JEDE RÖMISCHE GESCHICHTE
IST DIE GESCHICHTE EINES
WELTREICHS
Jede römische Geschichte, die geschrieben wird, ist die Geschichte eines Weltreichs. Der Aufstieg Roms zur Macht, der lang andauernde Frieden und der noch längere Niedergang bilden insgesamt den Hintergrund für jeden Bericht über seine Geschichte. Mein Thema ist aber das Reich als solches. Wie ist es gewachsen? Wodurch war es imstande, Niederlagen zu überstehen und Siege zu nutzen? Warum war Rom erfolgreich, wo seine Feinde versagten? Wie überstand die Reichsherrschaft Krisen, konnte Wurzeln schlagen und chaotische Eroberungszüge in stabile Verhältnisse überführen? Wie gelang es dem Reich, die breiten Ströme des Reichtums und der Bevölkerung, von denen sein Erfolg abhing, zu kanalisieren? Wie entwickelte es sich, um neuen Bedürfnissen und neuen Bedrohungen zu widerstehen? Warum wankte es, gewann von neuem sein Gleichgewicht, schrumpfte dann aber infolge einer Reihe von militärischen Niederlagen zusammen, bis es wieder ein Stadtstaat wurde? Welche Umstände und technischen Fähigkeiten ermöglichten die Schaffung und Erhaltung eines Weltreichs gerade in diesem Teil der Welt und zu eben dieser Zeit? Welche Institutionen und Gewohnheiten und welcher Glaube befähigten Rom, seine Rolle auszufüllen? Und welche Auswirkungen hatte der Umstand der Reichsherrschaft auf all seine Institutionen, Gewohnheiten und den Glauben, mit deren Hilfe die Welt erobert worden war? Welche Rolle spielten Glück und Schicksal bei seinen Erfolgen und seinem Scheitern?
Der lange Zeitraum, der von einer Anzahl verstreuter Dörfer an den Ufern des Tiber bis zur mittelalterlichen Stadt am Bosporus reicht, die vom einstigen Ruhm träumt, erstreckt sich über eineinhalb Jahrtausende. Diese Geschichte in einem einzigen Buch zu erzählen, ist vielleicht ein vermessenes Vorhaben, aber es ist auch eine aufregende Herausforderung. Vielleicht hat die römische Geschichte unter den vielen Perioden der Vergangenheit, über die wir nachdenken und die unsere Welt beeinflusst haben, keinen besonderen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit. Aber als Student bin ich der Faszination erlegen, etwas so Unermessliches zu erforschen, einen Gegenstand, der sich über so lange Zeit und einen so weiten Raum erstreckte. Was konnte ein menschliches Vorhaben ermöglicht haben, das auf einen so gewaltigem Maßstab angelegt war? Wie konnte menschliches Wirken von so langer Dauer sein? Unsere eigene Lebenserfahrung verändert sich atemberaubend schnell. Vorangehende Generationen, die auf die Dauer ihrer eigenen Weltreiche und den ununterbrochenen Fortschritt vertrauten, standen ganz im Bann der Geschichte vom Niedergang und Fall Roms. Für uns ist es heute die Langlebigkeit Roms, das unsere Vorstellung fesselt. Meine eigene Faszination aus der Studentenzeit hat keineswegs abgenommen. Selbst heute noch gleicht für mich die römische Welt einem gewaltigen Sandkasten, in dem ich spielen kann, oder besser gesagt einem gewaltigen Laboratorium der Geschichte, in dem man alle möglichen langlebigen Prozesse und Gebilde untersuchen kann. Die römische Geschichte ähnelt in dieser Hinsicht der Astronomie. Neue Experimente kann man zwar nicht erfinden und durchführen, aber eine stattliche Menge an entfernten, sehr alten Phänomenen anhand einer kleinen Gruppe von noch vorhandenen Daten lassen sich beobachten und so die Kräfte und verheerenden Ereignisse rekonstruieren, die das zu beobachtende historische Universum geformt haben. Wie Astronomen suchen die Althistoriker nach Mustern und versuchen sie zu erklären. Dieses Buch ist ein Versuch, die Muster zu erklären, die ich beobachtet habe.
Das Römische Reich lädt zu Vergleichen ein. Die Menschen der Antike benutzten häufig biologische Analogien: Jedes Reich oder jeder Staat hatte eine Jugend, eine Zeit der Reife und ein Alter. Ein moderner Historiker hat einmal das Bild eines Vampirs in Gestalt einer Fledermaus benutzt und das Reich als ein Mittel gesehen, mit dessen Hilfe die Römer den Lebenssaft aus den Bauern und Sklaven saugten, auf deren Arbeitskraft das Reich sich gründete. Mir erscheint das Römische Reich dagegen nicht so sehr wie ein Organismus, sofern man es nicht für eine Epidemie ansehen will, die sich unter der betroffenen Bevölkerung ausbreitet und sich aus den Kräften der von ihr Infizierten speist, bis sie sich erschöpft. Andere Vergleiche aus dem Bereich der Naturwissenschaften scheinen das Muster des Reichs besser zu treffen: Das Römische Reich war wie eine gewaltige Flutwelle, die sich immer höher aufrichtete, bis sich ihre Kraft verströmte. Oder es war wie eine Lawine, die klein begann, sich durch die Substanz der von ihr überrollten Schnee- und Geröllmassen anreicherte und sich dann am Ende des Hangs verlangsamte. Beide Bilder erfassen die Bedeutung eines kolossalen Bewegungsmusters, das klein beginnt, dann mehr und mehr Substanz und Energie mit sich reißt und sich schließlich erschöpft. Dieses Muster, d. h. das Reich, durchläuft die Zeit und verdrängt für einige Zeit alle anderen Muster, bis es sich abschwächt und von anderen großräumigen Bewegungen überlagert wird.
Ein ehemaliger Prorektor der Universität St. Andrews hat einmal festgestellt, dass ich offenbar an eine Art von Resonanzverhalten denke, an einen allmählichen Aufbau eines Vibrationsmusters über eine immense Zahl von Menschen und Dingen, das am Ende seinen Zusammenhalt verliert und sich in kleinere Muster auflöst. Dieses Bild scheint mir das Wachsen einer Reichsordnung und ihr darauffolgendes Abklingen genau zu erfassen. Das Wesen der Reichsherrschaft ist die Durchsetzung eines großen Entwurfs auf Kosten kleinerer. Dieses Muster ist in der Regel weniger gerecht und hierarchischer als das, was ihm vorangeht. Neue Stufen der Komplexität bedeuten, dass manche Reiche noch reicher werden und manche Arme einer noch härteren Disziplin unterworfen werden, obwohl die soziale Mobilität, die die Reichsherrschaft zur Folge hat, dass es Gewinner und Verlierer auf jeder Ebene gibt. Auf der materiellen Seite führt das Muster der Reichsherrschaft zu regelmäßigen Ortsveränderungen von Menschen und Dingen und gewaltigen Strömen an Steuern und Handelswaren. Diese gewohnheitsmäßigen Bewegungen zeigen sich heute in den Spuren von Straßen und Häfen, die das steinerne Skelett bilden, an dem das weiche Fleisch des menschlichen Reichs einst hing. Ich habe versucht, den harten materiellen Resten Aufmerksamkeit zu schenken. Aber einer der erfreulichen Vorteile der römischen Geschichte ist, dass wir auch die Stimmen so vieler Menschen hören können, die an ihr hingen. Ich habe versucht, auch ihre Sicht der Reichsherrschaft zu erfassen und darzustellen.
Während ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich versucht, mich immer daran zu erinnern, dass die Reichsherrschaft eine in den historischen Zeitlauf eingeschriebene Bewegung ist und nicht ein fester Bestand von Institutionen. Wenn ich am Ende meiner Erzählung auf Byzanz zu sprechen komme, wird sich alles verändert haben: Römer sprechen Griechisch statt Latein, die Hauptstadt befindet sich jetzt in einer einst eroberten Provinz und im altehrwürdigen Rom herrschen Barbaren. Das Reich hat einen neuen Gott, neue Sitten und Gebräuche, ein neues Verständnis seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Eine Welt der Städte wird (wieder) von einer einzigen Stadt regiert. Der Name Istanbul stammt schließlich von der mittelalterlichen griechischen Formulierung »eis t?n p?lin«, »in die Stadt (hinein)«. Aber es war doch immer noch Rom.
Dennoch waren einige Institutionen über lange Zeit von absolut zentraler Bedeutung für die lange Geschichte des Reichs, und in wichtigen Bereichen war die Welt, in der sich die römische Macht ausbreitete und dann wieder zurückging, stabil. Ich habe versucht, diese Kombination von steter Entwicklung und lang andauernder struktureller Stabilität verständlich zu machen, indem ich auf die Kapitel, die den geschichtlichen Ablauf voranbringen, solche folgen lasse, die es mir erlauben, ein wenig Abstand zu gewinnen, d. h. mich von der zeitlichen Entwicklung zu lösen und auf Aspekte von dauerhafter Bedeutung hinzuweisen. Der aufmerksame Leser wird ganz wie ich bemerken, dass diese Aufteilung nicht immer gelingt. Aber Historiker müssen eben immer wieder Zugeständnisse an das verfügbare Material machen. Ein anderes Zugeständnis an das vorliegende Material ist die Liste der wichtigsten Daten, die ich jedem den Ablauf erzählenden Kapitel vorangestellt habe. Die Reise der Römer war ebenso vielschichtig wie lang, und da wir sie nur als Fahrgäste mitmachen, ist eine ungefähre Karte des Wegs manchmal hilfreich.
Bilder sind ein Mittel zum Verständnis. Der Vergleich ist ein weiterer. Dieses Buch ist keine Übung in systematischer vergleichender Geschichte, das Rom an anderen antiken (oder auch modernen) Weltreichen messen will. Der Vergleich ist eine interessante Methode, aber sie ist überaus schwierig angesichts der Lücken in unserer Kenntnis der antiken Weltreiche und der zusätzlichen Unannehmlichkeit, dass diese Lücken von Weltreich zu Weltreich nicht dieselben sind. Aber meine Darstellung enthält doch auch Betrachtungen zu anderen Weltreichen, wobei ich manchmal versuche, einen allgemeinen Trend oder häufiger noch, das Ungewöhnliche oder sogar Einzigartige an dem römischen Beispiel zu entdecken. Eine breite Lektüre ist gewiss hilfreich, aber ich bin mir doch durchaus bewusst, wie viel ich bei der Teilnahme an Kolloquien und Treffen gelernt habe, bei denen Spezialisten anderer Fächer ihre Kenntnisse bereitwillig geteilt haben. Aus der beachtlichen Zahl solcher Veranstaltungen möchte ich ein Kolloquium herausgreifen, das Susan Alcock, Terry D’Altroy, Kathy Morrison und Carla Sinopoli 1997 in Las...