Eine Entdeckung auf Umwegen
Kurz vor meinem sechsunddreißigsten Geburtstag bekam ich chronische Rückenschmerzen. Sie traten nicht nur bei bestimmten Haltungen oder Bewegungen auf, sondern ich hatte sie auch, wenn ich im Bett oder sogar in der heißen Badewanne lag. Das beunruhigte mich, denn mein Rücken hatte mir noch nie Schwierigkeiten gemacht. Darüber war ich immer besonders froh, denn viele meiner Altersgenossen hatten schon von den Zwanzigern an Rückenbeschwerden. Außerdem war meine Konstitution recht sportlich und kräftig, auch wenn sie sich ein wenig versteckt hatte unter einem Wohlstandsbauch. Nichts deutete darauf hin, dass ich Rückenschmerzen haben müsste. Ich ging also zu einem Orthopäden, der mir Spritzen gab und mich jedes Mal eine viertel Stunde lang vor ein surrendes Gerät aus der Steinzeit des Industriedesigns setzte, das angeblich heilsame Strahlen in den Rücken sendete. Die Spritze milderte den Schmerz ein wenig, aber nur für kurze Zeit. Nach ein paar Monaten betrachtete ich diesen Versuch als gescheitert und ging zum nächsten Arzt, diesmal eine Chiropraktikerin. Sie renkte mich ein, indem sie mir auf einer kalten Pritsche mit einem kurzen Ruck Schultern und Becken gegeneinander verdrehte. Das schnalzte richtig und danach war alles weg – für ein paar Tage. Nachdem ich das dritte Mal aus ihrer Praxis kam wusste ich, dass sie mir auch nicht helfen kann. Also litt ich einfach im Stillen weiter und versuchte den Schmerz zu vergessen. Bis ein Bekannter mir eines Tages die Adresse eines Arztes zusteckte, der sich mit so etwas angeblich auskennen sollte. Ich war skeptisch. Als das Stechen im Bereich der unteren Lendenwirbel wieder stärker wurde, machte ich doch einen Termin. Der neue Wunderdoktor erwies sich als Sportarzt mit Heilpraktikerausbildung. Er untersuchte mich gründlich, tastete mich ab und stellte mir eine Reihe von Fragen, die ich alle nur mit Ja beantworten konnte: Essen Sie gerne und viel? Trinken Sie auch manchmal mehr als drei, vier Gläser Bier oder Wein am Tag? Haben Sie zurzeit viel Stress? Vernachlässigen Sie den Sport? Er überlegte, machte ein paar kurze Notizen, sah mich dann mit großem Ernst an und stellte mir eine überraschende Diagnose: „Ihnen fehlt mechanisch überhaupt nichts. Ihr Rücken ist völlig in Ordnung. Aber Ihrem Darm geht es nicht gut. Sie haben dort eine Entzündung, die in den Rücken strahlt. Daher der Schmerz. Deshalb kann ich Ihnen nur Folgendes sagen: Sie essen zu viel, Sie trinken zu viel und Sie bewegen sich zu wenig. Mindestens eines von diesen drei Dingen müssen sie grundlegend ändern, sonst werden Sie massive gesundheitliche Probleme bekommen.“ Das war ein Schock für mich. Keine Spritzen mehr? Keine Operation? Ich sollte mich stattdessen selbst ändern? Und dazu auch noch auf all die herrlichen kulinarischen und alkoholischen Genüsse verzichten? Niemals!
Jenseits dieser Empörung war ich aber natürlich heilfroh, denn ich hatte ja ernsthaft befürchtet, dass meine Wirbel vielleicht zusammengeschraubt werden müssen, weil die Bandscheiben sich aufgelöst hatten oder so etwas Ähnliches. Die Botschaft war einfach – zumindest so, wie ich sie verstanden hatte. Ich musste nur abnehmen und Sport machen, wenn ich so weiterleben wollte wie bisher. Ich wog damals etwa 95 Kilogramm bei einer Größe von 1,80 Meter. In Sachen Abnehmen hatte ich eigentlich Erfahrung, denn während des Studiums fastete ich beinahe jedes Jahr ein Mal, und zwar in Form eines siebentägigen Heilfastens. Die Erfolge hielten sich in Grenzen, vor allem weil die verlorenen Pfunde bald wiederkehrten. Immerhin gab es mir ein gutes Gefühl und eine gesunde, glatte Haut. Also gut, Fasten wäre kurzfristig das richtige Mittel zum Abnehmen, aber wie ist es mit der Bewegung, dem Sport? Ich hasse Fitnessclubs und langweile mich unsäglich beim Training an Geräten.
Kurz darauf stieß ich an einem sonnigen Samstagmittag in einer Berliner Buchhandlung auf Joschka Fischers Buch Mein langer Lauf zu mir selbst. Mit der vagen Ahnung, damit der Lösung meines Problems näher zu kommen, kaufte ich es und ging damit zu meinem italienischen Lieblingsrestaurant, einer kleinen Trattoria am Hackeschen Markt mit offener Küche und kumpelhaften Kellnern. Ich bestellte die beliebte Meeresfrüchteplatte, dazu eine Flasche Rotwein – passt ausgezeichnet zu frittierten Fischen und Calamares – und las das Buch in einem Zug. Es überzeugte mich, dass Laufen der richtige Sport wäre, um das Fasten zu unterstützen. Das war ein herrliches Gefühl! Richtig schlemmen und sich dabei aufs Abnehmen freuen – um dann bald wieder schlemmen zu können! Das war die Richtung, in der ich suchte. Also entschloss ich mich, mit dem Fasten zu beginnen, wie ich es kannte, aber diesmal mit dem Unterschied, dass ich mir dabei ein intensives Laufpensum vornahm. Ich hatte mir dabei zuerst gar nicht viele Gedanken gemacht, wie das im Einzelnen funktionieren sollte und wie das Ergebnis aussehen könnte. Mir war nur klar, dass ich vorher etwas Lauftraining absolvieren muss, damit mich während des Fastens nicht tagelanger Muskelkater lahmlegt. Zwei Wochen später begann ich mit der neuen Art von Fasten, die ich mir ausgedacht hatte. Meine alten Fastenerfahrungen waren dabei enorm hilfreich, denn das gewöhnliche Fasten ist für sich genommen schon ein erheblicher Eingriff in die Routinen des Stoffwechsels. Der bekannte Fastenexperte Hellmut Lützner nennt es völlig zutreffend eine „Operation ohne Messer“. Ich stellte mich auf zwei Wochen Fasten und dabei jeden Tag mindestens eine Stunde Laufen ein. Und ich zog es durch.
Was soll ich sagen? Das Ergebnis war einfach umwerfend! Die Gewichtsabnahme war so radikal, dass ich meiner Waage nicht mehr traute. Ich dachte ernsthaft, das Gerät betrügt mich. Beim normalen Fasten und einer durchschnittlichen, also nicht übermäßig aufgeschwemmten Konstitution, wo man den Effekt über das abgehende Wasser aus dem Gewebe erklären könnte, beträgt die Gewichtsabnahme in den ersten fünf Tagen 3 bis 3,5 kg. Ich hatte dagegen in den ersten fünf Tagen über 5 kg abgenommen. Das war unglaublich! Es ging dann nicht ganz so schnell weiter, aber immer noch in großen Schritten. Nach 14 Tagen hatte ich beim ersten Mal netto 10 Kilogramm verloren. Inzwischen schaffe ich 12 Kilogramm in derselben Zeit. Natürlich nimmt man danach wieder zu, aber viel weniger und langsamer als nach dem Fasten. Es hängt davon ab, wie man mit dem geringeren Gewicht weiterlebt. Denn 10 Kilogramm Gewichtsverlust in derart kurzer Zeit – das wird noch eine wichtige Rolle spielen – machen auch einen anderen Menschen aus uns. Plötzlich machen Dinge wieder Spaß, die wir lange vergessen hatten. Man kann die Beine wieder gelassen übereinanderschlagen, denn sie sind nicht mehr so dick, dass sie schmerzen und die Hose spannt. Treppensteigen wird zur Freude, das Laufen selbst, das am Anfang nur mit eisernem Willen durchgehalten werden kann, wird zu einem richtigen Bedürfnis, denn die Muskeln sind trainiert und der Körper bedankt sich für diese Sauerstoffdusche. Bewegung wird als Geschenk betrachtet, nicht mehr als Zumutung. Der gesamte Hormonhaushalt wird umgestülpt und gibt einem das Gefühl, schlagartig mehrere Jahre jünger zu sein. Gar nicht zu sprechen von den ein oder zwei Kleidergrößen Unterschied und den neuen Löchern, die man in die Gürtel stanzen lassen muss.
Ich war jedenfalls völlig fassungslos von diesem Erfolg. Es war einfach unglaublich, dass ich in so kurzer Zeit so extrem viel Gewicht verlieren konnte. Ich versuchte mir die 10 Kilogramm Fett, um die meine Person nun materiell reduziert war, plastisch vorzustellen, also eingepackt in eine Kiste oder in einen Sack. Ich suchte mir einen Gegenstand, der 10 Kilogramm auf die Waage brachte, und lief damit herum, auch im Treppenhaus, um eine Erinnerung an das Gefühl der Schwere zu bekommen, mit der ich ein paar Tage zuvor noch gelebt hatte. Glauben Sie, dass man einen geistigen Orgasmus bekommen kann? Vor Freude und Lust an der eigenen neuen Gestalt? Es geht, ich verspreche es! Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die gewünschten Veränderung des Körpers, um die man mit herkömmlichen Diäten und Fastenkuren lange und intensiv kämpfen muss, plötzlich schneller eintreten als man sich das überhaupt vorstellen kann. Im Spiegel steht ein anderer! Oder eine andere! Der Verstand ist zu langsam für diese radikale Veränderung. Deshalb ist er überrascht. Das ist der schöne Effekt der Selbstverstärkung, der schon während der Samurai-Diät einsetzt: Je schneller man abnimmt, umso erstaunter und zugleich motivierter ist man, weiter durchzuhalten. Es ist genau das Gegenteil von der Unruhe, mit der man bei herkömmlichen Diäten über viele Wochen und Monate verzweifelter Selbstbeherrschung auf die Waage starrt.
In den zehn Jahren, die seit dieser Entdeckung vergangen sind, habe ich diese neue Diät systematisch erforscht und ständig weiterentwickelt. Dabei habe ich jedes Mal neue Variationen ausprobiert, viel über meinen Stoffwechsel gelernt und die populären Irrtümer über Ernährung und Gewichtsabnahme studiert. Zwischen den kurzen jährlichen Diätzeiten führte ich mein genussreiches Leben weiter. Ich aß und trank nach Lust und Laune, wobei ich nach einigen Monaten natürlich immer wieder zunahm. Aber das war ja gerade der Sinn der Sache! Ich wollte mich den Rest des Jahres nicht verrückt machen lassen von Kalorienverboten und schlechtem Ess-Gewissen. In diesem Jahrzehnt der Diät-Selbstversuche haben sich allerdings einige Dinge geändert, und zwar zum Guten, sodass inzwischen auch eine klare Tendenz erkennbar ist: Der Körper gewöhnt sich an die Samurai-Diät und unterstützt sie! Es ist mir im Laufe der Zeit immer leichter gefallen, die Härte dieser Kombination aus...