Die Wiener Zeit 1879–1890
Die Südbahn-Direktion war kulant. Zum 1. August 1879 versetzte sie Johann Steiner auf einen kleinen Bahnhof in der Nähe Wiens, damit sein Sohn von dort aus die k.k. Technische Hochschule besuchen könne. So kam Rudolf Steiner im August 1879 zum ersten Mal nach Wien. Vom Südbahnhof kommend, überquerte er die Ringstraße, an der in jenen Jahren die in allen möglichen historisierenden Stilen errichteten Prachtbauten ihrer Fertigstellung entgegengingen. Sein Ziel aber waren die Buchhandlungen der Innenstadt. Hier erwarb er sich, wonach er sich schon lange sehnte: eine Reihe philosophischer Bücher. Die zwei Monate, die ihm bis zum Beginn des Studiums blieben, vergrub er sich in die Philosophie des deutschen Idealismus, von der in Österreich sonst kaum die Rede war. Namentlich von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre erhoffte er sich eine Rechtfertigung und Klärung seiner Erlebnisse und Gedanken. Sein besonderes Interesse richtete sich auf das menschliche «Ich» als dem Geist im Menschen. So galt seine Lektüre der «Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre» weniger dem historischen Fichte als der Selbstklärung, und Steiner begann Fichtes Wissenschaftslehre für sich umzuschreiben. Dabei entdeckte er zunächst, daß das von Fichte postulierte «Ich» immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn man es zum Objekt der Betrachtung machen will[31]. Aber, so sagte sich Fichte-Steiner, obwohl das aktuelle Ich nicht objektivierbar ist, kann man sich der geistigen, gedanklichen Tätigkeit doch bewusst werden: … wir können nicht wissen, was es ist, sondern nur was es tut. Das Ich ist durch sein Tätigsein[32] gegeben. Das nächste Problem, das sich für Steiner stellte, war, von dem so gefassten Ich den Übergang zur Welt zu finden. Hier scheiterte er. Das Fragment bricht ab. In seiner Autobiographie erinnert er sich: Daß das «Ich», das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein.[33] Natürlich sind solche Studien nicht unbedingt die angemessene Vorbereitung für den Studienbeginn an einer Technischen Hochschule, und hätte Steiner sich auf diese inneren Fragen beschränkt, so hätten sie ihn leicht stolpern lassen. Zum Glück aber hatte Steiner viele und weitgespannte Interessen, die ihn in das Wiener Leben hineinführten, und einen gesunden Menschenverstand, der ihm sagte, dass er sein Brotstudium[34] zunächst pflichtgemäß betreiben müsse – hing doch von den fünf Prüfungen, die er am Ende jedes Semesters zu absolvieren hatte, die Weiterzahlung seines Stipendiums ab.
Als mittelloser Student «vom Lande» kommend, konnte sich Steiner nur schritt- und ausschnittsweise in das Wiener Leben hineinfinden. Es gab viele Bereiche, die er dort nicht kennenlernen sollte: Die aristokratischen und industriellen Kreise blieben ihm ebenso verschlossen wie die Welt der Industriearbeiter. Noch weniger fand er den Weg zu den rauschenden Bällen oder in das Milieu der Operette, wo Johann Strauß seine Triumphe feierte. Zu den Dingen, die Steiner jedoch sehr bald zu verfolgen begann, gehörte das politische Leben in Wien. Kurz bevor er nach Wien kam, hatte ein politischer Wettersturz stattgefunden. Die Deutsch-Liberalen, die schon seit dem Wiener Börsenkrach vom Mai 1873 abgewirtschaftet hatten, erlitten im Sommer 1879 eine Wahlniederlage. Der Kaiser ernannte daraufhin am 12. August seinen Jugendfreund Eduard Graf Taaffe zum Ministerpräsidenten. Taaffe stützte sich auf eine Koalition von Polen, Tschechen und konservativen Katholiken, die – so empfand man es – gegen die deutschen Interessen regierte. Steiner verfolgte die sich verschärfenden Spannungen und Gegensätze. Ich war damals bei mancher interessanten Parlamentsdebatte auf der Galerie des österreichischen Abgeordneten- und Herrenhauses[35], wo sich die nationalen Konflikte entluden. Bald wurde er Mitglied, dann Bibliothekar und schließlich Vorsitzender der politisierenden Deutschen Lesehalle an der Technischen Hochschule. Anregend und aufregend war vieles, was sich da unter der Jugend im Zusammenhang mit den Vorgängen im öffentlichen Leben Österreichs abspielte. Es war die Zeit, in der sich die nationalen Parteien in immer schärferer Ausprägung bildeten. Alles, was später in Österreich immer mehr zur Zerbröckelung des Reiches führte, konnte damals in seinen Keimen erlebt werden.[36] An den traurigen Schicksalen mancher Studiengenossen verfolgte Steiner, wie der herrschende öffentliche Geist erst Hoffnungslosigkeit und dann einen tiefen, lähmenden Pessimismus hervorrief, der manche Existenz scheitern ließ.[37] Das Wiener Kleinbürgertum aber reagierte bald mit jener spezifischen Aggressivität, die dann – etwa ab 1885 – den Nährboden des rassistischen Antisemitismus Georg von Schönerers und Karl Luegers bereitete.
Wien war nicht nur ein politisches Zentrum, sondern gerade in den achtziger Jahren wieder ein Zentrum der europäischen Musik. Hier lebten Johannes Brahms, Anton Bruckner und Hugo Wolf. In Wien fand die bisher weitgehend unerfüllte Sehnsucht Steiners nach Musik Erfüllung. Aus einigen Bemerkungen in seiner Autobiographie und an anderen Orten kann man entnehmen, dass er nicht selten Konzerte, Opern und Kammermusik gehört hat. Schon als Student nahm er an den damals leidenschaftlichen Kämpfen um Richard Wagner Anteil. Dabei griff Steiner die Wagner’sche Musik scharf an: Ich sprach von der Wagner’schen Barbarei, die das Grab alles wirklichen Musikverständnisses sei.[38] Eine «Tristan»-Aufführung erschien ihm ertötend langweilig.[39] Seine Liebe galt der reinen Musik, die nichts als Musik sein wollte[40]. Welche spezifische Musik Steiner damit gemeint hat, muss offenbleiben, 1892 nennt er Ludwig van Beethoven seinen Lieblingskomponisten. Nach 1904 hat Steiner sich einige Male positiv über Wagners Intentionen geäußert, aber es dürfte bezeichnend sein, dass er im Rahmen der von ihm entwickelten Ton-Eurythmie viele choreographische Formen zu Bach, Beethoven, Brahms, Händel und Mozart geschaffen hat – zu Musikstücken von Wagner keine einzige!
Neben der Musik nahm in Wien noch ein anderes Thema das Interesse der gebildeteren Schichten im höchsten Maße in Anspruch und prägte die Vorstellungswelt: die Medizin. Die Wiener medizinische Fakultät galt damals als die bedeutendste der Welt. Sie arbeitete ganz im Sinne der modernen Naturwissenschaft und glänzte in Anatomie, Physiologie und Neurologie, die Instrumentarien der Diagnose wurden ständig verfeinert. Die Therapie trat völlig in den Hintergrund, vielfach wurde die Auffassung vertreten, die Natur müsse sich selber helfen. Man sprach deshalb vom «therapeutischen Nihilismus» der Wiener Schule. Steiner kam mit der Wiener medizinischen Schule mehrfach in Berührung, und diese Begegnungen waren für ihn wichtig. In Verbindung mit seinen Fragen über den Zusammenhang von Geist und Natur hospitierte er in medizinischen Vorlesungen, er dürfte Werke wie Theodor Meynerts «Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns» studiert haben. Im Zusammenhang mit seinen Goethe-Arbeiten las er Joseph Hyrtls «Lehrbuch der Anatomie des Menschen». Nach 1884 lernte er als Hauslehrer im Hause Ladislaus Specht Josef Breuer kennen, der an der Wiege der Psychoanalyse gestanden hatte. Breuer war mit Pauline Specht befreundet, und Steiner durfte zeitweilig bei den Gesprächen zuhören, die Frau Specht mit Josef Breuer über medizinische Fragen führte. So erfuhr Steiner schon sehr früh etwas von der entstehenden Psychoanalyse, von Experimenten mit Hypnose, von den Versuchen mit Kokain, von hysterischen Erkrankungen und therapeutischen Verfahren.[41] Mit diesen Bemerkungen über das Wiener Milieu, in das Steiner hineinwuchs, sind wir jedoch in der Zeit weit vorausgeeilt. Kehren wir zu Steiners Werdegang zurück.
Vom Oktober 1879 bis zum August 1882 – also sechs Semester lang – studierte Steiner an der Technischen Hochschule Mathematik, Physik, analytische Mechanik, Zoologie, Mineralogie, Chemie, Botanik, Geologie, Literaturgeschichte und Staatsrecht. Er erledigte seine Fachstudien gewissenhaft, recht häufig erhielt er bei den Semestralprüfungen die Noten «vorzüglich» und «sehr gut», aber er studierte die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ohne große Begeisterung. Verehrung und persönliches Interesse weckte einzig der Physiker Edmund Reitlinger, der auch Geschichte der Physik vortrug. Da sich Steiner damals für verpflichtet hielt, durch die Philosophie die Wahrheit zu suchen[42], hörte er auch Philosophievorlesungen an der Universität. In jenen Jahren konnte er aber weder dem Formalismus des Herbartianers Robert Zimmermann noch der Ethik-Vorlesung Franz Brentanos etwas abgewinnen. Die Bedeutung Brentanos ist ihm erst Jahrzehnte später aufgegangen. Zimmermann blieb ihm zeitlebens unsympathisch.[43] Beiden Philosophen hat er in seiner Autobiographie freundliche Worte gewidmet, die aber insofern irreführend sind, als sie seiner Auffassung von 1924 entsprechen, nicht aber sein ursprüngliches Urteil widerspiegeln.
Der akademische Lehrer, der für Steiner die größte Bedeutung gewann, war Karl Julius Schröer. Schröer war, als Steiner ihn 1879 kennenlernte, 54 Jahre alt. Als Mundartforscher und Volkskundler hatte er Feldforschung betrieben und war nun seit mehr als einem Jahrzehnt Professor für deutsche...