Der Anarchist auf dem Thron
Alles was ich mache, hat auch mit mir selbst zu tun.[1] Mit jedem seiner Filme hat Rainer Werner Fassbinder radikal und subjektiv Stellung bezogen, mit brutaler Direktheit und Intensität seine Phantasien und Obsessionen formuliert. Seine Filme lassen sich lesen als ein überaus persönliches Tagebuch, in dem trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – deutsche Gegenwart exemplarisch Ausdruck gefunden hat. Ob er zeithistorische Sujets behandelte oder zur aktuellen Situation Stellung nahm, die irritierende Faszination seiner Filme besteht darin, dass er unterdrückte Wünsche und Ängste, die in der Gesellschaft virulent sind, ungeschützt zuließ. Fassbinders Thema ist die Realität der Gefühle, der richtigen und der falschen, ihr gesellschaftlicher Charakter und ihre Ausbeutbarkeit.
Sein Werk umfasst kongeniale Literaturverfilmungen und sentimentale Melodramen, selbstquälerische Bekenntnisfilme und gesellschaftskritische Sozialstudien, mit großem Budget realisierte Mainstream-Produktionen und ästhetische Experimente. Den einen galt er als bundesdeutscher Balzac, anderen als schwuler Kitschproduzent. Vincent Canby nannte ihn ein irritierendes Talent: Fassbinder «ging seinen eigenen Weg, manchmal in zwei oder drei verschiedene Richtungen zur gleichen Zeit»[2]. Realistische und emotionsgeladene Sujets brach er durch Stilisierung und verstörende Manierismen. Seine Eigenart hat sehr früh Botho Strauß erkannt: «Für jemanden wie Fassbinder gibt es einen intellektuellen Begriff von Kitsch nicht mehr, sein Manierismus hat nichts gemein mehr mit dem Zitierverfahren in der Kunst der letzten Jahre.»[3] Lange bevor der Begriff geprägt wurde, war Fassbinder bereits ein Vertreter der Postmoderne. Hemmungen, fremde Stile zu kopieren, Werke anderer zu plündern und in sein Universum zu integrieren, hatte dieser Autor nie.
Er produzierte nach der Devise: Nur so entstehen bei uns Filme: indem man sie ohne Rücksicht auf Verluste macht.[4] Ohne Rücksicht auch auf finanzielle Verluste. Nur so konnte er zum Beispiel die grimmige Terroristen-Farce Die dritte Generation realisieren: Förderungs- und Fernsehgelder gab es dafür nicht. Nach dem antiteater-Debakel – jahrelang musste er die Schulden der Künstlerkommune abzahlen – gründete er gleich eine neue Produktionsfirma. Trotz negativer Erfahrungen schloss er immer wieder höchst ungünstige Verträge, paktierte mit dubiosen Geschäftemachern, ließ sich auf nicht abgesicherte Projekte ein.
Sein Beitrag zur Filmgeschichte, das sind vielleicht nicht so sehr die einzelnen Werke, sondern ist die radikal subjektive Haltung, mit der er an die Arbeit ging. Anfangs war der Neue Deutsche Film noch eine Familie: Man kannte sich. Die lange Kamerafahrt durch die Landsberger Straße in Liebe ist kälter als der Tod: eine Einstellung von Jean-Marie Straub, der sie Fassbinder schenkte. Margarethe von Trotta gehörte in den frühen Filmen zu den Stammschauspielern. Es gab private Jokes in diesen Streifen, Anspielungen, die Außenstehende nicht verstehen konnten – sozusagen Grüße an Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Hans-Jürgen Syberberg oder Alexander Kluge. Werner Schroeter wirkte in Warnung vor einer heiligen Nutte mit – er spielte sich selbst, seine beste Rolle.
Fassbinders rasche Karriere ist fast identisch mit den Veränderungen, die aus dem Neuen Deutschen Film eine neue deutsche Filmindustrie machten. Er hatte entscheidenden Anteil am Autorenfilm, seine Produktivität forcierte die Entwicklung und verhalf ihm auch international zum Durchbruch. Als Fassbinder 1969 mit einem Doppelschlag – Liebe ist kälter als der Tod und Katzelmacher – die Szene aufmischte, hatten die Oberhausener Papas Kino längst zu Grabe getragen, waren aber weitgehend die Alternative schuldig geblieben. Fassbinders Debüt kam zur rechten Zeit, und er wusste um seine Funktion als Motor: Er animierte die Kollegen, engagierte sich filmpolitisch und besetzte mit eigenen Produktionen Positionen. Von seiner Arbeit gingen Impulse aus, die über das eigene Werk hinausweisen. Er machte beim kurzlebigen Syndikat der Filmemacher mit, war Gesellschafter des selbstverwalteten Filmverlags der Autoren, hatte aber auch keine Berührungsängste, für Produzenten aus dem anderen Lager zu drehen. («Wir mussten ja mit diesen sogenannten linken Regisseuren arbeiten», klagte Luggi Waldleitner später, «weil im konservativen Lager nicht ein guter Regisseur ist, den man über die Grenzen der BRD hinaus verkaufen kann.»[5]) Er sammelte Bundesfilmpreise ein, wurde aber kein Gremienfilmer. Er initiierte Aktionen wie den Gemeinschaftsfilm Deutschland im Herbst – und lehnte den Bundesfilmpreis, also die staatliche Auszeichnung für ebendiesen Film, ab.
Fassbinder wusste Chancen zu nutzen, aber in den Schoß fiel ihm nichts. Er konnte manche Projekte nicht durchsetzen, andere scheiterten in aller Öffentlichkeit: Trotz Quotenerfolg wurde die Serie Acht Stunden sind kein Tag nicht fortgesetzt, die Verfilmung von Soll und Haben vom Sender gestoppt; seine Kinoversion von Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond stieß bei den Fördergremien auf Ablehnung. Das Drehbuch zu Hurra, wir leben noch nach dem Roman von Johannes Mario Simmel fand keine Zustimmung bei der Produktionsfirma (den Film drehte dann Peter Zadek). Seine Filme spalteten die Fernsehnation. Mit der dreizehnteiligen Serie Berlin Alexanderplatz lieferte Fassbinder keine gediegene, goutierbare Literaturverfilmung, sondern eine Zumutung, wie sie jedes Kunstwerk darstellt. Noch bei seinem letzten Film Querelle wurde ihm zunächst die Filmförderung verweigert, weil – so der Ablehnungsbescheid der Filmförderungsanstalt – «der besondere Stil des Regisseurs eine direkte und vordergründige Überhöhung erwarten lässt»[6].
Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.
Auch als die Budgets größer wurden, sich der Erfolg und die Auszeichnungen einstellten, berechenbar war Fassbinders Arbeit nie. Er blieb immer ein Unangepasster, ein Grenzgänger und unsicherer Kantonist. Die in ihn gesteckten Hoffnungen erfüllte er nicht, enttäuschte bewusst die Erwartungen von Kritikern und Produzenten. Das war geradezu Prinzip, wie die Filmographie zeigt. Auf den mit Abschreibungsgeldern realisierten Arthouse-Film Despair mit internationaler Star-Besetzung folgte die Low-Budget-Produktion In einem Jahr mit 13 Monden, auf den Kassenerfolg Die Ehe der Maria Braun die links wie rechts verschreckende Farce Die dritte Generation, auf die bonbonfarbene Satire Lola der experimentelle Dokumentarfilm Theater in Trance.
Der Mann war ein Provokateur, mit ihm war kein Staat zu machen. Auch Minderheiten, denen er selbst angehörte, schonte er nicht: Deren negative Seiten zu schönen oder gar zu verschweigen war in seinen Augen nur eine andere Form der Diskriminierung. Gegen Faustrecht der Freiheit verteilte die Homosexuelle Aktion München Flugblätter, mit Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel zog er den Zorn der organisierten Kommunisten auf sich, bei der Premiere von Die dritte Generation warfen RAF-Sympathisanten Stinkbomben. Fassbinder nahm es gelassen: Egal was ich mache, die Leute regen sich auf.[7] Seine rastlose, geradezu erschreckende Produktivität, nur durchzuhalten mit Hilfe von Drogen, erklärte er als eine Art Geisteskrankheit und das Filmemachen als Therapie, als Versuch einer Selbstanalyse[8], wobei er die Trennungslinie privat/politisch nie akzeptiert hat. In dem Film In einem Jahr mit 13 Monden heißt es: Man macht sich nicht selbst kaputt, das macht die Ordnung, die die Menschen unter sich geschaffen haben.
«Filme zu drehen war einfach seine Form zu leben, seine Form des Nachdenkens, seine Form der Äußerung, auch seine Form des Umgangs mit anderen Menschen.»[9] Bereits vor Drehbeginn hatte er eine exakte Vorstellung von dem fertigen Film. Peter Märthesheimer, der zunächst als Fernsehredakteur und Produzent, später als Drehbuchautor ein Jahrzehnt lang seinen Weg begleitet hat, beobachtete bei Fassbinder die ungewöhnliche Fähigkeit, sich nicht nur den Ablauf einer Szene, sondern auch deren Zusammensetzung aus Einstellungen und Sequenzen sowie den Kontext vergegenwärtigen zu können. Deshalb konnte er die Drehzeit auf ein Minimum beschränken, kam häufig sogar mit weniger Drehtagen als vorgesehen aus und brauchte oft Einstellungen nur ein-, zweimal aufnehmen. «Das Drehen war sozusagen nur der geglückte Nachvollzug dessen, was er sich als eine Art Phantasiefilm in seinem Kopf längst vorführen konnte, von dem er jetzt nur noch gleichsam die materielle Kopie herstellen musste.»[10] Schnelles Reagieren war ihm wichtiger als sorgfältige Vorbereitung. Und der nächste Film, das neue Projekt immer wichtiger als die Endfertigung und die optimale Auswertung des letzten. Eine solche Arbeitsweise hinterlässt Spuren, schreibt sich unmittelbar in die Ästhetik ein. Spätestens seit Fontane Effi Briest beherrschte er das Handwerk, doch arbeitete er zugleich gegen die Perfektion an. «Aber er hat doch sehr viel herumgeschlampt in der Fertigstellung, in der Synchronisation, im...