Einleitung
»Warum hasst uns der Westen?«
Vom »Stabilitätsanker« zum Problemfall
»Ich verstehe nicht, warum der Westen uns so hasst. Was machen wir falsch? Warum existieren so viele Vorurteile gegen uns?« Mein saudischer Gesprächspartner Muhammad, ein politischer Analyst und kluger Geist, fragte mich dies nicht zum ersten Mal.1 Wir saßen während einer meiner Besuche in der saudischen Hauptstadt Riad zum Abendessen in einem dieser neu eröffneten asiatischen Restaurants und diskutierten bei »Saudi Champagne« – wie in dem Land, in dem Alkohol streng verboten ist, ironisch Apfelschorle genannt wird – zum wiederholten Male das ambivalente Verhältnis des Westens zu Saudi-Arabien. Muhammad kennt den Westen gut; er verbringt einige Monate im Jahr in den USA, in England oder Deutschland. Nicht alle meine Argumente konnte er verstehen, doch am Ende eines intensiven Gesprächs war er der Überzeugung, dass vor allem Unwissenheit, mangelndes Verständnis und fehlende Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, zu dieser tiefen Kluft zwischen dem Westen und Saudi-Arabien geführt haben.
Für mich war dieser Abend mit Muhammad ein weiteres Beispiel für die Widersprüchlichkeit, die mir in Saudi-Arabien immer wieder begegnet: Auf der einen Seite leidet das Land unter einem katastrophalen Image im Westen, wird für seine Rückständigkeit, seine Borniertheit, seinen religiösen Extremismus und seine konservativen Gesellschaftsstrukturen angefeindet und verachtet. Auf der anderen Seite zeigen mir Diskussionen wie mit Muhammad immer wieder, wie eindimensional und einseitig dieses Bild ist. Wie stark uns Vorurteile und Klischees prägen. Und dass diese Vorurteile auch die Politik bestimmen – überall auf der Welt und insbesondere gegenüber Saudi-Arabien. Muhammads Haltung, zuhören und verstehen zu wollen, sowie seine Selbstkritik und sein Verständnis für die Vorbehalte des Westens passen nicht zu diesem Klischee. Mich hat beeindruckt, wie offen und neugierig er von mir wissen wollte, wie die Deutschen über sein Land denken.
Gespräche wie jenes mit Muhammad hatte ich während meiner Reisen ins Königreich bereits viele. Die meisten meiner Gesprächspartner sehen wie Muhammad allein im Dialog einen Weg, sich zu verstehen und anzunähern. Manche verurteilen jedoch den Westen für seine Ignoranz scharf und gehen auf Distanz. Diese Meinungsextreme erlebt man in den meisten muslimisch geprägten Gesellschaften, doch Saudi-Arabien ist noch einmal besonders: Es ist ein Land der doppelten Böden, der gravierenden Widersprüche und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es ist ein Land, das mich in seiner Vielschichtigkeit, in seiner Janusköpfigkeit, in seiner Doppelmoral und in seiner historischen Einzigartigkeit immer wieder aufs Neue fasziniert. Je länger und intensiver ich mich mit Saudi-Arabiens Geschichte, seinen Menschen und seiner Kultur, seinen Traditionen und Krisen beschäftigte, je häufiger ich das Land besuchte und über die Jahre Freundschaften wie die mit Muhammad schließen konnte, desto mehr wurde mir bewusst, wie komplex, kompliziert und oftmals unverständlich das Königreich am Golf doch ist. Und wie wenig wir im Westen von diesem Land wissen.
Es existieren viele Gründe, Saudi-Arabiens Politik und vor allem seine konservative und intolerante Islam-Auffassung zu kritisieren, scharf zu verurteilen oder das Land womöglich gar »zu hassen«, wie es Muhammad ausdrückt. In unserem öffentlichen Diskurs wird Saudi-Arabien auf folgende Phänomene reduziert: überbordender Luxus durch den Ölreichtum, Förderung des Terrorismus, Missachtung der Frauenrechte – das ist die dunkle Seite des Königreichs. Bärtige Prediger verbreiten Hass auf Andersgläubige, verbieten Frauen das Autofahren und verteufeln den Westen für seine Dekadenz, während gleichzeitig saudische Scheichs aufgrund der Öleinnahmen ihren Reichtum zur Schau stellen. Fast täglich werden Menschen mit dem Schwert enthauptet oder ausgepeitscht. Der wahhabitische Islam reglementiert die saudische Gesellschaft bis in kleinste Details des Privatlebens, geißelt weltliche Genüsse und hat seinen Einfluss in den letzten Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt ausgeweitet. Alkohol ist ebenso strikt verboten wie Kinos, Opern und Theater. Tanz und Musik sind in der Öffentlichkeit untersagt. Frauen ist es nicht erlaubt, ohne einen Verwandten oder ihren Ehemann ein Geschäft zu eröffnen oder ins Ausland zu reisen.
Das Königreich unterstützte in der Vergangenheit Dschihadisten im Irak, in Syrien, in Afghanistan, auf dem Balkan und in Afrika und führt seit Frühjahr 2015 einen desaströsen Krieg im Jemen. Immerhin 15 der 19 Attentäter vom 11. September 2001 kamen genauso wie Osama bin Laden aus Saudi-Arabien, und die menschenverachtende Ideologie des IS beruht in Teilen auf dem Islam-Verständnis saudischer Prägung. Die ideologisch-geostrategische Rivalität mit dem »Erzfeind« Iran, die auf einer Kultur des Iran-Hasses, einer hysterischen »Iranoia« beruht, lässt ein Ende des Krieges in Syrien derzeit illusorisch erscheinen. Dies alles sind Gründe, warum immer wieder lautstark Kritik an Saudi-Arabien geübt wird. Die Politik des Königshauses gilt als Inbegriff der Intoleranz, Indoktrination und Isolation.
Dennoch ist Saudi-Arabien ein politischer Partner des Westens. Es ist noch nicht so lange her, dass Thomas de Maizière als Bundesverteidigungsminister die Monarchie am Golf mit den Worten lobte: »Saudi-Arabien ist einer der wichtigsten Stabilitätsanker in der Region. Das Königreich ist ein Verbündeter des Westens. […] Es liegt im westlichen Interesse, dass Saudi-Arabien diese stabilisierende und mäßigende Rolle in der Region weiterspielen kann.«2
Diese Sätze fielen im Juli 2011 – zu einer Zeit, als die arabischen Aufstände zu einer Euphorie in der arabischen Welt, aber auch im Westen geführt hatten und mehrheitlich verklärend als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Viele zeigten sich damals fasziniert davon, dass die arabische Welt aus ihrer verkrusteten Erstarrung der vergangenen Jahrzehnte erwacht zu sein schien, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Auf einmal änderte sich das Bild von den paralysierten, unterdrückten und verknöcherten Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens, die seit Jahrzehnten von ausbeutenden Diktatoren, korrupten Bürokraten und reaktionären Geistlichen kontrolliert, reglementiert und instrumentalisiert worden waren. Ein Wandel zu mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr zivilgesellschaftlichem Einfluss in der arabischen Welt schien möglich.
Doch gleichzeitig hatten die arabischen Aufstände in der westlichen Politik jahrzehntelange Gewissheiten ins Wanken gebracht. Europa und die USA hatten mit den geschassten Despoten in Ägypten und Tunesien gemeinsame Sache gemacht, da sie als Garanten für Sicherheit galten. Dass es sich bei dieser Sicherheit nur um eine oberflächliche Friedhofsruhe handelte, die weder langfristige Entwicklung noch demokratische Strukturen förderte, war von den Politikern in Washington, Berlin, Paris oder London ignoriert worden. Sicherheit wurde mit Stabilität verwechselt – eine fatale Fehlkalkulation. Diese einstmalige Euphorie ist durch das Chaos in der arabischen Welt seit 2011 längst erloschen. Statt Aufschwung herrschen in vielen Ländern Anarchie und Bürgerkrieg, statt Demokratie versuchen Dschihadisten, ihre Idee von einem Kalifat mit Gewalt und dem Schüren von Angst durchzusetzen. Die arabische Welt befindet sich in einer fundamentalen Krise, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Grenzen könnten sich verschieben, Staaten zerfallen, Millionen Menschen werden vertrieben. Viele von ihnen hatten vor fünf Jahren die Hoffnung, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Heute flüchten sie vor den Bomben in Syrien, den Terrorchargen des IS, vor Hunger, Obdachlosigkeit und Krankheit. Sie verlassen ihre Heimat, die sie neu aufbauen wollten, und flüchten in die Nachbarländer, aber auch nach Europa, nach Deutschland. Längst haben uns die Auswirkungen in Form der sogenannten Flüchtlingskrise erreicht. Bei uns erhoffen sich die Vertriebenen Frieden und Sicherheit, hier sehen sie einen sicheren Hafen.
Wandel ist immer eine Phase der Instabilität, der Unruhe und der Ungewissheit. Je länger diese Phase in der arabischen Welt jedoch andauert, desto nervöser werden die westlichen Regierungen. Auch deswegen hat sich seit 2011 wieder eine Politik des Wegschauens durchgesetzt. Anstatt die historische Chance zu nutzen und die arabischen Umbrüche als willkommenen Anlass zu nehmen, die westliche Nahostpolitik nicht nur zu modifizieren, sondern grundlegend zu überdenken, hielt man weitgehend an denselben überholten Rezepten fest. Zwar stellten die westlichen Regierungen Millionensummen zur Verfügung, um die »demokratische Transformation« in den Ländern der arabischen Aufstände zu unterstützen, die Zivilgesellschaft zu fördern und den friedlichen Weg zu mehr Freiheit, Teilhabe und wirtschaftlichem Aufschwung zu begleiten, doch die Erfolge blieben aus.
Auch vor diesem Hintergrund muss die Äußerung de Maizières von Saudi-Arabien als »Stabilitätsanker« eingeordnet werden: Da langjährige Partner wie Ägypten oder Tunesien wegbrachen, wandte man sich umso bereitwilliger an den Hort scheinbarer Ruhe. Das saudische Königshaus blieb während der Umstürze 2011 und danach politisch stabil – und galt als Insel der Kontinuität in einem tobenden Ozean zerfallender Staaten. Es wurde als Konstante in einer Welt des Chaos hofiert. Die Investitionen im ölreichsten Land der Welt florierten, deutsche, US-amerikanische und französische Unternehmen verdienten...