Anne-Maries Leben vor der Erkrankung
Anne-Marie wurde 1925 in Berlin geboren und wuchs zusammen mit einer Schwester und einem Zwillingsbruder auf. Über ihre Kindheit sagte sie: «Ich war ein sehr lebhaftes Kind, sehr übermütig, sehr ausgelassen, voller Aktivität. Ich habe oft die ganze Klasse zu Streichen angestiftet. Ich glaube, ich war ein recht anstrengendes Kind für die Lehrer. Ich war voller Aktivität und Ideen; für mich war die Schule ein Feld, mich ein Stück zu leben. Ich bin natürlich dann auch viel diszipliniert worden. Ich habe in der Schule sehr viele Rügen und Tadel ins Klassenbuch eingetragen bekommen. Auf dem Zeugnis stand häufig: Sie stört noch immer den Unterricht.»
Bei Ausbruch des Krieges war Anne-Marie vierzehn Jahre alt. Ihr Vater, ein Lehrer, wurde zur Wehrmacht eingezogen. In den folgenden Jahren erlebte sie Hunger und Angst; bei einem Fliegerangriff wurde die Wohnung der Eltern zerstört. Im vorletzten Kriegsjahr begleitete sie ihren Vater in Nachtwachen beim Sterben.
Nach Kriegsende studierte sie an einer Pädagogischen Hochschule. Sie wollte Volksschullehrerin werden. «Ich hatte die Sinnlosigkeit und Zerstörung des Krieges erfahren. Ich war hellhörig und wach geworden gegenüber Aggressionen und gegenüber Leiden anderer Menschen, nachdem ich früher ein völlig unbeschwertes Kind gewesen war. Ich hatte den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun, und zwar Menschen zu helfen, friedfertiger miteinander zu leben. Da ich in meinem Beruf mit Menschen zusammensein wollte und da ich gute Beziehungen zu Kindern hatte und auch erfahren hatte, daß ich Schülergruppen in der Nachbarschaft gut unterrichten konnte, wurde ich Lehrerin.»
Zwei Jahre später begann sie an der Universität Göttingen Psychologie zu studieren. Nach ihrem Diplom und einer zweijährigen Arbeit als Assistentin an einer Pädagogischen Hochschule vollendete sie eine Doktorarbeit an der Universität Göttingen. Es war eine empirische Untersuchung darüber, wie Kinder Erwachsene erleben.
Danach ging sie als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Psychologische Institut der Universität Marburg, um als Kinderpsychologin zu arbeiten. Ich war damals Assistent an diesem Institut. Wir waren uns bereits Jahre zuvor während des Studiums einige Male flüchtig begegnet. Jetzt spürten wir schnell eine starke Zuneigung und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Ein halbes Jahr später heirateten wir.
Wegen der drei Kinder, die wir in den folgenden sechs Jahren bekamen, nahm sie, abgesehen von einer Ausnahme, keine bezahlte Stelle an. Sie arbeitete jeweils als freie Mitarbeiterin an der Hochschule mit, an der ich tätig war.
«Mein Leben ist dadurch gekennzeichnet, daß ich arbeite mit dem Ziel, anderen zu helfen.» Durch meine Tätigkeit als Dozent für Psychologie an einer Pädagogischen Hochschule bekamen wir viel Einblick in die damals übliche Schulerziehung. Was wir dabei erfuhren, war erschreckend für uns. In mehreren umfangreichen empirischen Untersuchungen wies Anne-Marie nach, daß das Lehrerverhalten sehr autoritär war, daß Schüler durch die starke Neigung der Lehrer, zu lenken und zu dirigieren, wenig Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entwickeln konnten. Diese Arbeiten erregten viel Aufsehen. Es wurde offenbar, daß die Schulerziehung junge Menschen wenig auf ein späteres demokratisches Zusammenleben vorbereitete. In anderen Untersuchungen zeigte sie, daß auch das soziale Klima in Kindergärten wenig förderlich für die persönliche Entwicklung war und daß Kinder auch in ihren Familien oft wenig Wärme erhielten, jedoch in starkem Ausmaß gelenkt und dirigiert wurden.
Sie bemühte sich dann, durch Untersuchungen herauszufinden und zu prüfen, wie eine gute Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern beschaffen ist, die das seelische Wohlergehen und die seelische Lebensfähigkeit des Kindes mehr fördert. Alle diese Untersuchungen erschienen zunächst in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Durch unser Buch ‹Erziehungspsychologie› wurde sie einer großen Anzahl von Lehrern, Erziehern und interessierten Laien bekannt (29).
Die folgenden Äußerungen aus einem Interview zeigen, wie sehr diese Arbeit sie erfüllte: «Ich habe mit meinem Mann zusammen viel in der Erziehung gearbeitet. Ich war immer irgendwie beseelt – nicht besessen, aber beseelt von dem Gedanken: Ja, da kannst du zeigen, was Kindern hilft oder sie angstfreier macht oder persönlich entwickelter. Ich denke, es ist das wichtigste, den anderen in seiner ganz anderen individuellen seelischen Welt zu achten, zu begleiten, zu fördern und sich selbst zu entwickeln. Die persönliche Entwicklung in der Familie und Schule sehe ich als wichtigstes Lernziel an» (28).
«Wissenschaft ist für mich mehr als Forschung und Lehre: nämlich Hilfe für die Menschen in Not.» Sehr beeinflußt wurde Anne-Marie durch den Kontakt mit dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers, dem Begründer der klientzentrierten Psychotherapie. Seine Ideen und wissenschaftlichen Befunde halfen ihr, wesentliche Möglichkeiten des humanen Zusammenlebens von Menschen zu erkennen und zu fördern (14, 15, 17). Durch seine klientzentrierte Psychotherapie wurde sie angeregt, Kindern und Erwachsenen in Einzel- und Gruppengesprächen zu helfen, sie seelisch zu fördern, ihnen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen, ohne sie zu dirigieren, zu belehren oder zu bewerten. Sie untersuchte die Auswirkungen dieser Gespräche bei unterprivilegierten Kindergartenkindern, bei ängstlichen Schülern, bei alten Menschen über 65 Jahren. Sie führte Gruppengespräche mit Personen, die Schwierigkeiten miteinander hatten, zum Beispiel Richter und inhaftierte Angeklagte sowie alte und junge Menschen.
Über diese Arbeit sagt sie in einem Interview (28): «Viele Menschen leben in einem seelischen Kerker, den sie sich selbst gebaut haben. Etwa aus Angst, abgelehnt zu werden, zwängen sie sich jahrelang in Rollen hinein, die ihnen überhaupt nicht entsprechen. Diese Menschen sind oft verzweifelt und sagen: ‹Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Bin ich der, der ich vorgebe zu sein?› Wir erleben es in Gesprächen und Gruppen, wie dann Menschen sagen, daß ihre Fassade allmählich fällt. Neulich schrieb mir ein junger Mann von 28 Jahren: ‹Ich fange an, aus meiner Erstarrung aufzutauen.› Und heute schrieb gerade eine Frau: ‹Ich spüre, wie die Eisenreifen, die um mich gelegt sind, sich allmählich weiten.› Durch meine Forschungen möchte ich wissen: Wie kann ich es einem Menschen ermöglichen, daß er sich seelisch selbst mehr helfen kann?»
Diese jahrelange wissenschaftliche und praktische Tätigkeit, Menschen durch hilfreiche Gespräche zu größerer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zu verhelfen, fand ihren Niederschlag in unserem gemeinsamen Buch ‹Gesprächspsychotherapie› (30). Mit ihren Untersuchungen habilitierte sie sich an der Universität Hamburg, war dann Privat-Dozentin und wurde später zur Honorar-Professorin ernannt.
Sie bemühte sich intensiv, ihre Befunde und ihr Wissen Menschen direkt zugänglich zu machen. So führte sie gemeinsam mit mir in den Jahren 1976 bis 1980 im Südwest-Fernsehen 14 Gruppengespräche mit insgesamt über 130 Personen. Durch diese Sendungen erlebten Millionen Zuschauer, wie sich Mitglieder einer Gruppe einander öffnen, sich näherkommen, sich ehrlich mit sich selbst auseinandersetzen und sich ändern. Viele Menschen wurden dadurch angeregt, mehr auf ihre seelische Entwicklung bedacht zu sein.
Daneben war sie immer wieder auch Lernende, als Teilnehmerin in Gruppen am Center von Carl Rogers, auf Seminaren und Workshops und durch Kontakte mit Wissenschaftlern vor allem in den USA.
«Es geht mir darum, Menschen mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen zu bereichern.» Im Frühjahr 1978, im Alter von 54 Jahren, begann sie, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zu untersuchen, wie hilfreich es für Krebskranke, ihre Angehörigen und für medizinische Helfer ist, wenn sie an einer psychologischen Gesprächsgruppe teilnehmen.
In einem Interview spricht sie über den Anlaß zu dieser Untersuchung: «In einer unserer Fernseh-Gesprächsgruppen war eine Krebspatientin. Sie hat viel mit uns gesprochen, das war ein Jahr vor ihrem Tod. Sie empfand die Gespräche wie eine ‹seelische Aufrüstung›. Und dann kamen eben Anrufe und Anfragen von Krebspatienten zur Teilnahme an Gruppengesprächen. Ich dachte, da stehe ich jetzt mit leeren Händen da. Aber ich sah es als eine Aufforderung für mich an. Ich suchte mir Mitarbeiter und Studenten und reichte einen Forschungsplan ein, den ich auch genehmigt bekam.»
Dann schildert sie die darauf folgenden Ereignisse: «Gerade als wir mit der ersten Gruppe begannen, ging ich zu einer Routineuntersuchung, eigentlich ganz gesund. Da stellte der Arzt bei mir die Diagnose Krebs. Unterstützt durch die Mitarbeiter konnte ich die Forschungsuntersuchung weiter begleiten. Es zeigte sich, daß sich die Menschen in den Gesprächsgruppen wie befreit fühlten. Sie haben gesagt: daß sie über ihre Angst sprechen konnten, das hat ihnen die Angst genommen» (27).
In den folgenden zwei Jahren schrieb sie das Buch ‹Gespräche gegen die Angst›. Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen waren dabei nur der Ausgangspunkt. «In diesem Buch empfinde ich mich nicht als Autor, sondern als Medium. Menschen erzählen mir ihre bedeutsamen persönlichen Erfahrungen, ihren Umgang mit der Krankheit oder ihren seelischen Schwierigkeiten. Ich denke, daß das, was Menschen sehr persönlich erfahren, auch für andere Menschen wichtig sein kann. Meine Erkenntnis ist, daß das Persönlichste von Menschen das...