Die Salzburger „Heimatfront“: Alltag im Krieg und wirtschaftliche Situation
Die vorherrschende Kriegsbewirtschaftung beeinflusste den Alltag im Ersten Weltkrieg auf überregionaler Ebene, doch manche Auswirkungen waren unmittelbar auf die regionale wirtschaftliche Struktur Salzburgs zurückzuführen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts massiv verändert hatte.
Durch die Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Wien nach Salzburg und weiter nach München im Jahr 1860 und der Tauernbahn 1909 von Schwarzach bis Spittal an der Drau als eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen konnten Stadt und Land Salzburg an das internationale Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Mit der verkehrstechnischen Anbindung an andere europäische Länder florierte der Tourismus. Städte und Dörfer entlang der Bahnlinien blühten auf, während Gebiete abseits der Bahn zunehmend in Isolation gerieten, da das Straßennetz schlecht ausgebaut war – viele Dörfer waren nur zu Fuß erreichbar. Die Salzburger Lokalbahn bediente ab 1886 die Strecke bis Grödig/St. Leonhard, wenige Jahre später den Norden bis Lamprechtshausen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte bereits bis Berchtesgaden im Süden und zum Königssee gefahren werden. Mit der Salzkammergut-Lokalbahn („Ischlerbahn“) konnte man 1891 von Salzburg nach Mondsee/St. Lorenz und zwei Jahre später nach Bad Ischl, mit der Pinzgauer Bahn 1898 von Zell am See nach Krimml reisen.
Die Internationalisierung des Marktes durch die neue Mobilität und die Verschuldung der österreichischen Monarchie durch die Weltwirtschaftskrise in den 1870er Jahren hatten unmittelbare Auswirkungen auf Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft in Salzburg. Die Eisenindustrie brach wegen des Angebots von billigem Eisen aus osteuropäischen Ländern zusammen, und der meist in staatlicher Hand befindliche Bergbau musste radikal zurückgefahren werden. Die Eisenwerke in Dienten und Flachau wurden geschlossen, ebenso das Walz- und Hammerwerk Ebenau, die Eisenwerke im Lungau sowie der Kupferbergbau im Großarltal, in Hüttau und in St. Johann. Schließen mussten weiters das Arsenik-Berg- und Hüttenwerk Rotgülden und der Goldbergbau im Raurisertal.
Die gleichzeitige Modernisierung der Salzproduktion (Kohle ersetzte Holz beim Heizen der Sudpfannen) führte in Hallein zu vielen Entlassungen, die Salzschifffahrt stellte zudem zwischen Hallein und der Stadt Salzburg ihren Betrieb ein. Die Krise erfasste auch die heimische Textilindustrie, die ländlichen Handwerksbetriebe und die Landwirtschaft. Die auf Viehwirtschaft ausgerichteten Salzburger Bauern mussten ihre Betriebe modernisieren, neue technische Geräte kamen zum Einsatz. Die in den alpinen Seitentälern lebenden Bergbauern mussten aber nach wie vor um ihr Überleben kämpfen. Eine wahre Landflucht setzte ein, landwirtschaftliche Arbeiter suchten in den Städten Arbeit. In Hallein entstanden die Tabakfabrik und die Zellulosefabrik.
In Stadt und Land Salzburg gab es vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige Industrie- und Großbetriebe mit mehr als 200 Beschäftigten: das Eisenwerk Steiner in Grödig, die Saline, die Zellulosefabrik (ab 1898 auch Papierproduktion) und die Tabakfabrik (alle drei Betriebe in Hallein), die Aluminiumfabrik in Lend, das Eisenwerk in Sulzau-Werfen, die Mitterberger Kupfer- AG in Mühlbach, der Radhausbergbau in Böckstein und die Papierfabrik in Ramingstein. Dazu kamen Brauereibetriebe in der Riedenburg, in Guggenthal, Kaltenhausen, Henndorf, Schwarzach und Hallein, Sägewerke in Stadt und Land, die Marmorindustrien in Fürstenbrunn und Adnet, die Zementfabrik in Grödig- Gartenau und die Glaserzeugung in Bürmoos. Das 1913 fertiggestellte Wiestalkraftwerk diente dem steigenden Strombedarf von Industrie und Gewerbe. Die zunehmende Mobilität durch den Bahnverkehr förderte den Absatz der Produkte aus der Landwirtschaft und der noch verbliebenen Grundstoffindustrie sowie den Tourismus. Der Salzburger Zentralraum zog Personen aus den anderen Ländern der Monarchie – aus Wien, Oberösterreich, Niederösterreich, Tirol, Böhmen und Mähren, der Untersteiermark (einem Teil des heutigen Slowenien), den Küstengebieten bis Dalmatien, Ungarn sowie aus Italien – an, die sich hier niederließen. Die Salzburger Bevölkerungszahl stieg überdurchschnittlich, die Zahl der Einwohner der Stadt Salzburg hatte sich von 1869 bis 1910 mehr als verdoppelt.
Der Kriegsausbruch 1914 brachte zunächst Vorteile für jene Betriebe, die kriegswirtschaftlich von Bedeutung waren. So florierten Eisen und Holz verarbeitende Betriebe, die für den Heeresbedarf produzierten. Bald mussten jedoch andere Unternehmen aufgrund der Beschränkung des Bahnverkehrs, wegen des Rohstoffmangels und des Ausfalls der männlichen Arbeitskräfte – ein Großteil wurde zum Militär eingezogen – ihre Produktion reduzieren bzw. überhaupt einstellen. Tausende Männer und Frauen verloren ihre Beschäftigung. Der Tourismus stagnierte. Die Ablieferungspflicht für Edelmetalle in größeren Mengen (Kirchenglocken, Kupferkessel usw.) nahm dramatische Formen an. Frauen tauschten in patriotischer Pflichterfüllung Familienschmuck und Eheringe ein und erhielten dafür Erinnerungsringe mit der Aufschrift „Gold gab ich für Eisen“. Schlitten und Skier wurden für den Wintereinsatz an der Front beschlagnahmt. Zahlreiche (Frauen-)Organisationen und auch Schulkinder sammelten Lebensmittel für die Soldaten an der Front. Wie dramatisch die Situation war, zeigte sich an einer Verfügung für die Fronttruppen: Soldaten sollten als Gemüseersatz Brennnesseln und Löwenzahn sammeln – eine Anweisung, die im Kriegsgeschehen an der Front schlichtweg undurchführbar war.
Frauen mussten die Arbeitsplätze jener einnehmen, die als Soldaten an der Front kämpften. Es kam zu Bekleidungsproblemen bei „Fensterputzerinnen, Schaffnerinnen, Zimmermalerinnen, Tapeziererinnen und Motorführerinnen“. Die Rock- und Mantelsäume rutschten für diese Berufe nach oben, die Frauen durften „Beinkleider“ tragen. Auch Kriegsgefangene mussten in der Landwirtschaft, im Straßenbau und in Rüstungsbetrieben, etwa im Kupferbergbau in Mühlbach am Hochkönig, arbeiten. In der Flachgauer Gemeinde Thalgau heißt noch heute die von Kriegsgefangenen gebaute Verbindungsstraße nach Hof „Russenstraße“. Die Landesregierung hatte 1915 kundgemacht, dass „… jeder Verkehr zwischen Zivilpersonen und Kriegsgefangenen, der nicht durch das Arbeits- oder Dienstverhältnis unbedingt notwendig …“ sei, verboten sei. Die örtlichen Pfarrer hetzten gegen den Verfall der Moral – damit waren unter anderem Liebesbeziehungen zwischen Kriegsgefangenen und einheimischen Frauen sowie freundschaftliche Kontakte gemeint – und ignorierten damit die politischen und sozialen Rahmenbedingungen des Krieges. Die unmenschliche Behandlung vieler russischer Kriegsgefangener erschütterte die einheimische Bevölkerung, wie sich die Saalfeldnerin Frieda Embacher erinnerte: „Ein Bild habe ich noch, das mir unvergesslich ist: Ein Russe mit einem Haxen von einem toten Ross, und an dem hat er genagt, da hinten beim Brunnentrog. Und die Krautstrünke haben sie sich von den abgeernteten Feldern geholt und faulige Erdäpfel, die bei der Ernte liegengelassen worden sind.“
Salzburg war trotz seiner agrarischen Struktur schon in Friedenszeiten ein Land gewesen, das von Lebensmittellieferungen aus anderen Ländern abhängig war, besonders, was Mehl und Kartoffeln anbelangte. Nun spitzte sich die schlechte Ernährungslage rasch zu. 1915 bekamen die Salzburger Mehl und Brot nur mehr mit Bezugskarten, ab 1916 gab es die staatliche Bewirtschaftung in allen Bereichen, doch konnten an die Bevölkerung nicht einmal die ihr auf den Bezugskarten zugesprochenen Mengen abgegeben werden. Die Landesregierung initiierte eine Gemüse- und Getreideanbauaktion, sogar der Salzburger Mirabellgarten wurde zum Krautacker umfunktioniert.
Der Schwarzmarkt bot jenen, die sich nicht selbst mit Gemüse und Getreide versorgen konnten, die Möglichkeit, Lebensmittel zu erwerben. Embacher ging in und um Saalfelden mit ihren Freundinnen von Bauer zu Bauer und bettelte um Lebensmittel: „Mit gleichaltrigen Schulkameradinnen bin ich dann auch hamstern gegangen zu den Bauern, damit man wieder ein paar Eier oder ein bisschen Milch gekriegt hat. Oft haben wir so einen Hunger gehabt, dass wir uns gleich hinter den Stall gesetzt und Eier ausgetrunken haben.“ Auch Therese Kaltenegger, später Salzburger Gemeinderätin, versuchte verzweifelt, ihre Familie durchzubringen: „Oft bin ich zwei Stunden und mehr zu Fuß zu den Bauern der Umgebung gegangen, um für meine kleine Tochter wenigstens ab und zu einen halben Liter Milch zu bekommen.“
Manche griffen zur illegalen Selbsthilfe. In Mühlbach am Hochkönig stahlen Bergarbeiter Rinder, Ziegen, Schafe und Schweine und schlachteten die Tiere an Ort und Stelle, um das Fleisch bestmöglich transportieren zu können und Spuren zu verwischen. Auch Kartoffeln, Korn- und Weizenähren wurden vor der Ernte von den Feldern und Äckern gestohlen. Um Lebensmittel bei den Produzenten – vor allem bei den Bauern – zu beschaffen,...