Kapitel 1
Ein Lächeln erhellte Saras Gesicht, als sie an das Wiedersehen mit Seth dachte, ihrem allerbesten Freund auf der ganzen Welt. Sie konnte es kaum erwarten, mit ihm über alles zu reden, was in den Sommerferien geschehen war. Sara sah hinauf zum klaren blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte, und atmete die frische, würzige Bergluft tief ein. Ach, was war das Leben doch herrlich!
»Ich bin so froh, dass die Schule wieder anfängt«, sagte sie laut zu sich selbst. Allerdings freute sie sich nicht auf die Schule selbst, sondern darauf, endlich wieder mehr Zeit mit Seth zu verbringen.
Seth wohnte an Thackers Weg, gar nicht weit von dem Haus entfernt, in dem Sara mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder Jason lebte. Sara und Seth verbanden viele Gemeinsamkeiten. Beide liebten Tiere und das Leben in freier Natur; beide waren ganz begierig darauf, immer wieder Neues zu erfahren und zu erleben. Doch obwohl sie so viele Interessen teilten, gab es zwischen ihnen einen gewaltigen Unterschied. Während Sara so ziemlich alles tun durfte, was sie wollte, schienen Seths Eltern weitaus strenger zu sein. Sie bürdeten ihm unzählige Aufgaben und Pflichten auf und schränkten damit seine Freiheit gewaltig ein.
Sara konnte sich nur schwer vorstellen, dass es wirklich so entsetzlich viel in Seths Haus zu erledigen gab. Schon als sie ihn kennen gelernt hatte, schwante ihr, dass ihn seine Eltern nur deshalb mit Bergen von Aufträgen überhäuften, damit er nicht auf die Idee kam, Dummheiten zu machen. Aber Seth beschwerte sich nie. Er begegnete seinen Eltern mit großer Achtung und erledigte kommentarlos, was ihm aufgetragen wurde. Und irgendwie fand Sara das richtig gut.
Sobald allerdings die Schule wieder anfing, schienen Seths Eltern die Zügel zu lockern. Dann blieb ihm fast jeden Tag nach dem Unterricht Zeit, um mit Sara zu spielen. Jetzt war es endlich wieder so weit. Und deshalb hüpfte und rannte Sara voller Vorfreude mitten auf der Landstraße entlang. Sie sprang zur Seite, als sie einen Lastwagen hinter sich heranrattern hörte. Kaum war er an ihr vorbeigerollt, setzte sie ihren Weg auf der Straßenmitte fort. Schnell hatte sie die Ecke erreicht, an der Seths Weg die Landstraße kreuzte. Sie blickte zu Thackers Weg und Seths Haus hinüber. »Nun komm schon, Seth, wo steckst du bloß?«, fragte sie ungeduldig. Warum ließ er sich nur so viel Zeit?
An der Ecke ließ sie ihre Schultasche, die an diesem ersten Tag noch fast leer war, zu Boden fallen. »Seth, wo bleibst du?«, murmelte sie.
Ein Wagen der Müllabfuhr donnerte an ihr vorbei und hüllte sie in eine dicke Staubwolke ein. Sie kniff die Augen zusammen und wedelte wild mit den Händen herum, um den Staub zu vertreiben.
Endlich hatten sich die Schwaden verzogen, doch von Seth war immer noch nichts zu sehen.
»Hm, dann muss ich eben warten. Vielleicht ist er ja schon in der Schule«, tröstete sie sich. Sie hob ihre Tasche auf, warf noch einen sehnsüchtigen Blick die Straße hinunter und trottete weiter.
Saras Schulweg war nicht sehr lang und weil sie voller fröhlicher Gedanken steckte, verging die Zeit meistens wie im Fluge. Die Menschen, die Sara auf diesem Weg begegneten, hielten sie für ein rundum glückliches Mädchen. Aber dieselben Leute konnten sich noch gut daran erinnern, dass Sara früher ganz anders gewesen war. Offensichtlich hatte sie eine wundersame Wandlung durchlaufen. Doch von all den Menschen in Saras Leben kannte nur einer das Geheimnis, das hinter dieser wundersamen Wandlung steckte. Und das war Seth.
»Guten Morgen, Sara!«, rief ihr Mr. Matson zu, als sie an der Tankstelle vorbeiging, die er schon lange vor ihrer Geburt besessen und betrieben hatte.
»Hallo, Mr. Matson!«, rief sie lachend zurück, während sie beobachtete, wie er sorgfältig Insekt um Insekt von Mrs. Pittsfields Windschutzscheibe kratzte. Sara mochte Mr. Matson. Jedes Mal, wenn sie an seiner Tankstelle vorbeikam, gab es zwischen ihnen einen kurzen fröhlichen Wortwechsel. Mr. Matson hatte Saras wundersame Wandlung ebenfalls mitbekommen, obwohl auch er keine Ahnung hatte, was dahintersteckte.
Sara hielt auf der Brücke an der Hauptstraße inne und blickte in den rauschenden Fluss unter sich. Sie holte tief Luft, betrachtete die Bäume am Ufer und lächelte versonnen. Wie sie diesen Ort liebte! Die alte Brücke, der ungezähmte Fluss und die mächtigen Bäume, die hoch in den Himmel ragten. Hier war sie Seth zum ersten Mal begegnet. Irgendwie wäre es passend, wenn sie ihren allerbesten Freund an ihrem Lieblingsplatz endlich wieder sehen würde.
Sara wunderte sich oft darüber, dass die Schönheit dieses Ortes anderen Menschen offenbar verborgen blieb. Aber das war auch gut so, fand sie, denn dadurch hatte sie diesen Platz ganz für sich.
Sie wanderte nachdenklich lächelnd weiter. Das ist eben mit vielen Dingen so, sagte sie zu sich selbst, von außen kann man gar nicht erkennen, wie sie wirklich sind. Man muss in sie reingucken, um die Wahrheit zu erfahren.
Viele Jahre zuvor hatte an dieser Stelle ein Lastwagenfahrer versucht, einem streunenden Hund auszuweichen, und dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Lastwagen war gegen das Geländer der Brücke geprallt und hatte es so verbogen, dass die rostigen Streben jetzt fast waagerecht über das Wasser hinausragten. Niemand dachte daran, das Geländer wieder in den alten Zustand zurückzuversetzen, auch wenn die meisten Bürger darüber klagten, dass die Brücke jetzt ein wirklicher Schandfleck und zudem unsicher sei. Andere meinten, sie sei sowieso nie eine Augenweide gewesen, weshalb man sich auch das Geld für eine Reparatur sparen könne.
Als Sara eines Tages von der Schule kam, fiel ihr auf, dass die Streben immer noch fest in der Brücke verankert waren und der kräftige Maschendraht dazwischen wie eine Wiege über dem Fluss hing. Zunächst hatte sie sich diesem Hängegestell vorsichtig genähert, denn es war schon etwas unheimlich, unmittelbar unter sich den brausenden Fluss zu sehen und zu hören, doch schon bald hatte sie herausgefunden, dass dieses sonderbare Gefüge stabil genug war, um sie zu tragen. Es wurde zu ihrem Lieblingsplatz, den sie zu ihrem Aussichtsbalkon ernannte. Wenn sie sich hineinlegte und den Fluss unter sich beobachtete, kam sie sich immer wie in einem riesigen Spinnennetz vor, von dem aus sie die abenteuerlichsten Sachen unter sich vorbeifließen sah. Sara fühlte sich nirgendwo auf der Welt wohler als an diesem Platz, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum das so war.
Genau dort hatte sie auch an jenem warmen Nachmittag gelegen, als Seth mit seiner Familie zum ersten Mal in das Städtchen fuhr. Den total überladenen, offenen alten Lieferwagen, auf dem sich die ganze Habe von Seths Familie befand, hatte Sara damals kaum beachtet. Aber sie erinnerte sich noch gut daran, wie sich ihr Blick mit dem des etwa gleichaltrigen Jungen getroffen hatte, der hinten auf der Ladefläche saß. Der Junge, der ernsthaft und eindringlich zu ihr hinüberschaute, kam ihr seltsam vertraut vor. Dabei wusste sie, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen haben konnte. Das war schon höchst merkwürdig gewesen.
Versonnen ging Sara weiter. Während sie das Rascheln der ersten trockenen Blätter unter ihren Füßen genoss, lief ihr bei dieser Erinnerung an Seth eine wohlige Gänsehaut über den Rücken. In der kurzen Zeit, in der sie ihn jetzt kannte, war wahnsinnig viel geschehen. Die erste Begegnung mit ihrem allerbesten Freund schien schon Ewigkeiten zurückzuliegen. Inzwischen hatten beide so viel gemeinsam durchgemacht, dass sie sich ein Leben ohne Seth schon gar nicht mehr vorstellen konnte. Sara war so erfüllt von der Freude, die ihr diese Freundschaft bereitete, dass sie unwillkürlich lächeln musste.
Obwohl sie sich damals auf der Stelle zu diesem neuen Jungen hingezogen fühlte, war sie wild entschlossen gewesen, ihn nicht Teil ihres Lebens werden zu lassen. Sie wollte nicht, dass ein Fremder alles durcheinander brachte. Als sie dahinterkam, dass Seths Familie jetzt im alten Haus der Thackers wohnte, hatte sie das ganz schön gewurmt. Es ging ihr gewaltig gegen den Strich, dass da andere Menschen so nahe an ihrem geliebten Thackers Weg lebten.
Von Sara abgesehen war sonst niemand in der kleinen Bergstadt an Thackers Weg interessiert. Aber das lag daran, dass keiner außer ihr wusste, was sie über Thackers Weg wusste. Sie fand es schon äußerst seltsam, dass all den Leuten hier entgehen konnte, welches wunderbare und erstaunliche Geheimnis dieser Ort in sich barg, und sie staunte über alle, die in seiner Nachbarschaft lebten und gar nichts davon ahnten. Aber das war ihr nur recht. Es gefiel ihr, dass sie die Einzige war, die Thackers Weg wirklich kannte. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das auch so bleiben sollen.
»Hm …«, murmelte Sara jetzt nachdenklich. Die alten Bedenken und Gefühle Seth gegenüber kamen ihr in der Rückschau albern vor. Das war alles schon so lange her und stammte aus einer ganz anderen Zeit. Inzwischen gehörte Seth nämlich ganz und gar zu ihrem Leben und war genauso Teil von Thackers Weg geworden wie sie. Jetzt fand sie es einfach wunderbar, dass sie ihr Geheimnis mit Seth teilte.
Bevor Seth in die Stadt gezogen war, hatte Sara Sommermonate und unzählige Stunden nach der Schule damit verbracht, im waldreichen Gebiet um Thackers Weg Pfade zu erforschen und Bäume zu besteigen. Sie liebte es, in den Wald hineinzugehen und sich für ein paar glückliche Stunden in einem Unterschlupf zu verkriechen, den sie sich aus Zweigen und Blättern gebaut hatte. Ihre...