Einführung
Brexit ist alles. Ein Triumph, eine Katastrophe, eine Befreiung, ein Fehler. Für die einen stellt er eine Rückkehr zu vergangener Größe dar, für die anderen den Anfang vom Ende. Monumental war die Abstimmung vom 23. Juni 2016, darüber ist man sich einig, aber über alles andere gehen die Meinungen weit auseinander. Manche sehen im Brexit einen nationalistischen Aufstand, während andere ihn als Hilfeschrei der Armen interpretieren – ein Signal der Globalisierungsverlierer, dass sie die Schnauze voll haben. Viele halten Rassismus für die wichtigste Triebkraft, andere die gesellschaftliche Ungleichheit, wieder andere die Nostalgie für ein früheres Zeitalter. Genauso wenig Einigkeit besteht darüber, wer überhaupt für den EU-Austritt gestimmt hat: Waren es die Engländer, die Alten oder die Bedürftigen? Die Ungebildeten oder die Arbeiterklasse? Einige Leute sind der Meinung, dass Großbritannien seit dem 24. Juni 2016 plötzlich ein ganz anderes Land ist – eines, das sie nicht wiedererkennen, obwohl sie ihr ganzes Leben darin verbracht haben. Andere Beobachter hingegen sehen im Entscheid für den EU-Austritt die Kulmination einer jahrzehntelangen Entwicklung, die man hätte sehen können, wenn man nur hingeblickt hätte. Und einige haben sogar das Gefühl, dass das Land den Brexit gar nicht wolle: Nur 26 Prozent der Gesamtbevölkerung stimmten dafür – ein demokratisches Mandat sei das nicht.
Aber auch mit solch spitzfindigen Kalkulationen kommt man nicht um die Tatsache herum, dass der Brexit da ist. Als Premierministerin Theresa May im Frühling 2017 das Austrittsgesuch in Brüssel hinterlegte, stand fest: Ab dem 30. März 2019 ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Dann soll eine Übergangsphase beginnen, die voraussichtlich bis Ende 2020 dauern wird. Was danach kommt, ist noch ungewiss. Die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre geben allerdings wenig Anlass zu Zuversicht.
Voller Enthusiasmus war die Regierung in die Verhandlungen gestartet, Großes wurde versprochen: Die Briten würden ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ein neues Land errichten, eines, das auf »Anstand, Fairness und leiser Entschlossenheit« beruhe – eine britischere Vision gibt es nicht.1 Ungleichheit werde man bekämpfen, Steuerflüchtlinge an die Zügel nehmen, Ungerechtigkeiten ausmerzen, die gespaltene Gesellschaft zusammenfügen. Die Idee eines »globalen Großbritannien« riss manche Brexit-Anhänger zu Begeisterungsstürmen hin – befreit von den Fesseln der Europäischen Union könne man wieder zur angestammten Position zurückfinden, nämlich zum Knotenpunkt der internationalen Staatengemeinschaft.
Aber im Lauf der folgenden zwei Jahre entsagte die Regierung ihrer Visionen, ihr neuer Freund wurde der Realitätssinn. Und dieser sagt: Der Brexit wird kaum zu mehr Macht und Einfluss führen, sondern vielmehr zu einer langsamen Verkümmerung, an deren Ende Großbritannien ärmer und kleiner ist. Zumindest ist das das Szenario, dem das Land derzeit entgegenblickt. Als der Austrittsprozess erst einmal in Gang gesetzt wurde, war London klar in der schwächeren Position: Wenn innerhalb der zweijährigen Frist bis zum Austritt kein neues Abkommen ausgehandelt worden ist, würde Großbritannien ohne Nachfolgevertrag aus der EU krachen und sich von einem Tag auf den anderen als Drittstaat wiederfinden (es sei denn, die EU gewährt kurzfristig eine Verlängerung); in dem Fall wäre der wirtschaftliche Schaden für die EU zwar groß, für die Briten hingegen katastrophal. Nach und nach lernte das britische Verhandlungsteam, dass die EU überaus unflexibel ist, wenn Staaten versuchen, Rosinen zu picken. So musste eine rote Linie nach der anderen aufgegeben werden, was anfangs noch als Tabu galt, wurde plötzlich widerstandslos hingenommen – etwa die fortgesetzte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs oder die Zahlung einer »Scheidungsrechnung«: Beides hat Großbritannien mittlerweile geschluckt. »Aus der EU auszutreten, kann schnell und einfach sein – das Vereinigte Königreich hält die meisten Karten in der Hand«, sagte Brexit-Anhänger John Redwood im Juli 2016. Ein Jahr später gestand der damalige Brexit-Minister David Davis: »Niemand hat jemals so getan, als sei dies einfach. Ich habe immer gesagt, dass die Verhandlungen hart, komplex und manchmal konfrontativ sein werden.«2 Konfrontationen gab es tatsächlich, und sie endeten stets damit, dass Großbritannien zum Rückzug blies. Hoffnungslos überfordert und ohne klaren Plan manövriert die Regierung das Land aus der EU, wie ein Segel-Debütant, der sich schnell mal an einer Atlantiküberquerung versucht. Kurz bevor dieses Buch in den Druck ging, gaben Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson ihre Posten auf, aus Protest gegen die Kompromisse, die die Premierministerin gegenüber Brüssel gemacht hat; »der Brexit-Traum stirbt«, schrieb Johnson in seiner schwülstigen Rücktrittserklärung.
Unterdessen sind die Spaltungen, die sich durch die britische Gesellschaft ziehen, in aller Deutlichkeit zum Vorschein gekommen: zwischen Alten und Jungen, Armen und Reichen, prosperierenden Regionen und solchen, die mit dem wirtschaftlichen Niedergang kämpfen. Die Entschlossenheit der Brexit-Befürworter ist auch heute noch mindestens so groß wie die Enttäuschung der EU-Anhänger, und auf beiden Seiten haben sich die Haltungen seit Sommer 2016verhärtet. Nach der Abstimmung las man von Familien, deren Generationen durch einen Graben getrennt sind, so tief, dass sie kaum mehr miteinander sprechen können.3
Die zunehmend entmutigenden Brexit-Verhandlungen haben die Hoffnungen der EU-Anhänger genährt, dass die ganze Übung ganz einfach abgebrochen wird. Im Frühling 2018 wurde ihnen ein neues, schlagkräftiges Argument in die Hände gelegt – eines, das die Rechtmäßigkeit des Referendums in Zweifel zieht. Eine investigative Recherche des Guardian ergab, dass die offizielle »Leave«-Kampagne während des Abstimmungskampfs möglicherweise mehr Geld ausgab, als erlaubt ist, und danach die Beweise für den Gesetzesbruch zerstörte. Die Enthüllungen erfolgten im Zusammenhang mit dem Skandal rund um die Firma Cambridge Analytica, die sich Daten von Millionen von Facebook-Nutzern beschaffte, um Individuen gezielt mit politischer Werbung zu versorgen und so Wahlergebnisse zu beeinflussen. Laut dem Whistleblower Christopher Wylie, der früher für die Firma arbeitete, wurden die Dienste von Cambridge Analytica von vier Brexit-Kampagnen genutzt, darunter Vote Leave, als deren Galionsfiguren Boris Johnson und Michael Gove fungierten. Eine Spende von über 600 000 Pfund, die die Kampagne der unabhängigen Jugendorganisation BeLeave versprach, kam laut Insidern nie an: Stattdessen ging der Großteil des Geldes an die kanadische Firma AggregateIQ (AIQ), die eng mit Cambridge Analytica verbunden war und für Vote Leave eine wichtige Rolle spielte. Wenn die Spende über Vote Leave ausgegeben worden wäre, dann hätte die Kampagne die Obergrenze für Wahlkampfausgaben – sieben Millionen Pfund – überschritten. Der Verdacht liegt nahe, dass das Geld nur deshalb über BeLeave ging, um diese Schranke zu umgehen. Für Wylie bestehen keine Zweifel, dass die Brexit-Kampagne auf unlautere Weise gewann: »Wenn sie nicht geschwindelt hätten, hätte [die Abstimmung] anders ausgehen können.«4
Ist der ganze Brexit nichts als Betrügerei? Dass Datenanalyse in zeitgenössischen politischen Kampagnen entscheidend ist, lässt sich nicht bestreiten. (Die britische Informationskommissarin begann nach dem Referendum eine Untersuchung zu diesem Thema. Die Resultate stehen noch aus.) Ebenso ist anzunehmen, dass der Einsatz gezielter Werbung mittels komplexer Algorithmen das Resultat des EU-Referendums zu einem gewissen Grad beeinflusste. Wenn dies in großem Ausmaß geschah, und dazu noch auf betrügerische Weise, dann würde dies tatsächlich Fragen über die Funktionsweise unserer Demokratie aufwerfen. Aber aufgrund des Cambridge-Analytica-Skandals auf die Ungültigkeit des gesamten Referendums zu schließen und aus diesem Grund ein neues zu fordern, ist dennoch wenig hilfreich. Erstens haben die Briten ihre Meinung nicht in dem Maß geändert, wie es sich die EU-Anhänger wünschten: Wiederholte Umfragen in den zwei Jahren nach dem Referendum deuten auf eine geringfügige Verschiebung zu einer Ablehnung des Brexit hin, aber diese Bewegung war bislang zaghaft und verhalten. Sollte sich dies in Zukunft dramatisch ändern, müsste die Frage einer zweiten Abstimmung neu gestellt werden, aber noch ist das nicht der Fall. Und zweitens könnte der Schluss, dass das Referendum aufgrund von Unregelmäßigkeiten gegenstandslos ist, eine eingehende Auseinandersetzungen mit den Ursachen des Brexit verhindern. Das wäre überaus kontraproduktiv. Denn immerhin waren es 17,4 Millionen Menschen, die dafür stimmten. Auch wenn es einige Hunderttausend weniger gewesen wären, stellte...