Kindheit, Schulzeit und Studium
Robert Schuman verbrachte seine Kindheit und Jugend in Luxemburg. Sein Vater Jean-Pierre (1837–1900) stammte aus dem lothringischen Weiler Évrange (Ewringen) an der Grenze zum Großherzogtum. Bis zur Hochzeit hatte er dort zusammen mit seinem älteren Bruder eines der Gehöfte bewirtschaftet. Die ursprüngliche Heimat seiner Gattin Eugénie (1864–1911), geb. Duren, war der luxemburgische Grenzort Bettemburg, nur zwölf Kilometer von Évrange entfernt. Ihr Vater, ein Zollbeamter, war 1872 nach Kruth versetzt worden, ein Dorf im Elsass an der damaligen Grenze zu Frankreich. Zwischen Luxemburg und dem Deutschen Reich gab es zu dem Zeitpunkt keine Schlagbäume mehr; das Großherzogtum gehörte bereits seit 1842 zum Deutschen Zollverein. Jean-Pierre und die 27 Jahre jüngere Eugénie hatten sich in Bettemburg kennengelernt, wo diese bei ihren Großeltern oft ihre Ferien verbrachte. Im August 1884 heirateten die beiden in Kruth. Jean-Pierre Schuman war so wohlhabend, dass er fortan als Privatier leben konnte.
Das Ehepaar ließ sich in Luxemburg nieder, da für Eugénie das neutrale Land nach wie vor ihre Heimat war und Jean-Pierre das freiwillige Exil dem Leben in Lothringen vorzog. Elsass-Lothringen war nach dem Deutsch-Französischen Krieg im sogenannten Frankfurter Frieden im Mai 1871 vom Deutschen Kaiserreich annektiert worden. Das frisch vermählte, altersmäßig recht ungleiche Paar mietete die kleine Villa Feyden im Vorort Clausen, der verwaltungsmäßig schon damals zur Hauptstadt gehörte. Von dem Gebäude, das Schumans Vater später erwarb, blickt man über das Tal der Alzette auf die malerische Silhouette der heute zum Weltkulturerbe gehörenden Altstadt mit ihren imposanten Festungsanlagen. Hier kam Robert Schuman am 29. Juni 1886 um zwei Uhr nachts zur Welt; seine Eltern bekamen keine weiteren Kinder.
Das Kind wurde zehn Tage nach der Geburt auf die Namen Jean-Baptiste, Nicolas, Robert in der Pfarrkirche von Clausen getauft.
Clausen hatte zu jener Zeit einen dörflichen Charakter, und die luxemburgische Hauptstadt mit ihren damals gerade 20 000 Einwohnern war politisch und wirtschaftlich nicht vergleichbar mit dem heutigen einflussreichen Zentrum der Finanzwelt und Sitz des Europäischen Gerichtshofs. Die große Politik spielte damals in den Machtmetropolen Berlin und Paris; viele Luxemburger gingen über die Grenze im Trierer Raum zur Arbeit. Drei von Robert Schumans Großeltern stammten aus Luxemburg: die Großmutter väterlicherseits sowie die Eltern seiner Mutter. Die Deutschen hatten den Lothringern nach der Annektierung für kurze Zeit – bis Anfang Oktober 1872 – die Wahl gelassen, die französische Staatsangehörigkeit zu behalten und dann nach Frankreich zu emigrieren. Ein Drittel der lothringischen Bevölkerung tat diesen Schritt. Roberts sehr heimatverbundener Vater war widerwillig deutscher Staatsbürger geworden. Durch die Eheschließung bekam auch die Mutter einen deutschen Pass, und so war auch der Sohn in den ersten 32 Jahren seines Lebens Deutscher. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, im Herbst 1918, als Elsass-Lothringen wieder zu Frankreich gehörte, wurde er Franzose. Sich selbst empfand er vor allem als Lothringer; sein lothringischer Patriotismus war eindeutig ein Einfluss seines Vaters. Robert Schuman bezeichnete Lothringen als „mon petit pays“, was mit „Heimat“ wohl am treffendsten zu übersetzen ist.
Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen war ein starkes patriotisches Erlebnis: Als Vierjähriger war er bei der Begrüßung des neuen Großherzogs Adolph zugegen, der 1890 nach dem Tod des niederländischen Königs Wilhelm III. in Luxemburg die Erbfolge antrat. Verloren stand das Kind vor dem Großherzoglichen Palast inmitten der Volksmenge, die begeistert skandierte: „Mir welle jo keng Preisse sin!“ Noch heute heißt es im „Feierwon“, dem Nationallied der Luxemburger, am Ende des Refrains: „Mir welle bleiwe, wat mir sin!“
Roberts Muttersprache war Luxemburgisch (Letzebuergesch), ursprünglich moselfränkisches Mittelhochdeutsch, seit 1984 dritte Amtssprache im Großherzogtum. Seine Mutter sprach mit ihm meist in ihrer heimischen Sprache, hin und wieder auch Französisch, aber nie Deutsch, das sie seit ihrer Schulzeit beherrschte. In den vielen Briefen, die sie ihm später in seiner Studentenzeit schrieb, verwendete sie die französische Sprache. Sein Vater redete mit ihm nur Französisch. Mit seinen Altersgenossen und Schulkameraden unterhielt sich das Kind auf Letzebuergesch, und in der Schule lernte er Hochdeutsch. Die Ferien verbrachte die kleine Familie oft im elsässischen Kruth nahe dem Vogesenkamm bei Schumans Großeltern mütterlicherseits. Seine perfekte Beherrschung der drei Sprachen sowie die gründliche Kenntnis der verschiedenen Kulturen, in denen er aufwuchs, waren beste Voraussetzungen für sein späteres berufliches und politisches Wirken. Wohl zu Recht wird oft auf die starke Prägung des Kindes durch seine Mutter hingewiesen, eine tief religiöse, herzensgute Frau von strahlender Anmut. Vor allem sie vermittelte ihm ein lebendiges Gottvertrauen; die Teilnahme am Leben der katholischen Kirche war in der Familie eine Selbstverständlichkeit. Gern erzählte sie dem kleinen Robert Märchen oder las Geschichten vor, auch aus erbaulichen religiösen Büchern. Sie hielt ihn zum Fleiß an und achtete darauf, dass der Schüler seine Hausaufgaben sorgfältig erledigte. Die Schumans besaßen eine eigene kleine Bibliothek, zu der die Klassiker der französischen Literatur, aber auch bekannte deutsche Autoren gehörten. Von klein aufweckte seine Mutter in ihm die Lust am Lesen; die Welt der Bücher war für ihn zeitlebens weit mehr als ein Hobby. Die Erziehung seitens des Vaters soll bisweilen ziemlich streng gewesen sein, distanziert in den Äußerungen seiner Gefühle. So war die Verbundenheit des Kindes mit der Mutter, seinem „Mammschen“, wie er sie liebevoll nannte, tatsächlich stärker und weitaus nachhaltiger. Als Kindermädchen stellte sie nach seiner Geburt Lies Schumacher aus Ewringen ein, die ihm später, in den ersten Jahren als Anwalt in Metz, bis zu ihrem Tod 1919 den Haushalt führte.
Als Robert 1892 eingeschult wurde, hatte er bereits einige Kenntnisse im Lesen und Schreiben; er konnte in der Grundschule zwei Klassen überspringen und kam schon 1896 auf das Großherzogliche Athenäum. Seine Lieblingsfächer waren Geschichte, Latein und Mathematik, das Fach Leibesübungen lag ihm weniger. Seine auch musikalisch talentierte Mutter spielte ihm gern zu Hause auf dem Flügel vor, am liebsten Mozart. So weckte sie in ihrem Jungen seine besondere Neigung zur Musik, und er bekam schon früh Klavierunterricht. Auf dem Instrument seiner Mutter hat er auch später selbst immer wieder gespielt; es steht noch heute im Arbeitszimmer seines Hauses in Scy-Chazelles.
Roberts Vater verstarb im Juli 1900 im Alter von 63 Jahren, als der Junge gerade 14 Jahre alt geworden war.
Nach der Reifeprüfung am Athenäum 1903 wechselte Robert in die Oberprima des Kaiserlichen Gymnasiums in Metz, wo er im März 1904 das deutsche Abitur nachholte – Voraussetzung für das geplante Jurastudium an deutschen Universitäten. Dieses letzte Schuljahr war sein erster längerer Aufenthalt in Metz, das ihm nach dem Studium zur Wahlheimat wurde.
Da es in Luxemburg damals keine Universität gab und er sich als Einziger aus seiner Abschlussklasse bereits am Athenäum für ein Studium in Deutschland statt in Frankreich oder Belgien entschieden hatte, immatrikulierte er sich 1904 als Student der Rechtswissenschaft in Bonn; das war nicht sehr weit von seinem heimatlichen Wohnort und dank einer guten Eisenbahnverbindung schnell zu erreichen. Er war nur im Sommersemester an der Bonner Universität. Der junge Student schloss sich der katholischen Studentenverbindung Unitas an (die in Bonn den Namen „Salia“ trug), ebenso nachher in München, Berlin und Straßburg; zeitlebens blieb er den Unitariern treu verbunden.
Für die nächsten beiden Semester wechselte er an die Ludwig-Maximilians-Universität in München; dort hörte er Vorlesungen des Nationalökonomen Lujo von Brentano und studierte Deutsches Recht bei Georg Freiherr von Hertling, dem Gründer und Vorsitzenden der Görres-Gesellschaft. Hertling wurde später, im Jahr 1912, bayerischer Ministerpräsident und vor Ende des Ersten Weltkriegs Reichskanzler.
In der kulturell pulsierenden Metropole Bayerns hörte Schuman auch Vorlesungen in Religionsphilosophie. Für das Wintersemester 1905/06 wechselte er an die Berliner Humboldt-Universität, wo er neben Jura auch Volkswirtschaft, Finanzwissenschaft, Wirtschaftsrecht sowie griechische Philosophie und Geschichte studierte; eingehend befasste er sich mit dem Thema Gerechtigkeit im Staatswesen in Platons Reifewerk Politeia. In München und Berlin machte er sich zudem mit der Philosophie Kants, Hegels und Nietzsches vertraut.
Mit seiner Mutter stand er während seines Studiums in regem Briefkontakt; sie schrieb ihm fast jede Woche und wünschte sich sehnlichst, er möge wieder...