Einleitung
Die Welt ringsum ist voller Wunder und doch sind wir ständig auf der Suche nach Glück. Dass wir leben und unsere Schritte auf der Erde setzen, ist an sich schon staunenswert, aber die meisten von uns hetzen herum, als gäbe es anderswo doch noch etwas Besseres. Schönheit ruft uns täglich, stündlich, aber hören wir?
Um den Ruf der Schönheit hören und ihm antworten zu können, müssen wir zunächst einmal still sein, das ist die Grundbedingung. Solange wir keine Stille in uns haben, sondern Geist und Körper von Lärm erfüllt sind, hören wir den Ruf der Schönheit nicht.
In unserem Kopf spielt ein Radio und eingestellt ist der Sender NSD – Nonstop Denken. Es wird immer irgendetwas geplappert und wir haben kaum eine Chance, den Ruf des Lebens, den Ruf der Liebe zu hören. Unser Herz ruft uns, aber wir hören nicht. Wir haben keine Zeit, auf unser Herz zu hören.
Achtsamkeit lässt die innere Geräuschkulisse abklingen. Ohne Achtsamkeit werden wir ständig von irgendetwas hierhin und dorthin gezerrt – vor allem von der Vergangenheit, in der es ja immer etwas zu bedauern oder zu beklagen gibt. Wir beschäftigen uns mit längst Vergangenem und durchleiden die früher einmal erlebten Schmerzen immer wieder. So wird die Vergangenheit zum Gefängnis.
Auch die Zukunft lenkt uns ab. Wer der Zukunft mit Bangen entgegensieht, sitzt genauso in der Falle wie jemand, der sich nicht von der Vergangenheit lösen kann. Die Ungewissheit der Zukunft, verbunden mit Ängsten und Befürchtungen, macht uns taub für die Stimme des Glücks, und so wird die Zukunft dann ebenfalls eine Art Gefängnis.
Wir mögen uns bemühen, ganz im gegenwärtigen Augenblick zu sein, doch viele lassen sich ablenken und fühlen eine Art innere Leere. Wir sind voller Sehnsucht und warten auf irgendetwas oder erwarten etwas, das unserem Leben Aufschwung geben oder es ein bisschen spannender machen soll. Irgendetwas soll kommen und alles ändern, denn was eben jetzt der Fall ist, finden wir eher langweilig – nichts Besonders oder Interessantes.
Achtsamkeit lässt sich als ein Glockenton beschreiben, bei dem wir innehalten und schweigen, um zu lauschen. Wir können zu diesem Zweck tatsächlich eine Glocke verwenden, aber jedes andere Zeichen tut es auch, sofern es uns daran erinnert, dass wir uns nicht von der äußeren und inneren Geräuschkulisse vereinnahmen lassen wollen. Beim Klang der Glocke halten wir inne. Wir verfolgen unseren Atem – einatmen, ausatmen – und schaffen Raum für Stille. Innerlich sagen wir: »Beim Einatmen weiß ich, dass ich einatme. Beim Ausatmen weiß ich, dass ich ausatme.« Bei diesem achtsamen Ein- und Ausatmen, wenn wir wirklich nur auf den Atem achten, können wir alles in uns zum Schweigen bringen, all das Wortgeklingel über Vergangenheit, Zukunft und unser Verlangen nach mehr.
Schon nach zwei oder drei Sekunden des achtsamen Atmens kann uns bewusst werden, dass wir lebendig sind und atmen. Wir sind da. Wir existieren. Dann verstummt der innere Lärm und es entsteht etwas Weiträumiges, der Raum einer kraftvollen und beredten Stille. Jetzt erreicht uns der Ruf der Schönheit ringsum und wir antworten: »Ich bin hier. Ich bin frei. Ich höre dich.«
Was bedeutet »Ich bin hier«? Es bedeutet: »Ich existiere. Ich bin wirklich hier, weil ich nicht in der Vergangenheit, in der Zukunft, in meinem Denken umherirre, nicht im inneren Lärm und nicht im äußeren Lärm. Ich bin hier.«
Um wirklich zu sein, muss man frei sein: frei vom Denken, frei von Befürchtungen, frei von Angst, frei von Verlangen. »Ich bin frei«, das sind gewaltige Worte und die Wahrheit sieht so aus, dass sehr viele von uns nicht frei sind. Sie verfügen nicht über die Freiheit, die ihnen erlauben würde, zu hören, zu sehen und einfach nur zu sein.
Zusammen schweigen
Ich lebe in einem Retreatzentrum im Südwesten Frankreichs und wir haben hier eine Stillepraxis, die wir »edles Schweigen« nennen. Das geht ganz einfach. Wenn wir reden, reden wir, aber bei allem anderen – essen, gehen, arbeiten und so weiter – tun wir nur das. Wir sprechen dabei nicht auch noch. Wir tun die Dinge in fröhlichem edlem Schweigen. So hören wir zu, was unser Herz uns aus der Tiefe zuruft.
Neulich haben wir uns, Ordensleute und Laien, draußen auf dem Rasen zum Mittagessen versammelt. Wir gingen nacheinander zur Essensausgabe, um uns dann draußen im Gras niederzulassen. Es waren viele und unser Kreis bestand schließlich aus mehreren Reihen. Es wurde nicht gesprochen.
Ich nahm als Erster Platz und übte das achtsame Atmen, um es in mir still werden zu lassen. Ich lauschte den Vögeln und dem Wind, ich genoss die Schönheit des Frühlings. Es war aber nicht so, dass ich wartete, bis alle saßen, um dann essen zu können. Es war einfach schön, die gut zwanzig Minuten da zu sitzen, bis alle versorgt waren und sich in den Kreis gesetzt hatten.
Es war still, aber für mein Gefühl nicht so still, wie es hätte sein können. Vielleicht waren diese Schritte – Essen holen, mit dem Teller nach draußen gehen und schließlich Platz nehmen – für manchen doch ein wenig ablenkend gewesen. Ich saß schweigend da und ließ das alles auf mich wirken.
Ich hatte eine kleine Glocke bei mir und als alle saßen, ließ ich sie klingen. Da wir gerade gemeinsam eine Woche lang geübt hatten, achtsam zu atmen und auf die Glocke zu lauschen, kam das Signal sofort bei allen an. Schon nach dem ersten Glockenton der Achtsamkeit fühlte sich die Stille ganz anders an. Jetzt war es echte Stille, weil alle aufgehört hatten zu denken. Wir sammelten uns auf das Einatmen, dann auf das Ausatmen. Wir atmeten gemeinsam und die Stille verdichtete sich zu einem Kraftfeld. Eine solche Stille wird »donnernd« genannt, weil sie vielsagend und kraftvoll ist. In dieser Stille wurden die Laute der Vögel und des Windes so viel lebendiger. Auch vorher hatte ich die Vögel und den Wind schon gehört, aber nicht so wie jetzt in dieser tiefen Stille.
Stille zu üben, um innerlich alles zum Schweigen zu bringen, ist nicht schwierig. Ein bisschen Training, und schon kann man es. Im edlen Schweigen können wir gehen oder sitzen oder das Essen genießen. In solcher Stille sind wir frei, uns am Leben zu freuen, und wir sind ganz offen für die Wunder des Lebens. Wir sind in dieser Stille auch eher in der Lage, uns zu heilen, sei es seelisch oder körperlich. Es fällt uns leichter zu sein, da zu sein, einfach lebendig zu sein. Wir sind dann wirklich frei – frei von allen Kümmernissen und Schmerzen der Vergangenheit, frei von Zukunftsängsten und Sorgen, frei vom endlosen inneren Gerede. Diese Stille ist schon schön, wenn man für sich allein ist, aber gemeinsam in der Stille zu sein, das hat etwas sehr Dynamisches und Heilsames.
Der Klang der Lautlosigkeit
Unter Stille verstehen wir meist, dass keine Geräusche zu hören sind, aber Stille hat auch selbst einen mächtigen Klang. Der Winter 2013/14 war in Frankreich nicht sehr kalt, aber in Nordamerika herrschte bittere Kälte, wie wir erfuhren. Es gab ungewöhnlich viele Schneestürme und die Temperatur sank gelegentlich unter minus 20 Grad. Ich habe ein in der kältesten Phase aufgenommenes Foto der Niagarafälle gesehen – lauter gigantische Eisgebilde, der Fall fiel nicht mehr, er war erstarrt. Das Bild beeindruckte mich sehr. Wenn das Wasser stand, fragte ich mich, hatte dann auch das Rauschen aufgehört?
Vor ungefähr vierzig Jahren hielt ich mich zu einem Retreat für junge Leute in Chiang Mai im Nordosten Thailands auf. Ich wohnte in einer Hütte an einem Bach, dessen Bett mit großen Felsbrocken übersät war. Ständig war das Rauschen des Wassers zu hören und es bot einen besonderen Genuss, hier zu atmen, die Kleider zu waschen und auf den Felsen im Bachbett ein Nickerchen zu halten. Wo ich auch ging oder stand, überall war das Rauschen des Wassers um mich – Tag und Nacht dieses immer gleiche Rauschen. Beim Anblick der Bäume und Sträucher dachte ich: Sie hören dieses Rauschen seit ihrer Geburt – was, wenn es plötzlich aufhörte und sie zum ersten Mal keinen Laut hören würden, Stille? Versuchen Sie einmal, sich das vorzustellen. Plötzlich fließt das Wasser nicht mehr und alle Pflanzen, die von ihrem ersten Augenblick an das ununterbrochene Rauschen gewohnt sind, Tag und Nacht, hören auf einmal nichts mehr. Sie wären doch sicher überrascht, zum ersten Mal in ihrem Leben den Nicht-Klang zu hören, den Klang der Stille.
Die fünf wahren Laute
Ein Mensch von großem Mitgefühl, dessen Lebenswerk darin besteht, die Leiden der Menschen zu lindern, wird im Buddhismus als Bodhisattwa bezeichnet. Einer der großen Bodhisattwas des Buddhismus heißt Avalokiteshvara, der Bodhisattwa des tiefen Lauschens. Eine der möglichen Übersetzungen seines Namens lautet »Der die Laute der Welt wahrnimmt«.
Nach der buddhistischen Überlieferung hört Avalokiteshvara nicht nur Laute und Geräusche aller Art, sondern bringt auch fünf für die Welt heilsame Arten von Lauten hervor. Wer in sich selbst Stille findet, der hört diese Laute.
Der erste dieser Laute ist der »wunderbare Klang«, der Klang der Wunder dieses Lebens, die uns rufen: die Laute der Vögel, das Geräusch des Regens und dergleichen.
Gott ist Klang. Der Schöpfer des Kosmos ist ein Laut. Alles beginnt mit dem Laut.
Der zweite Laut ist »der Klang dessen, der die Welt betrachtet«. Es ist der Klang des Lauschens, der Klang der Stille.
Der dritte Laut ist der »Brahma-Klang«. Gemeint ist der transzendente Laut OM, der im...