weitgehenden Bürgerrechte, der Meinungs- und Pressefreiheit im Land Respekt und Anerkennung genießt. Außerdem stellt sich zunehmender Wohlstand ein. Ab 1850 werden Eisenbahnlinien gebaut, Telegrafenleitungen und Dampfschifffahrtslinien eingerichtet, der Export von Kautschuk, Kaffee, Zucker, Holz und Rindfleisch floriert.
Doch hat die Monarchie einen großen Makel: Länger als alle anderen Länder hält Brasilien an der Sklaverei fest. Der Kaiser selbst ist zwar deren erklärter Gegner und hat seine eigenen Sklaven 1841 in die Freiheit entlassen, doch er weiß um die Bedeutung der Leibeigenen für die Landwirtschaft und strebt einen nur schrittweisen Übergang zur völligen Freilassung an. Die wird nach mehreren Anläufen aber erst im Jahr 1888 erreicht, und ausgerechnet da befindet sich der körperlich geschwächte...