1. Der Faktencheck
In den ersten beiden Kapiteln geht es um Grundlagenwissen: Was ist die Wirbelsäule, und wie funktioniert sie? Die Fakten werden dabei klar von verbreiteten Mythen zum Rücken abgegrenzt. Es sind viele falsche Vorstellungen über die Wirbelsäule im Umlauf, die leider an der Entstehung von Rückenschmerzen Anteil haben. Erst wenn wir mit solch falschen Ideen gründlich aufgeräumt haben und die tatsächliche Mechanik als Ausgangspunkt nehmen, können wir dazu übergehen, die eigenen Schmerzen korrekt einzuordnen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Bei Rückenschmerzen haben Ärzte häufig nicht die nötige Zeit für eine umfassende Untersuchung. Mitunter steht der Patient ohne konkrete Diagnose da, oder es wurde nur durch einen kurzen Blick auf eine MRT- oder CT-Aufnahme etwas sehr Spezielles festgestellt. Schon dies ist in meinen Augen eine unzureichende Untersuchung. Die Schmerzquelle für einen Patienten allein durch den Blick auf ein solches Bild zu bestimmen, gleicht dem Versuch, über ein bloßes Foto des Autos herauszufinden, warum der Motor nicht anspringt. Selbst wenn die richtige Diagnose gestellt wird – eingeklemmter Ischiasnerv oder ein Bandscheibenvorfall –, ist dies für die Heilung nur selten hilfreich. Für die Behandlung müssen wir uns darauf konzentrieren, die Ursache der Symptome zu finden und gezielt dagegen vorzugehen. Das ist deutlich wichtiger als die Suche nach dem offiziellen diagnostischen Fachausdruck.
In der modernen Medizin gerät diese Philosophie leider oft ins Hintertreffen, und man konzentriert sich weiterhin auf die »schnelle Reparatur« durch eine Operationsempfehlung und auf Schmerzmittel, womit das Problem sozusagen unter den Teppich gekehrt wird. So treten Gerüchte und Halbwahrheiten an die Stelle einer adäquaten und korrekten Ursachenfindung. Manche Experten suggerieren sogar, dass Schmerzen »reine Kopfsache« sind. Schmerzen haben nahezu immer eine körperliche Ursache! Wenn wir sie ignorieren oder die Schuld in einer falschen Einstellung suchen, hilft das nicht weiter. Deshalb warne ich davor, Rückenschmerzen durch Psychotherapie behandeln zu wollen. Psychosomatische Probleme wie Stress im Beruf oder Neurotizismus können Schmerzen zwar verstärken, sind jedoch nicht die eigentliche Ursache. Selbst wenn Ihr Arzt oder Ihre Ärztin keine Ursache finden kann – es gibt trotzdem eine, und die lässt sich behandeln.
Sehr verbreitet ist auch die Idee, man könne sich an seine Rückenschmerzen gewöhnen. Man wachse sozusagen mit dem Schmerz, und werde mit der Zeit unempfindlicher. Falsch! Denn es ist genau umgekehrt: Je länger der Schmerz unbehandelt bleibt, desto stärker nehmen wir ihn wahr, und desto sensibler werden wir dafür. Stellen Sie sich vor, Sie würden sich immer wieder mit einem Hammer auf den Daumen schlagen. Der Daumen wird mit jedem Mal schmerzempfindlicher. Irgendwann ist das Gewebe so gereizt, dass Sie schon bei der geringsten Berührung vor Schmerz zusammenzucken. Hier hilft kein Sport, sondern ich muss den Hammer weglassen. Im ersten Schritt werden wir uns in diesem Buch also mit den »Schmerzhämmern« beschäftigen – die müssen weg. Sie werden feststellen, dass man schmerzhafte Bewegungsmuster durch schmerzfreie ersetzen kann. Das ist die eigentliche Lösung, um die Schmerzempfindlichkeit zu senken sowie die Bewegungsfreiheit langsam und schmerzfrei wieder auszuweiten.
Es ist eine Schande, dass die Patienten darunter zu leiden haben, dass die Wahrheit unter so viel Desinformation verborgen liegt. Falsche Überzeugungen behindern die Genesung, und die bisherigen Therapieerfahrungen bestärken viele in ihrem Glauben, dass ihnen nur noch eine Operation helfen kann. Das macht Angst, und die wird durch die Geschichten von Freunden, die nur dank massiver Schmerzmittel durch den Tag kommen, nicht gerade gelindert. Solche Patienten verlieren oft jede Hoffnung und sind davon überzeugt, dass sie ihre Schmerzen eben ertragen müssen.
Es ist an der Zeit, zu den Fakten vorzudringen und eine konstruktive Haltung gegenüber Schmerzen zu entwickeln. Beschäftigen wir uns also zunächst mit den Denkfehlern, die bisher die korrekte Behandlung Ihrer Schmerzen erschwert haben.
Typische Denkblockaden
Zu Beginn sollten wir gewisse Fehlüberzeugungen benennen, die unsere Genesung behindern. Erst dann können wir einen Ausweg finden, der langfristig zu einem schmerzfreien Leben führen kann.
Problem: Durch die Physiotherapie wurden meine Schmerzen schlimmer.
Ausweg: Suchen Sie einen Physiotherapeuten auf, der die Ursache Ihrer Schmerzen begreift und angeht. Mithilfe dieses Buches sind Sie dazu wahrscheinlich bald selbst in der Lage.
Problem: Nach dem Workout habe ich jedes Mal drei Tage lang Schmerzen.
Ausweg: Wenn Sie die einzelnen Übungen des Workouts und Ihre Aktivitäten in den restlichen 23 Stunden des Tages genauer betrachten, stellt sich vermutlich ein Zusammenhang heraus. Dann können Sie die verschlimmernden Tätigkeiten so verändern, dass sie weniger Schmerzen bereiten. Mehr dazu später.
Problem: Man hat mir gesagt, ich würde mir die Schmerzen nur einbilden.
Ausweg: Beweisen Sie sich selbst, dass Sie auch schmerzfreie Momente haben. In diesem Buch erfahren Sie, wie man diese Abschnitte bis zur anhaltenden Linderung verlängern kann.
Problem: Man hat mir gesagt, ich soll positiv denken.
Ausweg: Eine positive Haltung ist zwar erstrebenswert, reicht als alleiniges Werkzeug zur Schmerzbewältigung jedoch nicht aus. Konzentrieren Sie sich darauf, die Schmerzursache zu finden.
Problem: In der Klinik hieß es, ich soll meine Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 einstufen.
Ausweg: Konzentrieren Sie sich lieber darauf, welche Tätigkeiten Sie schmerzfrei ausüben können. Legen Sie das Heftchen zur Aufzeichnung der Schmerzintensität vorerst beiseite.
Richtig oder falsch?
Zwei wichtige Trugschlüsse zum Thema Rückenschmerzen haben wir bereits entkräftet, nämlich, dass alles nur Kopfsache sei und dass man sich mit der Zeit an den Schmerz gewöhne. Damit können wir uns nun weiteren Binsenweisheiten zuwenden und diese geraderücken.
Trugschluss: Wenn ich meine chronischen Rückenschmerzen nicht mithilfe meiner Physiotherapie in den Griff bekomme, bleibt mir nur noch eine Operation.
Fakt: Kennen Sie den Spruch: »Wenn man nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus«? Die meisten Chirurgen sind davon überzeugt, dass sich mit dem Skalpell alles heilen lässt, wenn sie nur »den Schmerz herausschneiden« dürften. Doch das entfernte Gewebe ist nur selten die einzige Ursache für die Schmerzen. Um bei der Operation an die Wirbelsäule zu gelangen, muss häufig gesundes Gewebe durchtrennt werden, und wenn bei dem Eingriff ein Nerv verletzt wird, ist die anschließende Rehabilitation erschwert. Zudem können die Metallimplantate Knochengewebe absterben lassen und sich lockern. Die Risiken einer Operation rechtfertigen häufig nicht den möglichen Nutzen, wenn dabei nicht die wahre Schmerzursache beseitigt wird. In solchen Fällen kommt der Patient oftmals nach einigen Jahren mit ähnlichen Gewebeschäden direkt über oder unter der Stelle des vorherigen Eingriffs wieder. Mitunter meldet sich zusätzlich der ursprüngliche Schmerz noch schlimmer zurück. Die Antwort des Chirurgen lautet dann vielfach: »Ich kann nichts mehr für Sie tun.« Für viele solcher Patienten konnte ich mithilfe von Physiotherapie Lösungen finden, welche die Schmerzursache behandelten. Nach einer Operation hingegen ist die Schädigung bei manchen so massiv, dass auch ich leider nichts mehr ausrichten kann. Wenn Sie dieses Buch lesen, sind Sie auf dem richtigen Weg, um alle konventionellen Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, ehe Sie sich unters Messer legen. Welche Fragen vor einer eventuellen Operation unbedingt abzuklären sind und wann diese tatsächlich die letzte Option ist, besprechen wir später.
Aus der Praxis: Brad war nach seinen Schmerzmitteln mittlerweile süchtig. Er hatte sie in der Schmerzklinik erhalten, nachdem sein Arzt ihm nicht hatte weiterhelfen können und ihn mit der klassischen Fehldiagnose weggeschickt hatte, seine Rückenschmerzen seien »reine Einbildung«. Weil er auch in einem Fuß starke Schmerzen hatte, hatte man ihm zur Amputation geraten. Als Brad mich aufsuchte, räumte er gar Suizidgedanken ein – er sagte, wenn diese grausamen Schmerzen wirklich Einbildung wären, müsse er verrückt sein und bräuchte nicht weiterzuleben. Er gab mir eine Woche Zeit: Wenn wir in dieser Woche nicht weiterkämen und seine Schmerzen lindern könnten, wollte er sich umbringen. Der Druck war also enorm. In der folgenden Woche arbeitete ich eng mit ihm zusammen und konnte ihm zeigen, dass sein...